3.1 Die Rolle kleinteiliger räumlicher Beziehungen

Wenn bei der Beschreibung von räumlichen Beziehungen in Städten mit den kleinteiligen Formen des alltäglichen Gebrauchs begonnen wird, ist dies nicht zufällig. Diese Formen bestimmen nicht nur die räumlichen Verhältnisse wesentlich, in denen Menschen aufwachsen, sondern sie sind auch für unsere Tradition und Geschichte und die unmittelbaren sozialen Erfahrungen und Kontakte im ganzen Leben entscheidend.

Schon in den Jahren zwischen 1970 und 1980 haben Autoren aus der Umweltpsychologie wie Lenelis Kruse in DeutschlandFootnote 1 oder Harold Proshansky, William Ittelson und Leanne Riflin in den USAFootnote 2 den engen Zusammenhang von räumlicher Anordnung und sozialen Beziehungen bzw. Lernprozessen deutlich gemacht. Sie stehen in einer Tradition älterer Arbeiten aus PsychologieFootnote 3, PhilosophieFootnote 4 und auch der SoziologieFootnote 5, die eine erhebliche, wenn nicht entscheidende Abhängigkeit menschlicher Entwicklung von Denkweisen, Sozialsystemen und der Art der Organisation der baulichen Umwelt sehen.

Freilich: Diese Arbeiten beziehen sich auf recht unterschiedliche Anordnungen und bauliche Details. So gibt es eine große Zahl – auch von historischen – Aufarbeitungen des Einflusses der inneren Organisation des Hauses auf Sozialbeziehungen und Formen des Zusammenlebens. Im Zentrum der Überlegungen der folgenden Seiten steht dagegen die Wechselbeziehung Haus/Straße, die allerdings durchaus von den inneren Formen des Hauses beeinflusst sein kann – nur insoweit wird dies mit betrachtet.

3.2 Straße und Haus in der Siedlung

Die Anlage von Städten, die Anordnung der Straßen und der jeweiligen Häuser/Bauten hat, so kann man die – allerdings erst jüngst wieder an die Debatte der 70er‐Jahre des letzten Jahrhunderts anknüpfende – Diskussion um Raum und Stadt resümieren, einen erheblichen, oft wohl deutlich unterschätzten Einfluss auf die menschliche Lebensweise. Bildung, Formen der Kommunikation und der Auseinandersetzung, die Weitergabe und die Generierung von Wissen: Dies sind Dinge, die mit der kleinteiligen Organisation von „Gebautem“ zusammenhängen. Der Erfolg der dichten Siedlungsform der Stadt, dies können wir hier schon sagen, muss und wird genauso von der kleinteiligen, der inneren Qualität und Organisation ihrer Straßen und Bauten abhängen, wie von der Verbindung nach außen in ihr Umland und die Ferne.

Im Folgenden konzentrieren wir uns auf die Orientierung der Gebäude und den generellen Zusammenhang von Straße , Vorplatz und Bebauung. Hier handelt es sich für den Zusammenhang von Urbanismus und Verkehr um die konstituierende, kleinste Beziehung. Sie wurde in vielen Analysen und in der Praxis des Bauens lange vernachlässigt, denn der Ausgang eines Hauses oder der Zugang zu einer Bebauung ist auch ganz einfach Grenze und Ort zwischen den unterschiedlichen Fachdisziplinen (etwa Architektur und Verkehrsplanung ). Das Innere des Hauses – hierüber gibt es auch eingegrenzt historisch umfangreiche Arbeiten – wird als Architektur und interne soziale Organisation abgespalten von dem, was „draußen“ passiert, auf der Straße und im Verkehr.

Dabei ist die Einheit von Straße, Vorplatz und Bebauung, die übergreifende Analyse des „Drinnen“ und „Draußen“, wie sie etwa bereits Georg Simmel am Beispiel der Tür als „Grenzpunkt“ in seinem Aufsatz „Brücke und Tür“Footnote 6 demonstriert, unabdingbar zum Verstehen von urbaner Organisation. Da geht es um die Frage der Ausrichtung eines Hauses auf ein „Davor“, auf einen öffentlichen Raum, oder um die Entscheidung über die Lage der Tür: Diese Elemente der Organisation menschlicher Behausungen sind schon früh Gegenstand des Nachdenkens und immer wichtiger Teil des Alltagsablaufes gewesen.

