Zusammenfassung
Wir leben in einem neurologischen Zeitalter. Hierbei kann man sowohl an die neurologischen Krankheiten wie Depression, ADHS, Borderline, Parkinson, Burnout etc. denken, die die gesamte pathologische Szenerie bestimmen, als auch an die nun seit etwa zwanzig Jahren anhaltende „decade of the brain“, die eine beispiellose Entwicklung der Hirnforschung nach sich zog; und schließlich fallen in diese Zeit auch die mit diesen Forschungen verbundenen technischen und technologischen Entwicklungen.
Der Obertitel ist eine Reminiszenz an den bekannten Gedichtband von Durs Grünbein (1991).
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Notes
- 1.
Einige der hier angesprochenen Entwicklungen ließen sich auch anhand der Perspektiven der science fiction in Literatur, Film etc. oder auch der künstlichen Intelligenz des 19. und 20. Jahrhunderts nachzeichnen; inzwischen, so soll dieser Artikel verdeutlichen, sind uns diese artifiziellen Perspektiven buchstäblich zu Leibe gerückt. – Interessant wäre es, der Frage nachzugehen, ob Technik nicht immer auch einen (unbewussten) futuristischen Kern hat, das heißt die Perspektive einer anderen (sozialen, kulturellen etc.) Zukunft impliziert, und somit immer auch science fiction ist.
- 2.
Das erinnert an die „hüllenlose Sprache der Engel“: „Alles ist zu allem unmittelbar, es gibt keine Larvierung, Täuschung, Verhüllung. Alles ist luzide, ein jedes wird instantiell und unverstellt im anderen präsent. […] Es gibt keine Heterogenität, sondern Homogenität, nicht Differenz, sondern Identität, nicht das prinzipiell Andere, sondern das immer Eine, nicht Fremdes, sondern Vertrautes“ (Böhme 1997, S. 220). Dieser hüllenlose Zustand wäre – mit Hartmut Böhme – als wahrhaft unmenschlich zu bestimmen.
- 3.
Im Bezug auf verschiedene Körperregionen lässt sich Neuro-Enhancement von Body-Enhancement und genetischem Enhancement unterscheiden; zudem gibt es für ersteres diverse Begriffe wie „Brain-“, „Neurocognitive-“, Cognitive-“ oder „Mood-Enhancement“ (vgl. Talbot und Wolf 2006, 254 f.).
- 4.
Im Zusammenhang mit traumatischen Hypermnesien oder Über-Erinnerungen an schreckliche Ereignisse, die oftmals mit einer Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) einhergehen, ist man jetzt auf der Suche nach der „Pille danach“, die die Traumata „ausradieren“ soll (vgl. Siefer 2012).
- 5.
Für Andy Clark sind Menschen per se natural born cyborgs, d. h. sie werden durch die neueren Technologien nicht erst zu solchen Mischwesen. Insofern Menschen Werkzeuge benutzen und damit ihren natürlichen Körper erweitern, gehören sie in diese (anthropologisch-pleonastische) Kategorie: „We must recognize that, in a very deep sense, we are always hybrid beings, joint products of our biological nature and multilayered linguistic, cultural, and technological webs“ (Clark 2003, S. 195). Zu diskutieren bleiben hier folgende Punkte: Ob Technik mit einem kompensatorischen Modell ausreichend beschrieben ist, ob mit den neuen invasiven Technologien nicht eine neue Qualität der Beziehung von Mensch und Technik eingetreten ist und ob die Menschheit sich zwangsläufig in die unaufhaltsame Entwicklung der Technik fügen muss (ebd., S. 198).
- 6.
Diese Perspektive korrespondiert mit den Überlegungen von Thomas Fuchs, der das Gehirn als ein Vermittlungsorgan versteht, das das Verhältnis zu uns selbst, zu anderen und zur Welt thematisiert und der die höheren Gehirnfunktionen mit dem Lebensvollzug in einer gemeinsamen Welt in Verbindung bringt (Fuchs 2008, S. 22, 217 ff.). – Anzuschließen wären hier auch Diskussionen um den Trans- und den Posthumanismus (vgl. Jahrbuch für Pädagogik 2014).
