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Individualisierung und Unbehagen: Die Ambivalenz der Freiheit

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Das gesellschaftliche Unbehagen in der EU
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Zusammenfassung

Die kulturelle Interpretation der Individualisierungsthese hat in den letzten Jahrzehnten einen deutlichen Wandel erfahren. Während die Freisetzung aus den traditionellen Formen der Vergemeinschaftung und die Entfaltung einer selbstbestimmten Lebensführung zunächst von den BürgerInnen vehement eingefordert wurden, sind wir heute mit weitreichenden Folgen dieser neuen Freiheiten konfrontiert, die eine Neubewertung der Individualisierungsthese erforderlich machen. Es zeigt sich schließlich, dass traditionelle Quellen einer stabilen Identitätsbildung durch die Pluralisierung der Lebensstile (Rückgang des Klassenbewusstseins), zunehmende transnationale Verdichtungen (Rückgang des Zugehörigkeitsgefühls) und pessimistische Wirtschaftsprognosen (Rückgang des Fortschrittsglaubens) immer mehr aufgelöst werden.

Insofern wohnt dem Begriff der Individualisierung […] von Anfang an eine prekäre Ambivalenz inne, weil damit zugleich das äußere Faktum einer Zunahme an individuellen Eigenschaften wie auch das „innere“ Faktum gestiegener Eigenleistungen des Subjekts gemeint ist.

(Honneth 2010, S. 203)

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Notes

  1. 1.

    Da die einzelnen Theorieperspektiven bereits in Kap. 3 ausführlich behandelt wurden, werden in diesem Abschnitt nur die Grundaussagen wesentlicher Theoretiker wiedergegeben.

  2. 2.

    Mit dieser Konzeption des Individualismus liefert Simmel tatsächlich die Basis für zahlreiche spätere soziologische Arbeiten. Seine Unterscheidung wird insbesondere von Riesman (1958) mit seiner Studie zum innen- und außengeleiteten Individuum aufgegriffen. Der zweite Weg der Anpassung an gesellschaftliche Anforderungen und dem damit verbundenen Wegfall von einer konstanten Lebensführung hin zur Bastelbiografie (Beck und Beck-Gernsheim 1993) und von Beständigkeit zu Flüchtigkeit (Bauman 2003) wird in zahlreichen aktuellen Arbeiten behandelt.

  3. 3.

    Gerade die Beschreibung der Spannungen und Ambivalenzen der modernen Lebensführung rückt Simmel zu Recht in die Nähe aktueller postmoderner Arbeiten.

  4. 4.

    Durch die Emanzipation treffen bei Paaren zwei hochindividualisierte Biografien aufeinander, die einen ständigen Aushandlungsprozess gegenseitiger Erwartungshaltungen erfordern.

  5. 5.

    Dies ist auch eines der Hauptargumente der Deutung der Postmoderne nach Bauman (1999).

  6. 6.

    Dies zeigte sich beispielsweise im Zuge der sich verschärfenden Eurokrise am Einsatz der Expertenregierungen Papademos und Monti in Griechenland und Italien.

  7. 7.

    Man könnte die arabische Revolution im Umkehrschluss der Theorie von Habermas (1981a, b) auch dahin gehend interpretieren, dass schlussendlich private Bewegungen die öffentliche Sphäre unterworfen und einen Umsturz erzwungen haben. Ob derartige Umsturzbewegungen nachhaltig sind und ab welchem Zeitpunkt die öffentliche Sphäre die Kontrolle wieder übernimmt, sei dahingestellt.

  8. 8.

    Ein eindrucksvolles Beispiel liefert die gewaltige Solidarisierung der französischen Gesellschaft mit dem Leitspruch „Je suis Charlie“ nach dem Pariser Attentat am 11. Jänner 2015.

  9. 9.

    Es ist deshalb auch nicht weiter überraschend, dass sich Hartmut Rosa (2013) in seiner Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Beschleunigung und kulturellen Entfremdung stark auf Gergen (1996) bezieht.

  10. 10.

    Studien zum islamistischen Fundamentalismus belegen ebenfalls, dass die am meisten gespaltenen und entwurzelten Teile der muslimischen MigrantInnen am ehesten anfällig für eine radikale Ausrichtung sind (vgl. Roy 2003). Auch das Gefängnis gilt als Ort, wo Bekehrungen stattfinden. Die Karrieren der TerroristInnen, die in Europa Anschläge verübt haben, zeigen, dass diese in der Regel erst im Westen zu einer fundamentalistischen Ausrichtung des Islams tendiert haben. Die individuelle Destabilisierung der Identität scheint deshalb eine gewichtige Ursache des fundamentalistischen Engagements darzustellen (Kaufmann 2005, S. 237).

  11. 11.

    Die Festsetzungen dieser Begriffe wurden bereits in Abschn. 2.5.2 vorgenommen.

  12. 12.

    Der sechste Begriff der Abgrenzung leitet bereits auf die kulturelle Dynamik der Entsolidarisierung hin. In einem eigenen Abschnitt (vgl. 6.4) soll schließlich über jene Handlungskalküle der Individuen reflektiert werden, die einen Wandel der Mikro-, Meso- und Makrosolidarität einleiten könnten.

