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Das bürgerliche System des Medialen und seine postmoderne Auflösung (1993)

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Identifikation, Begehren, Gewalt
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Zusammenfassung

Wir können die Welt als ein Spiel beschreiben, das seine Einheit darin hatte, dass es den Hunger, die Arbeit, die physische Gewalt und den Tod, den Genuss, die Sexualität und die Fortpflanzung, das bebaubare Land, die Häuser und Schlösser, den gesamten Kreislauf mit der Natur also, als Einsatz verwendet hatte. Die Trennung der Geschlechter ebenso wie die der Stände war durch die Spielregeln bestimmt: Die Männer waren die Tauschenden, die Frauen die Objekte des Tauschs; den Adligen waren die großen Spiele vorbehalten, deren Einsätze die Plätze und die Ehre waren, und sie hatten ihren eigenen Initiationsweg. Den Prozess der Modernisierung verstehen wir als Zerstörung dieses Spiels durch die Einführung der systemischen Mechanismen der Vergesellschaftung, Geld und Macht.

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Notes

  1. 1.

    In diesem Text wird die These angeführt, dass die Phänomene, die unter dem diffusen Etikett „Postmoderne“ beschrieben werden, nur im Feld einer Theorie des Medialen verstanden werden können; der Begriff wird also im Folgenden inhaltlich bestimmt. Ich behalte das Wort „Postmoderne“ bei (obwohl ein Ausdruck wie „abgeschlossene Moderne“ treffender wäre), weil er sich nun einmal durchgesetzt hat und weil in ihm die Tatsache erfasst ist, dass der Abschluss der Moderne einen tiefgehenden Bruch bedeutet. (Oft bezeichnet „Postmoderne“ auch nicht mehr als eine Mode, zum Beispiel die der Theoriefeindlichkeit und Beliebigkeit des Denkens; das ist hier nicht gemeint.)

    Das Wort „bürgerlich“ benutze ich als Epochenbezeichnung, nämlich für die Periode, die im 18. Jahrhundert beginnt und von der heute klar wird, dass wir sie schon eine Weile verlassen haben.

  2. 2.

    „Gute Gesellschaft“ hat eine Doppelbedeutung. Der Ausdruck bezeichnet, was ich hier meine, den Verband der durch das Vermögen festgelegten Familiennamen; aber auch die bürgerlichen Salons, die die Tradition des aristokratischen 18. Jahrhunderts fortsetzen. Hier ist der Familienname nur Zulassungsbedingung; um den Namen, der zählt, wird in einer erbitterten und untergründigen Weise ununterbrochen gekämpft. Im Folgenden verwende ich den Ausdruck „gute Gesellschaft“ für den Familienverband, sonst spreche ich von Salons.

  3. 3.

    Bourdieu beschreibt die verborgene Vererbung der Positionen noch in der zeitgenössischen Gesellschaft. Vgl. Passeron und Bourdieu (1964): Les héritiers, les étudiants et la culture.

  4. 4.

    Zu dem „objektiven Gedächtnis“ vgl. Luhmann (1988): Soziale Systeme, 102.

  5. 5.

    Wir haben es hier mit den medialen Institutionen des Bürgertums zu tun, die ein Regelsystem und ein Wissen von sich selbst ausgearbeitet haben. In diesem Zusammenhang ist die rationale Gestalt des Bürgers die wesentliche, also diejenige, die der Darstellung von Max Weber entspricht. Wo der realistische Roman, Balzac, Flaubert oder Zola, das Wirtschaftsleben unter medialen Kategorien darstellt, ergibt sich ein ganz anderes Bild. Mediale Spiele entstehen überall, wo Menschen miteinander zu tun haben, sozusagen naturwüchsig. Die Auflösung der alten Institutionen mit ihrer starken normierenden Macht hat diese generative Potenz freigesetzt, und die Bedingungen der Konkurrenz wählen aus dem so entstandenen Repertoire die in ihr erfolgreichen aus. So entsteht eine chaotische Medialität, die die Schriftsteller mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination beschreiben und in der meistens die schlechteren Spiele über die besseren siegen.

  6. 6.