- 7.
Vgl. den Überblick über die personalen Veränderungsmöglichkeiten bei Galert (2009), die von den vorübergehenden oder dauerhaften Veränderungen von psychischen Merkmalen und Charaktereigenschaften bis zur Transformation in eine andere Person, zum Einbüßen des Personenstatus oder zum Sterben eines Menschen reichen.
- 8.
Vgl. zu diesem Aspekt wie auch zu den folgenden den autobiographischen Text von Helmut Dubiel (2006), der als Parkinsonpatient mit einer Sonde im Hirn (Hirnschrittmacher) die mit dieser einhergehenden psychischen, körperlichen, sozialen Veränderungen zum Teil sehr detailliert beschreibt und reflektiert (ebd., S. 86 ff., 104 ff., 125 ff.). Zusammenfassend heißt es: „Ein neurologisch Erkrankter wird […] durch den Schrittmacher zu Frankensteins Monster“ (ebd., S. 139).
- 9.
Das wird auch in dem Moment im wahrsten Sinne des Wortes augenscheinlich, weil es mittlerweile möglich ist, ganze Gesichter zu verpflanzen – womit auch die Redewendung „sein Gesicht verlieren“ nicht mehr nur auf den sozialen und moralischen Achtungsverlust, sondern auch auf medizinische Prozeduren anwendbar ist. Nun besteht die Möglichkeit, wenigstens das Gesicht des geliebten Toten an einem anderen noch in Augenschein nehmen zu können, auch wenn der Ehemalige als Verblichener schon das Zeitliche gesegnet hat.
- 10.
Nagel und Stephan (2009, S. 30) vermerken zudem die erste Implantation eines Elektrodenfeldes in den Unterarm im Jahre 1988; der zweite Schritt ist dann der wechselseitige Transfer von Nervensystem und Computer 2002 und der dritte wäre dann die „interpersonale“ Kommunikation über Implantate.
- 11.
Auch hierbei lässt sich natürlich an Manipulationsmöglichkeiten denken.
- 12.
Stier (2009, S. 290 ff.) verweist auf vier Probleme eines neuen Verantwortungszusammenhangs der Neurotechnologien: auf das Zurechnungsproblem (Wer ist konkret verantwortlich?), das Indolenzproblem (Was passiert bei Nichterreichbarkeit bzw. bei Nichtveränderlichkeit der Person?), das Teilnehmerproblem (Wer ist vollgültiger Adressat?) und das Deindividualisierungsproblem (Wer ist mitverantwortlich?).
- 13.
Gelegentlich beschleicht einen z. Zt. das Gefühl, dass das, was sich nicht errechnen lässt, nicht existiert.
- 14.
Schaper-Rinkel (2009, S. 310) macht am Beispiel von ADHS in den USA deutlich, dass die Anerkennung dieses Phänomens als Behinderung den Interessen aller Beteiligten entgegenkommt: Die Eltern werden von ihrer Verantwortung entlastet, die Lehrer können ruhig gestellte Kinder erwarten und nicht zuletzt verdienen Ärzte und Pharmaindustrie sehr gut an dieser „Behinderung“. – Doch profitieren auch die Kinder von dieser „Anerkennung“?
- 15.
Das bei Patienten eingeführte Hirngewebe entstammt auch fötalem Hirngewebe von Schwangerschaftsabbrüchen, die zwischen dem dritten und fünften Monat erfolgen; man kann dann beobachten, dass das fötale Hirngewebe im Hirn des Empfängers Stoffwechsel- und Wachstumsprozesse fortsetzt (Linke 1993, S. 29, 31).
- 16.
- 17.
Vgl. dazu auch die bei Clark (2003, S. 167–195) genannten Momente: inequality, intrusion, uncontrollability, overload, alienation, narrowing, deceit, degradition, disembodiment.
Literatur
Baruzzi, A. (1973). Mensch und Maschine. Das Denken sub specie machinae. München: Wilhelm Fink.