  13. 13.

    Nicht zuletzt deshalb sprachen Bourdieu und Passeron (1971) bereits von einer Illusion der Chancengleichheit.

  14. 14.

    Ähnliche Geschlechterarrangements finden sich auch bei männlichen Führungskräften, wo die Frau trotz Berufstätigkeit für den Haushalt, die Pflege sozialer Netzwerke und für die Erziehungsarbeit zuständig bleibt.

  15. 15.

    Die Anerkennungstheorie von Axel Honneth (1992, 2003) wurde bereits ausführlich in Abschn. 3.3.1 erläutert.

  16. 16.

    Berufsgruppen wurden bereits von Durkheim als wesentliche intermediäre Instanzen gesehen, um die anomische Kraft der Ökonomie durch institutionelle Regelungen abzufedern und im Zeitalter des Kapitalismus und der Arbeitsteilung Solidarität in der Gesellschaft herzustellen.

  17. 17.

    Der Modus der Würdigung erstreckte sich auch auf die – primär weibliche – Haus- und Familienarbeit, die ebenfalls als Form der Pflichterfüllung Wertschätzung erfuhr.

  18. 18.

    Wenn muslimische Frauen sich an der westlichen Gesellschaft orientieren und nach Leistung und Unabhängigkeit streben, wird ihnen in traditionellen Familienkontexten Anerkennung verwehrt werden, und die Orientierung an westlichen Freiheitsnormen wird von starken Identitätskonflikten begleitet sein. Genauso ist umgekehrt denkbar, dass sich eine muslimische Frau mit der hierarchischen Rollenverteilung so stark identifiziert, dass Aufrufe nach Selbstbestimmung ungehört verhallen und gerade in der klaren Zuteilung der Geschlechterrollen eine stabile Identitätsbildung ermöglicht wird.

  19. 19.

    Teilweise lassen sich derartige Prozesse durchaus innerhalb Europas ausmachen. So ist die Gesellschaftskrise in Griechenland bereits derart massiv, dass die Stabilität des politischen Systems trügerisch erscheint, und im Falle der Ukraine führte die manifeste Zivilisationskrise (vgl. Kaelble 2014, S. 34) das Land bereits direkt in einen Bürgerkrieg.

  20. 20.

    Vertrauensdefizite sind nicht nur bei den BürgerInnen sondern auch bei den PolitikerInnen auszumachen. Deshalb bedient sich die Politik auch verstärkt fragwürdiger Praktiken und ersetzt Vertrauen zunehmend durch Kontrolle. Es handelt sich dabei jedoch um eine Demokratieaushöhlung, wenn beispielsweise mit dem Ausbau von Überwachungsmaßnahmen Freiheitsrechte beschnitten werden. Der Staat mag zwar durch derartige Maßnahmen der Terrorismusbekämpfung Handlungsfähigkeit demonstrieren, jedoch wirken derartige vertrauensbildende Maßnahmen kontraproduktiv für die gesellschaftliche Kohäsion. Sie erhöhen zwar die Sichtbarkeit der Exekutive, stärken aber gleichzeitig das soziale Misstrauen, indem gezielt „bedrohliche Außengruppen“ konstruiert werden (vgl. Klein und Heitmeyer 2011, S. 365).

  21. 21.

    Ähnlich wie beim Begriff der Abstiegsängste und der Anerkennungsdefizite ist anzunehmen, dass sich mittlere und höhere Schichten zwar durchaus von der Politik abwenden, aber weiterhin von der Wirkkraft des individuellen oder kollektiven gesellschaftlichen Engagements überzeugt sind.

  22. 22.

    In der Regel können beispielsweise keine klaren Effekte nach Geschlecht und Alter gefunden werden. So geben beispielsweise Hooghe et al. (2009) an, dass Frauen und jüngere Menschen ein höheres soziales Vertrauen aufweisen. Im Gegensatz dazu berichtet Newton (1999), dass Männer den Mitmenschen eher Vertrauen entgegenbringen und einzelne Studienergebnisse weisen auch darauf hin, dass ältere Menschen ihren MitbürgerInnen stärker vertrauen (vgl. Stolle 1998).

  23. 23.

    Das Zitat von Stolle (1998) drückt diesen Zusammenhang sehr präzise aus: „The richer the individual and the higher the professional status, the less costly it is if he or she might be wrong“ (Stolle 1998, S. 512).

  24. 24.

    Eigene Einfügung des Verfassers aufgrund der schwer verständlichen deutschen Übersetzung im Buch.

  25. 25.

    Die amerikanischen Ökonomen Frank und Cook (1995) sprechen von der Winner-Takes-All-Society, der Untertitel „Why the few at the top get so much more than the rest of us“ verweist auf die zunehmenden Abgrenzungen zwischen den Schichten.

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Aschauer, W. (2017). Individualisierung und Unbehagen: Die Ambivalenz der Freiheit. In: Das gesellschaftliche Unbehagen in der EU. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-10882-3_6

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-10882-3_6

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  • Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden

  • Print ISBN: 978-3-658-10881-6

  • Online ISBN: 978-3-658-10882-3

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