    Über die Unfähigkeit der Nazis, sich zu erinnern und Schuld anzuerkennen, ist viel geschrieben worden. Man kann das aber nicht als ein psychologisches Problem behandeln. Die faschistische Welt ist auch ein Gedächtnis; der Nazi hat nicht seine Taten vergessen, sondern den Ort verlassen, wo sie gespeichert waren. Es bleibt ihm höchstens das Gefühl, dass „alles ganz anders war“, ein Gefühl, das ihm alle Vorwürfe als „daneben“ erscheinen lässt.

  7. 7.

    Diese Enteignung ist die Rückseite der (bekannteren) Befreiung des bürgerlichen Eigentums aus den feudalen Fesseln. Der Prozess dieser Enteignung – und der Widerstand gegen ihn – hat schon im Hochmittelalter eingesetzt und begleitet die ganze europäische Geschichte.

  8. 8.

    Wie man sieht, stellt diese Darstellung das vertraute Phänomen der Autonomie der bürgerlichen Kunst in einen neuen Zusammenhang.

  9. 9.

    Das ist ein oft beschriebener, im Einzelnen komplexer Prozess, der sich über die erste Hälfte unseres Jahrhunderts hinzieht. Eine auf Frankreich bezogene Darstellung findet man bei Haupt (1989): Sozialgeschichte Frankreichs seit 1789, 232–244.

  10. 10.

    In den Kommunen, in der Hippiebewegung, in den Psychogruppen war die Revolte gegen einen bestimmten Namen die Revolte gegen die Namen überhaupt, der Versuch, eine Rousseau’sche Welt einzuführen, wo es nur Gefühle und Unmittelbarkeit gibt, wo kein Medium sich zwischen die Menschen schiebt. Auch die typischen politischen Gruppen dieser Zeit hatten den Aufbau, den wir aus Rousseaus Republik kennen und dem wir in Sartres groupe en fusion wiederbegegnen: Sie verlangen, als die einzige namengebende Instanz anerkannt zu werden, setzen gegen den einen falschen den einen wahren Namen. Vgl. hierzu Waltz (1993): Ordnung der Namen, 317 ff., „Die Gruppe als Urszene“.

  11. 11.

    Vgl. den Hinweis bei Russell A. Berman, dass in der Postmoderne „Reichtum und Armut zu gleichwertigen kulturellen Optionen erklärt werden“. Ders. (1987): Konsumgesellschaft, 69.

  12. 12.

    Wenn in der marxistischen Tradition gegen die bürgerliche Vorstellung der Selbstbenennung immer betont wird, dass die Ökonomie den Menschen in seinem Kern festlegt, das heißt benennt, dann ist das im Prinzip richtig – aber eben nur innerhalb des bürgerlichen Systems. Der einzige marxistische Denker, der diese Grenze überschritten, die Ökonomie als rein systemischen Mechanismus beschrieben und die strukturelle Autonomie des Medialen (in seiner Sprache: der Ideologie) erkannt hat, ist Althusser – eine Erkenntnis, die sich der Auseinandersetzung mit Lacan verdankt.

  13. 13.

    Darin hat es sich als erfinderisch erwiesen; ein oberflächlicher Blick auf die Entwicklung der letzten Jahre zeigt, in welchem Ausmaß Spiele, Motive, Persönlichkeitstypen, die früher – weil sie dem der bürgerlichen Ökonomie immanenten Moralismus widersprechen – als „unmöglich“ gegolten hatten, heute in das ökonomische System integriert sind und in ihrem produktiven Potenzial ausgenützt werden. Ein bekanntes Beispiel ist die Entwicklung des Personal Computer und die Geschichte der Firma Apple.

  14. 14.

    Man hat die Kontrolle der Berichterstattung oft darauf zurückgeführt, dass „der Vietnamkrieg im Fernsehen verloren wurde“, was der obigen Analyse widerspricht. Sicher ist beides richtig. Für die ganze Postmoderne-Diskussion ist typisch, dass die statistische Relevanz der hervorgehobenen Phänomene überzogen wird, was im Übrigen ihre Bedeutung nicht unbedingt herabsetzt.

  15. 15.

    Auf diesen Widerspruch weist Peter Bürger hin. Vgl. Bürger (1987): Der Alltag, die Allegorie und die Avantgarde, 211.

  16. 16.