So findet sich sprachgeschichtlich im Alten Testament der Bibel, offenbar zurückgehend auf frühe Wortbildungen der akkadischen Sprache, eine interessante Übereinstimmung: Die Vorderseite eines Zeltes (panu/panatu) weist dieselbe Bezeichnung auf wie das Gesicht der Menschen oder des Mose, ähnliche Wortstämme finden sich in Verben wie in „abwenden“ oder „fliehen“.Footnote 7 Orientierungen der Bauten sind also bereits früh mit sozialen und körperlichen Tatbeständen in Bezug gesetzt worden, was deren Relevanz für den Alltag zeigt.

Hier soll nicht die gesamte Geschichte des Wechselverhältnisses Haus/Straße dargestellt werden. Die jeweiligen Regeln und der damit in Verbindung stehende Vorgang der Herstellung von Öffentlichkeit und Privatheit sind hoch komplex und wären allein für die europäische Kultur nur sehr umfangreich zu beschreiben.Footnote 8 Für die Organisation des Austausches und des Verkehrs interessieren Abläufe, die für die Beziehung Haus/Straße als einerseits durch die Tür Getrenntes, andererseits aber jederzeit gemeinsam und abhängig voneinander zu Denkendes wichtig sind. Beispiele dazu sollen im Weiteren aufgezeigt werden.

In der griechischen und später römischen Stadt gab es bereits ein entwickeltes System von Regeln für die Anordnung von Straßen und Gebäuden. Ein dichtes Zusammenleben in den Orten, insbesondere etwa in Rom, machte klare Abgrenzungen unausweichlich. Die Regeln, die sich im Laufe der Zeit entwickelten, stellten eine Art „steinernes Gesetzbuch“ dar: Mauern, Türen, Grenzen schrieben Verhalten vor und machten Herrschaft und Abhängigkeit deutlich. Gerade aber auch diese Grenzen schufen eine Basis für Austausch und Handel und sicherten diese Basis jederzeit ab.

Dabei entwickelten sich komplexe Formen von Eigentumsrechten und sozialen Hierarchien, die wieder mit den Formen der sozialen Organisation korrespondierten. Paul VeyneFootnote 9 verweist hier auf VitruvFootnote 10, der jedes Mal, wenn er auf die Schnittstellen von öffentlichFootnote 11 und privat in seinen Ausführungen und zur Baukunst eingeht, auch immer soziale Aspekte mit einbezieht.Footnote 12 Wie klar die Verhältnisse in der römischen Stadt geregelt waren, zeigt ein Hinweis am Haupteingang eines Hauses: „Jeder Sklave, der ohne ausdrücklichen Befehl des Herrn das Haus verlässt, erhält 100 Hiebe.“Footnote 13

Dies sind eindeutige und, wie man sieht, im Ernstfall auch mit schmerzhaften Konsequenzen durchgesetzte Grenzen. Grenzen und Hierarchien zeigt auch bereits die Straße selbst. In Pompeji (Abb. 3.1) ist eine lineare Aufteilung und Orientierung bei der Form der Straße erkennbar: Die Hauseingänge und teilweise komplexe Übergänge von öffentlich auf privat in Form von Läden auf den beiden Seiten, ein Gehsteig und eine durch einen Randstein abgegrenzte Fahrbahn geben eine lineare Hierarchie vor.

Abb. 3.1
figure 1

Straße in Pompeji. (Foto: Autor)

Inwieweit diese Regeln praktisch gewirkt haben, wissen wir sicher nicht genau. Der Erfolg der römischen Organisation der Städte unter durchaus wechselnden und konfliktreichen Umständen spricht jedoch für die relativ große Funktionsfähigkeit der entwickelten Grundformen der Straße . Auch nach dem Ende des Römischen Reiches blieb – wenn auch in deutlich vereinfachter Form – in Dörfern und Städten die Orientierung Straße, Vorplatz, Haus erhalten. Dabei ist festzuhalten, dass dies „Gegenüber“ der Hauseingänge an einer Straße im Wesentlichen die kleinteilige Kommunikation über die Straße hinweg und damit den kleinteiligen Austausch von Informationen förderte. Durchgangsverkehr im heutigen Sinne über längere Strecken (also als überörtlicher Fernverkehr) war und blieb noch sehr lange eine absolute Ausnahme. Alltägliche Wege über die Straße hinweg waren durch ihn also nur begrenzt beeinflusst.