Baudrillard, J. (1994). Überleben und Unsterblichkeit. In: D. Kamper, & Ch. Wulf (Hrsg.), Anthropologie nach dem Tode des Menschen. Vervollkommnung und Unverbesserlichkeit (S. 335–354). Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Benecke, M. (2002). Der Traum vom ewigen Leben. Die Biologie beantwortet das Rätsel des Alterns. Leipzig: Reclam.
Benthien, C., & Wulf, Ch. (Hrsg.) (2001). Körperteile. Eine kulturelle Anatomie. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Blumenberg, H. (1953). Technik und Wahrheit. In: Actes du XI. Congrès International de Philosophie. Bruxelles 20.-26. Vol. II: Épistémologie (S. 113–120). Amsterdam/Louvain: North-Holland Publication Company.
Blumenberg, H. (1981). Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie. In: Ders., Wirklichkeiten, in denen wir leben (S. 7–54). Stuttgart: Reclam.
Blumenberg, H. (2009). Geistesgeschichte der Technik. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Böhme, H. (1997). Enthüllen und Verhüllen des Körpers in Bibel, Mythos und Kunst. In: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, 6 (1), 218–246.
Böhme, G. (2008). Invasive Technisierung. Technikphilosophie und Technikkritik. Kusterdingen: Die graue Edition.
Bohlken, E. (2009). Von der natürlichen zur künstlichen Künstlichkeit? In: O. Müller, J. Clausen, & G. Maio (Hrsg.), Das technisierte Gehirn. Neurotechnologien als Herausforderung für Ethik und Anthropologie (S. 421–437). Paderborn: Mentis.
Clark, A. (2003). Natural-Born Cyborgs. Minds, Technologies, and the Future of Human Intelligence. Oxford/New York: Oxford University Press.
Christen, M. (2005). Der Einbau von Technik in das Gehirn. In: B. Orland (Hrsg.), Artifizielle Körper – Lebendige Technik. Technische Modellierung des Körpers in historischer Perspektive (S. 197–218). Zürich: Chronos.
Dubiel, H. (2006). Tief im Hirn. München: Antje Kunstmann.
Fuchs, Th. (2008). Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption. Stuttgart: Kohlhammer.
Galert, Th. (2009). Wie mag Neuro-Enhancement Personen verändern? In: B. Schöffe-Seifert, D. Talbot, U. Opolka, & J. S. Ach (Hrsg.), Neuro-Enhancement. Ethik vor neuen Herausforderungen (S. 159–187). Paderborn: transcript.
Galert, Th. et al. (2009). Das optimierte Gehirn. In: Gehirn & Geist, 11, 40–48.
Gehlen, A. (1986). Die Technik in der Sichtweise der Anthropologie; Der Mensch und die Technik. In: Ders., Anthropologische und sozialpsychologische Untersuchungen (S. 93–103, 147–162). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Grünbein, D. (1991). Schädelbasislektionen. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Heilinger, J.-Ch. (2009). Die anthropologische Dimension der Technisierung des Menschen. In: O. Müller, J. Clausen, & G. Maio (Hrsg.), Das technisierte Gehirn. Neurotechnologien als Herausforderung für Ethik und Anthropologie (S. 401–420). Paderborn: Mentis.
Heidegger, M. (1962). Die Technik und die Kehre. Pfullingen: Günther Neske.
Jahrbuch für Pädagogik (2014). Menschenverbesserung – Transhumanismus. Frankfurt/M.: Peter Lang.
Karafyllis, N.C. (Hrsg.) (2004). Biofakte. Versuche über den Menschen zwischen Artefakt und Lebewesen. Paderborn: Mentis.
Köpping, K.-P., Papenburg, B., & Wulf, Ch. (Hrsg.) (2005). Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, 14 (2).
Lassahn, R. (1983). Pädagogische Anthropologie. Heidelberg: Quelle & Meyer.
Lem, S. (1981). Summa technologiae. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Linke, D.B. (1993) Hirnverpflanzung. Die erste Unsterblichkeit auf Erden. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Maguire, G.Q., & McGee, E.M. (1999). Implantable Brain Chips? Time for Debate. In: The Hastings Center Report, 29, 7–13.
Meckel, M. (2012). Mensch wird Maschine. In: Die Zeit, 67, 28.06.2012, 13.