    Das ist eine verkürzte Darstellung. Schon in Zolas Buch über den Ersten Weltkrieg und in allen späteren Antikriegsromanen wird beschrieben, dass die Soldaten nicht in den patriotischen Namen sterben, die die offizielle Rhetorik zelebriert. Aber der Autor und der Leser können die Toten benennen: als sinnlose Opfer. Sie wissen, dass kein Name das Opfer eines Lebens verlangen kann; und zugleich kennen sie den Kampf, der ein solches Opfer doch rechtfertigen würde, den für eine Welt, die es nicht mehr verlangt. Es ist der Verlust des Orts dieses Wissens, der heute die Interpretationen in Fiktionen verwandelt.

  17. 17.

    Unsere neurotischen Autoren konnten in der Ablehnung der Namen leben, weil sie mit ihr das verwirklichten, was in dem System der schlechten Namen, auf das sie sich stützten, als Anspruch angelegt war. In der Postmoderne gibt es nichts, worauf man sich stützen kann.

  18. 18.

    Anm. der Hrsg.: Die Rolle der Clique in der Gegenwart hat Waltz in späteren Texten ausgeführt. Vgl. hierzu vor allem Abschn. Über die Kultur des School-shooting als symptomatisches Phänomen aktueller Schülerkultur und Zwei Topografien des Begehrens: Pop/Techno mit Lacan.

  19. 19.

    Vgl. Ziehe (1984): Pubertät und Narzissmus; Lasch (1988 [1979]). Das Zeitalter des Narzissmus.

  20. 20.

    Sennett (1983 [1974]): Verfall und Ende des öffentlichen Lebens.

  21. 21.

    Die Diskussionen, die die genannten Schriften ausgelöst haben, zeigen, dass sie selbst Moment einer solchen Kritik sind. Die der Vergangenheit entnommenen Ideale verwandeln sich von selbst, wenn sie auf die Gegenwart bezogen werden.

  22. 22.

    Diese Kunst setzt in Szene, was in der Organisation der Ökonomie schon nicht mehr unmittelbar ablesbar ist.

  23. 23.

    „Das beste ist, wenn man an nichts denkt […]. Sehen Sie, nichts ist aufregend, nichts ist sexy, nichts ist nicht peinlich. Das einzige, was ich jemals sein möchte, ist außerhalb einer Party, so daß ich hineingehen kann.“ McShine (1989): Andy Warhol Retrospektive, 456. Auf dieses Buch beziehen sich die folgenden Seitenangaben im Text. Im Buch findet man auch die genauen Quellenangaben.

  24. 24.

    Ebd., 453.

  25. 25.

    Ebd.

  26. 26.

    Ebd., 453, 450. Wenn man den Modernisierungsprozess in medialen Kategorien fasst, müsste man auch die gängigen Anschauungen über die Entwicklung der Kunst entsprechend umarbeiten. Das ist hier nicht geschehen; ich habe die Literatur nur verwendet, soweit sie Zugang zu der medialen Organisation der Wirklichkeit gibt. Daher bleiben die Aussagen über die Kunst selbst notwendig auf der Ebene von Andeutungen.

  27. 27.

    Dass in der bürgerlichen Welt das Vater-Sohn-Verhältnis zum Zentrum des medialen Systems geworden ist, sieht man unter anderem auch an der umfangreichen Diskussion über die „vaterlose Gesellschaft“. Zur Diskussion in Frankreich vgl. Stork. Hrsg. (1974): Fragen nach dem Vater. In der neueren Forschung siehe auch Gruber und Ziemann (2009): Die Unsicherheit der Väter.

  28. 28.

    Anm. der Hrsg.: Waltz hat diesen Gedanken in den vergangenen Jahren in seinen Überlegungen zur Organisation in der Gegenwart weiterentwickelt. Vgl. hierzu Abschn. Diffuses Nichtwissen in die Form artikulierter Fragen bringen … Interview mit Matthias Waltz.

  29. 29.

    Das fundamentale Problem, dass eine Erscheinung wie die Postmoderne theorieabhängig ist, das heißt je nach dem von dem Betrachter gewählten Anfang erscheint, verschwindet oder verschiedene Gesichter zeigt, ist meines Wissens noch nie diskutiert worden, auch nicht von Luhmann, der doch solche Überlegungen in die Gesellschaftswissenschaften eingeführt hat.