Die – in Frankreich zuerst wieder aufgenommene – detaillierte Organisation der Stadtstraßen, die eine große Ähnlichkeit mit der römischen Organisation besitzt, breitete sich in der Moderne schrittweise in ganz Europa aus. Am Beispiel der gründerzeitlichen Organisation der Straße konnte erneut die Einheit Haus/Straße eine komplexe Form finden, die zu einer Interpretation im übergreifenden Sinne herausfordert (siehe Abb. 3.2).

Abb. 3.2
figure 2

Gründerzeitliche Straße in Kassel. (Foto: Swen Schneider)

In dem Aufsatz „Die Straße als Freiraum “ beschreibt Karl Heinrich Hülbusch die Straße als „aus aneinander gereihten Plätzen“ bestehend.Footnote 14 Damit rückt er den kleinteiligen Austausch von „drinnen und draußen“ in den Vordergrund seiner Überlegungen. In der Tat liefert die gründerzeitliche Straße ein Beispiel dafür, wie mit wenigen, einfachen, deutlichen und übersichtlichen Regeln eine Vielfalt von Möglichkeiten des Gebrauches für die Menschen geschaffen wird.

Basis der Organisation der Straße bildet erneut das Gegenüber der Gebäudeeingänge.Footnote 15 Damit werden der „Blick über die Straße“ und dann auch der „Weg über die Straße“ zu einem Ziel auf der anderen Seite gerichtet. Zahlreiche Autoren, am eindrucksvollsten bereits Jane Jacobs,Footnote 16 haben auf die Zweckmäßigkeit dieser Straßenaufteilung für die Alltagsorganisation der Menschen und den damit verbundenen kleinteiligen Austausch hingewiesen. Die Rolle des Fußweges, die Funktion der Vorgärten der Häuser oder die Mittel und Wirkung der linearen Aufteilung der Straße sind in zahlreichen Quellen beschrieben, die die Qualität der Straßenorganisation belegen und die hier im Einzelnen nicht erwähnt werden sollen. Auch empirische Analysen in heutigen Städten mit ähnlich angelegten Straßen, etwa bereits von Donald D. Appleyard, zeigen, dass diese mit zahlreichen Überquerungen zu Fuß über die Fahrbahn hinweg intensiv zum Austausch genutzt werden – jedenfalls so lange, bis der Autoverkehr dies einschränkt oder unmöglich macht.Footnote 17

Abb. 3.3
figure 3

Je höher die Verkehrsbelastung an einer Straße, desto stärker reduziert sich die Aufenthaltsqualität, dadurch werden wiederum weniger Bekanntschaften in der Nachbarschaft geknüpft. (Grafik: John Whitelegg nach Donald Appleyard)

Die symmetrische Aufteilung mit Hauseingang, Vorgarten und Gehweg (oftmals auch Baumstreifen) und der Fahrbahn in der Mitte – wie sie im 19. Jahrhundert nicht nur in Europa in der Regel konzipiert war – fördert Verstehbarkeit und gibt allen Beteiligten ein hohes Maß an Sicherheit. Der Rand, die Tür und die Fenster sowie die Vorgärten sind die Orte, wo in Ruhe beobachtet oder zwischendurch etwas gearbeitet wird. Je weiter es der „Mitte“ zugeht, umso öffentlicher und „riskanter“ wird es, wobei die Kante des Bürgersteigs die Grenze zu dem äußerst gefährlichen Automobil anzeigt.

Eine Bebauung, die „gereiht“ an der Straße steht, korrespondiert in vielfältiger Weise mit dieser: Die Straßenbreite und die Haushöhe stehen in einem engen Wechselverhältnis (ein Beispiel gibt etwa die östliche Vorstadt in Bremen, mit 14 bis 18 m Abstand von Haus zu Haus und einer in der Regel dreigeschossigen Bebauung), sodass sparsam bemessener, aber durch gute Organisation ausreichender Platz für Vorgärten und Außenraum bleibt. Dies gelingt etwa in der Stadt Bremen sogar mit einer Einwohnerdichte, die sonst nur Gebiete mit Hochhäusern erreichen. Die Häuser selbst weisen in anpassungsfähiger Architektur verschiedenste Nutzungsmöglichkeiten auf, vom „normalen“ Wohnhaus über Anwaltskanzleien bis hin zu kleinen Handwerksbetrieben.Footnote 18 Dies alles zusammen produziert eine gemischte Nutzung bei gleichzeitig hoher Dichte.