Merkel, R., Boer, G., Fegert, J., Galert, Th., Hartmann, D., Nuttin, B., Rosahl, S. (2007). Intervening in the brain. Changing psyche and society. Berlin/Heidelberg: Springer.
Meyer-Drawe, K. (2007). Menschen im Spiegel ihrer Maschinen. 2. Aufl. München: Wilhelm Fink.
Müller, O. (2010). Zwischen Mensch und Maschine. Vom Glück und Unglück des Homo faber. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Nagel, S.K., & Stephan, A. (2009). Was bedeutet Neuro-Enhancement? In: B. Schöffe-Seifert, D. Talbot, U. Opolka, & J.S. Ach (Hrsg.), Neuro-Enhancement. Ethik vor neuen Herausforderungen (S. 19–47). Paderborn: transcript.
Orland, B. (2005). Wo hören Körper auf und fängt Technik an? Historische Anmerkungen zu posthumanistischen Problemen. In: Dies. (Hrsg.), Artifizielle Körper – Lebendige Technik. Technische Modellierung des Körpers in historischer Perspektive (S. 9–42). Zürich: Chronos.
Salaschek, U. (2012). Der Mensch als neuronale Maschine? Hirnbilder, Menschenbilder, Bildungsperspektiven. Bielefeld: transcript.
Schaper-Rinkel, P. (2009). Neuro-Enhancement Politiken. In: B. Schöffe-Seifert, D. Talbot, U. Opolka, & J.S. Ach (Hrsg.), Neuro-Enhancement. Ethik vor neuen Herausforderungen (S. 295–319). Paderborn: transcript.
Shewmon, D.A. (2009). Brain Death: Can it Be Resuscitated? In: Hastings Center Report 39 (2), 18–24.
Siefer, W. (2012). Erinnerung, lass nach. In: Die Zeit, 67, 25.10.2012, S. 39–40.
Siep, L. (2006). Die biotechnische Neuerfindung des Menschen. In: J.S. Ach, & A. Pollmann (Hrsg.), No body is perfect. Baumaßnahmen am menschlichen Körper – bioethische und ästhetische Aufrisse (S. 21–42). Bielefeld: transcript.
Stier, M. (2009). Das Handeln in den Zeiten der Neurotechnologie. In: O. Müller, J. Clausen, & G. Maio (Hrsg.), Das technisierte Gehirn. Neurotechnologien als Herausforderung für Ethik und Anthropologie (S. 273–297). Paderborn: Mentis.
Synofzik, M. (2009). Technische Optimierung des Gehirns: Was wäre dagegen einzuwenden? In: O. Müller, J. Clausen, & G. Maio (Hrsg.), Das technisierte Gehirn. Neurotechnologien als Herausforderung für Ethik und Anthropologie (S. 313–338). Paderborn: Mentis.
Talbot, D., & Wolf, J. (2006). Dem Gehirn auf die Sprünge helfen. In: J.S. Ach, & A. Pollmann (Hrsg.), No body is perfect. Baumaßnahmen am menschlichen Körper – bioethische und ästhetische Aufrisse (S. 253–278). Bielefeld: transcript.
Zirfas, J., & Jörissen, B. (2007). Phänomenologien der Identität. Human-, sozial- und kulturwissenschaftliche Analysen. Wiesbaden: VS Verlag.
Zoglauer, Th. (2009). Die Technisierung des Gehirns. In: O. Müller, J. Clausen, & G. Maio (Hrsg.), Das technisierte Gehirn. Neurotechnologien als Herausforderung für Ethik und Anthropologie (S. 463–477). Paderborn: Mentis.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Editor information
Editors and Affiliations
Rights and permissions
Copyright information
© 2020 Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature
About this chapter
Cite this chapter
Zirfas, J. (2020). Pädagogische Schädelbasislektionen. In: Bilstein, J., Winzen, M., Zirfas, J. (eds) Pädagogische Anthropologie der Technik. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-11683-5_13
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-11683-5_13
Published:
Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-658-11682-8
Online ISBN: 978-3-658-11683-5
eBook Packages: Education and Social Work (German Language)