  30. 30.

    Die Abfolge dieser drei Etappen formuliert Lacan folgendermaßen: 1) Es gibt einen Gott. 2) Gott ist tot. Diese Formel bewahrt die Anwesenheit des negierten Gottes. 3) Lacans eigene Formel: Gott ist unbewusst. (Er existiert als Effekt des symbolischen Gesetzes, aber nichts in der Wirklichkeit stützt ihn.) Vgl. Lacan (1973): Le séminaire livre XI [1964], 58.

  31. 31.

    So das Buch von Jameson (1991): Postmodernism or the Cultural Logic of Late Capitalism.

  32. 32.

    Ich habe hier immer gegen den Begriff der „Lebenswelt“ „Welten“ im Plural genommen und als signifikante Organisationen behandelt. Damit stellt sich natürlich das Problem, dass man auf einen übergreifenden Weltbegriff offensichtlich nicht verzichten kann, aber es stellt sich in einer neuen Weise.

  33. 33.

    Diesen Begriff verwendet Lyotard, um das Verhältnis von Sprachfiguren zu beschreiben, zwischen denen es keine gemeinsame Wahrheit gibt.

  34. 34.

    Foucaults Geschichtsschreibung, die ein solches Programm als erste ausgeführt und theoretisch begründet hat, ist der Vergangenheit, der durch die Dispositive der Disziplin und des Geständnisses charakterisierten Moderne, zugewendet. Die Aktualität erscheint nur als Ort, von dem aus Foucault spricht und den er sich so energisch zu bestimmen weigert.

Literatur

  • Berman, Russell A. 1987. Konsumgesellschaft. Das Erbe der Avantgarde und die falsche Aufhebung der ästhetischen Autonomie. In Postmoderne. Alltag, Allegorie und Avantgarde, Hrsg. Christa Bürger und Peter Bürger, 56–71. Frankfurt a. M.

    Google Scholar 

  • Bürger, Peter. 1987. Der Alltag, die Allegorie und die Avantgarde. Bemerkungen mit Rücksicht auf Joseph Beuys. In Postmoderne. Alltag, Allegorie und Avantgarde, Hrsg. Peter Bürger und Christa Bürger, 196–212. Frankfurt a. M.

    Google Scholar 

  • Gruber, Malte-Christian, und Sascha Ziemann. 2009. Die Unsicherheit der Väter. Zur Herausbildung paternaler Bindungen. Berlin.

    Google Scholar 

  • Haupt, Gerhard. 1989. Sozialgeschichte Frankreichs seit 1789. Frankfurt a. M.

    Google Scholar 

  • Jameson, Fredric. 1991. Postmodernism or the Cultural Logic of Late Capitalism. Durham.

    Google Scholar 

  • Lacan, Jacques. 1973. Le séminaire livre XI: Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse [1964], Hrsg. Jacques-Alain Miller. Paris.

    Google Scholar 

  • Lasch, Christopher. 1988. Das Zeitalter des Narzissmus. München (Erstveröffentlichung 1979).

    Google Scholar 

  • Luhmann, Niklas. 1988. Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M.

    Google Scholar 

  • McShine, Kynaston. Hrsg. 1989. Andy Warhol Retrospektive. München.

    Google Scholar 

  • Passeron, Jean-Claude, und Pierre Bourdieu. 1964. Les héritiers, les étudiants et la culture. Paris.

    Google Scholar 

  • Sennett, Richard. 1983. Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Frankfurt a. M. (Erstveröffentlichung 1974).

    Google Scholar 

  • Stork, Jochen. Hrsg. 1974. Fragen nach dem Vater. Französische Beiträge zu einer psychoanalytischen Anthropologie. Freiburg.

    Google Scholar 

  • Waltz, Matthias. 1993. Ordnung der Namen. Die Entstehung der Moderne: Rousseau, Proust, Sartre. Frankfurt a. M.

    Google Scholar 

  • Ziehe, Thomas. 1984. Pubertät und Narzissmus. Reinbek bei Hamburg.

    Google Scholar 

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Waltz, M. (2020). Das bürgerliche System des Medialen und seine postmoderne Auflösung (1993). In: Rytz, J. (eds) Identifikation, Begehren, Gewalt. Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-10414-6_7

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