Die „gründerzeitliche Straße “ gibt es in den verschiedensten Varianten und nicht nur in Bremen. Teilweise (wie etwa in der Stadt Wien noch heute in großen Teilen der Stadt erhalten und anzuschauen) sind aus Spekulationsgründen Geschosszahlen bis 6 und mehr Etagen realisiert. Die Dichte wird durch innerhalb der Blöcke angelegte Hoffolgen noch erhöht. Dadurch geht in den Obergeschossen nicht nur der Bezug zur Straße verloren. Die im Verhältnis zur Bauhöhe zu geringe Straßenbreite garantiert hier in den Untergeschossen nicht mehr genügend Licht. In den Hinterhöfen von Berlin waren die Lebensbedingungen oft mehr als schlecht, weil die Bewohnerdichte unerträglich hoch wurde.Footnote 19 Die gründerzeitliche Stadt und ihre Straßen waren also auch der Ort von Elend und Armut, ihr Bau war durch Ausbeutung von Arbeitskräften und auch von Spekulationsgewinnen gekennzeichnet, Idealisierungen sind fehl am Platze.

Die Straßen der gründerzeitlichen Stadt – manche reden bei deren Anblick auch etwas idyllisch von „europäischer Stadt“Footnote 20 – waren und sind keine Orte ohne Konflikte und Auseinandersetzungen. Vielmehr geht es darum, dass sie für eben diese Konflikte, selbst in den Fällen, wo sie spekulativ verunstaltet waren, eine Basis vor Ort gaben. Sie haben unterschiedlichste Situationen überstanden oder: den Menschen, die an ihnen wohnten, sehr verschiedene Möglichkeiten der Nutzung bei einfachen und verstehbaren Regeln der Straße gegeben.Footnote 21 Von Familien mit vielen Kindern in – im Vergleich zu heute – viel zu kleinen Wohnungen bis hin zu Arztpraxen oder einfach nur den Ansprüchen einer Wohngemeinschaft, alles war und ist möglich. Ein Hochhaus zum Wohnen aus den 50er‐Jahren des letzten Jahrhunderts wird, auch wenn man es anders anstreicht, immer ein Wohnhaus bleiben (im Rahmen funktionalisierter Planung sollte es ja auch gar nichts anderes sein können).

Die Orientierung der Häuser hin zur Straße bedeutet ganz wesentlich ein hohes Maß an Sicherheit für die Nutzer. Dies heißt Beobachtung durch Menschen, statt durch Kameras. Doch nicht nur das gilt: Blicke formen auch das Verstehen. Die von Lucius Burckhardt geprägten „Spaziergangswissenschaften“ entwickelten große Aufmerksamkeit für Perspektive und Betrachtungsweisen.

Abb. 3.4
figure 4

Anwesenheits‐ und Aneignungsspuren in kompakten, mischgenutzten Stadtquartieren. (Darstellung: Czekaj, T.; Stratmann, V.; in Kooperation mit Holzapfel H. et al. 2004, S. 51)

Abb. 3.5
figure 5

Anwesenheits‐ und Aneignungsspuren in kompakten, mischgenutzten Stadtquartieren. (Darstellung: Czekaj, T.; Stratmann, V.; in Kooperation mit Holzapfel H. et al. 2004, S. 51)

Die bei der gründerzeitlichen Straße beobachtbaren Kontakte und Blicke wirken nicht nur direkt, sondern bedeuten auch in den Köpfen der Menschen andere Vorstellungen. Der Blick der Bewohner aus einem Hochhaus über die Stadt (oder über Google‐Earth aus einem virtuellen Hubschrauber auf die Landschaft) bringt andere Vorstellungen über die tatsächliche und soziale Bedeutung der gebauten Welt als der reale Kontakt in einer Straße. Diese „andere Art“ der Wahrnehmung lässt sich nicht einfach als „gut“ oder „schlecht“ bewerten, sie hat aber fraglos erhebliche Wirkung auf unser „Bild im Kopf“ von der Stadt.

Dies führt zu der Gedankenwelt der Planer, die den Prozess der Entwertung der Kommunikation in der Straße durch das Automobil im letzten Jahrhundert begleitete. Es wird im Weiteren verständlich: Entweder sie förderten diese Entwicklung durch weitere Verbreiterung der Straße bei gleichzeitiger Entwertung der anliegenden Häuser. Oder sie arbeiteten in einer Art „Verteidigungshaltung“. Sie entwickelten Mechanismen, den „bösen Durchgangsverkehr“ (in Englisch „rat‐running“) zu verdrängen, indem sie Straßen und ganze Stadtbereiche abschotteten. Ein gutes Beispiel bietet etwa die im englischen Sprachraum verbreitete Arbeit von Donald D. Appleyard, die „beruhigte Zonen“ vom Auto befreien will, es dafür aber notwendigerweise anderswo hinschiebt, wo es umso mehr die Stadt zerteilt. Die Effekte dieser planerischen Reaktionen gehen also weit über die eigentliche Straße hinaus. Es ist daher unbedingt erforderlich, die Geschichte und die Entwicklung der Straße auf die der Straßennetze und auf die übergreifenden Zusammenhänge zu erweitern.

3.3 Straßennetze und die Kreuzung

Es ist sicher so, dass das Rasternetz der in der Geschichte Europas so erfolgreichen griechischen – und später auch der römischen – Stadt nicht, wie manchmal behauptet, eine Art „Erfindung“ des Hippodamos von Milet war,Footnote 22 obwohl dieser eindrucksvolle Beispiele geschaffen oder angeregt haben dürfte. Die in sich beschränkte Reichweite alltäglicher Beziehungen und Kontakte macht es – so die Geografie es erlaubt – einfach sinnvoll, einer Straße eine weitere anzuschließen und schließlich ein Raster zu schaffen. Die Konzeption der griechischen und später der römischen Städte, die auch heute noch viele – und nicht die schlechtesten – Städte auf der ganzen Welt prägt, zeigte in langen Jahren des Gebrauches ihre Vorteile.

Durch das Rasternetz entstehen viele Kreuzungen. Neben dem „Gegenüber“ in einer Straße machen die vielen Kreuzungen einen natürlichen Ort des Zusammentreffens und eine Art „Gelenk“ zwischen den einzelnen Straßen aus. Es war wieder Jane Jacobs, die eindrücklich auf die Notwendigkeit kurzer Baublocks und vieler Kreuzungen auch in den heutigen Städten (am Beispiel von New York) hinwies und damit auch das bereits betonte, was hier herausgestellt werden soll: die Vorteile der Kreuzung. Footnote 23

Die Kreuzung von Wegen vereint, besonders aus der Sicht des Fußgängers, viele Möglichkeiten. Ich kann – zu demselben Ziel – verschiedene Wege wählen. Mit einem kurzen Blick kann in mehrere Straßen hinein Orientierung gewonnen werden. Mit einer Kreuzung entsteht zudem ein Ort, an dem der Durchgangsverkehr abbremsen muss und die Anwesenden ihr Recht, die Straße zu queren, besonders deutlich wahrnehmen können und – wenn sie nicht um die Ecke biegen – zum Fortschreiten auch müssen. Die Kreuzung markiert einen Punkt, an dem Raumerschließung auf die Anwesenden trifft.Footnote 24 Diese nehmen die passierenden Menschen interessiert zur Kenntnis, die lokalen Interessen werden, wenn es gut läuft, entschieden vertreten. Das Beispiel aus Pompeji (Abb. 3.1) zeigt, wie deutliche bauliche Markierungen in Form von Vorläufern des heutigen Zebrastreifens diese Rechte sichern. Die Kreuzung ist ein idealer Punkt für Beobachter, wie den klassischen „Eckensteher“,Footnote 25 aber nicht nur für diesen. Kneipen und Geschäfte haben an der Ecke wegen der vielen Passierenden einen idealen Standpunkt.

Die Blocklängen und Kreuzungsabstände einer guten Organisation einer Stadt können sicher nicht generalisiert werden; in Großstädten sind sie wohl größer als in kleineren Orten, im Lauf der Geschichte finden sich unterschiedliche Maße. Die rasterförmige Organisation der Stadt wird in den Städten im Mittelalter durch ein noch engmaschigeres, relativ ungeordnet anmutendes, aber immer noch von Kreuzungen und Treffpunkten bestimmten Muster abgelöst, ehe sich spätestens im 19. Jahrhundert – wieder die rasterförmige Stadt in klarer Form etabliert. In europäischen Städten über Jahrhunderte bewährte Maße für die Baublocks finden sich in Deutschland etwa noch in der Innenstadt von Freiburg oder in BremenFootnote 26 mit Blocklängen zwischen 60 und 250 m, wobei die großen Abstände selten auftreten. Diese und ähnliche Straßennetze , die über Jahrhunderte nicht nur in Europa erfolgreich waren, weisen in der Regel nur zwei Klassen von Straßen auf: kleinere Erschließungsstraßen und Hauptverkehrsstraßen. Mischnutzung der Gebäude an diesen Straßen war lange Zeit selbstverständlich.

Dadurch ergibt sich – in den Straßennetzen bis etwa in die 20er‐Jahre des letzten Jahrhunderts – ein Muster von Straßen, das ein hohes Maß an Durchlässigkeit aufweist. Von einer Wohnstätte aus stehen Stadtnutzern verschiedene Wege zu unterschiedlichen Zielen in der Stadt zur Wahl.Footnote 27 Die Sackgasse ist eine absolute – und nur in Notfällen angelegte – Ausnahme. Wohnen an einer Straße, wo Menschen passieren, war eine Qualität: Straßen waren interessant. Sie sind Treffpunkt und Informationsort über das alltägliche Leben. Das „Fenster zur Straße“ mit dem Gesicht eines alten Menschen, der die Situation beobachtet, inklusive einer daneben liegenden Katze, mag ein romantisches Bild sein, sagt aber viel über eine historische Erfahrung aus.Footnote 28 Die Straße war lange eine Attraktion, ehe sie diese Eigenschaft einbüßte – und nicht nur wegen des starken Autoverkehrs, sondern auch, weil die Planer ihre Häuser nicht mehr auf diese bezogen.

Die zwei Straßentypen – die Hauptstraße und die kleineren, „normalen“ Straßen – unterscheiden sich vor allem durch Lage, Breite und die anliegende Bebauung, wobei allerdings nicht in allen diesen Eigenschaften immer deutliche Differenzen vorliegen müssen. In den Hauptstraßen befinden sich eher kundenabhängige Handelsformen, wie Geschäfte, Gaststätten und dergleichen. Im Netz sind diese Straßen oft Verlängerungen von überörtlichen Verbindungen und/oder mit einem zentralen Platz verbunden. Die Menschen leben vor allem in den vielen kleineren Straßen der Stadtteile.Footnote 29

Besonders in der Gründerzeit ergaben sich elaborierte Rasternetze. In Bremen etwa weisen viele der Haupterschließungsstraßen geringe Kreuzungsabstände aus, was auch heute noch die Lagen dort für Geschäfte interessant macht. Ein wichtiges Resultat der Anlage von Rasternetzen, vor allem auch, da sie sich in der Regel auf die zwei erwähnten Straßentypen beschränken, ist eine relativ ausgeglichene Verteilung des Verkehrs.

Das Resultat ist nicht Konfliktfreiheit zwischen den unterschiedlichen Nutzungen der Stadt. Thomas Sieverts etwa macht schon in der kleinteilig gemischten mittelalterlichen Stadt heftige Störungen der Menschen durch das Gewerbe aus und er wertet Störungsfreiheit als Vorteil der von ihm beschriebenen „Zwischenstadt“.Footnote 30 Ob ein solches Argument wirklich überzeugt, wenn der Autoverkehr mehr Belastung erzeugt als viele Gewerbearten, sei dahingestellt. Richtig ist jedoch, dass die Stadt über lange Zeit – mehr als heute – der Ort des Austragens verschiedenster Konflikte war. Doch gerade dabei kann die gerasterte Siedlungsorganisation in vielen Punkten überzeugen. Die kleinteilige Organisation von Orten in Form des Rasters hat über lange Zeit Konflikten nicht nur Raum gegeben, sondern auch den Menschen Freiheit für die Entwicklung von angemessenen Regeln gelassen, und das hat oft nicht schlecht funktioniert. Dabei haben schlechte, zu enge und durch spekulative Übernutzung geprägte Phasen in den Städten fraglos diese Organisation bis an die Grenzen belastet. Aber in vielen Orten und zu vielen Zeiten, auch unter heutigen Bedingungen mit einem modernen Gewerbebestand erweisen sich die Qualitäten der Rasternetze. Die Stadt mit den vielen Kreuzungen ist nicht nur fußgängerfreundlich, sie ist – und dies natürlich abhängig noch von zahlreichen anderen Parametern – in aller Regel auch attraktiv.Footnote 31

Mit der Kreuzung ist fraglos in einer bestimmten Weise der Konflikt in den Ort eingebaut. Ob es der Vortritt oder die freie Fahrt eines Wagens ist, dies sind Vorgänge, die mit weiteren Beteiligten abgestimmt sein müssen, denn an der Kreuzung geht es eng zu. Die Regeln und Muster, die sich herausbilden, sind jedoch einfach und klar. Noch heute sind viele Kreuzungen ohne eine Ampelschaltung leistungsfähiger als mit einer solchen. Sicher waren auch Kreuzungen niemals romantische Orte und sie konnten geradezu Konflikte und Auseinandersetzungen in der Stadt – etwa in Deutschland in den Straßenkämpfen der 20er‐Jahre des letzten Jahrhunderts – anziehen, aber sie bedeuten ein lokales „Scharnier“ in den Städten.

3.4 Trennung, Desintegration und Verlagerung – Die Strategien der Industrialisierung im Verkehr

Spätestens seit dem 2. Weltkrieg wird in der Planung von Straßen alles anders. Kreuzungen sind unerwünscht und werden beseitigt. In vielen Abhandlungen werden die Veränderungen in den Städten im Laufe des letzten Jahrhunderts beschrieben, die Veränderungen des Verkehrsnetzes werden dabei selten betrachtet. Sie sind in ihrer Wirkung fraglos unterschätzt.

3.4.1 Hintergründe

Die kleinteilige Organisation der städtischen Siedlungen wird schon in der Hochphase der Industrialisierung in Deutschland und Europa vor 1900 kaum noch diskutiert. Die letzten fundierten planerischen Arbeiten hierzu stellen bereits gestaltende Gesichtspunkte stark in den Vordergrund.Footnote 32 Auf diesem Gebiet lebt der Städtebau praktisch aus den Erfahrungen der Vergangenheit, doch diese Erfahrungen sind selbstverständlich geworden und daher auch bereits erster Zerstörung preisgegeben. Die Erschließung der Städte durch die Eisenbahn Footnote 33 verändert die Wertigkeit des städtischen Umfeldes ebenfalls deutlich: Die Schienenstrecken trennen Teile der Stadt von der Landschaft ab, ja, auch Teile der Städte werden radikal verändert. Die Eingriffe sind etwa mit dem heutigen Bau einer Stadtautobahn vergleichbar, manchmal gehen diese Eingriffe bis an oder gar in das Zentrum der Städte. Heute haben wir uns an solch starke bauliche Eingriffe gewöhnt. Damals waren diese Eingriffe im Empfinden der Menschen sicher enorm. Dass sie dennoch durchgesetzt werden konnten, ist nur erklärlich, wenn die Faszination und die immense Bewunderung der Maschinen mit berücksichtigt werden, die menschliche und tierische Kraft so erstaunlich übertrafen. Zudem muss das von dieser Maschinisierung begleitete Wachstum in Europa von etwa 1850 bis 1910 beeindruckend und unterstützend gewirkt haben. Wichtige Bevölkerungsgruppen aus den Oberschichten, und vor allem auch die städtischen Eliten, orientierten ihre Vorstellungen über Zukunft an Bildern, die sie aus der zunehmenden Maschinisierung entlehnten.Footnote 34

Die in einzelnen Gruppen vorhandene Euphorie und die dabei vorhandene Opferbereitschaft können – ohne dass man historische Vergleiche überstrapazieren sollte – in etwa mit der heutigen Situation in China verglichen werden.Footnote 35

In der Tat waren die Veränderungen ja erstaunlich, die die Entwicklung des Schienenverkehrs für den Raum bedeutete: Der Dichter Heinrich Heine nennt nach der Öffnung der Strecke von Paris nach Rouen und Orleans im Jahr 1843 die Bahn ein „providentielles Ereignis“ Footnote 36 und vergleicht sie mit der Erfindung der Druckerkunst und der des Schießpulvers. Sein bekanntes Zitat: „Mir ist, als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt. Ich rieche schon den Duft der deutschen Linden; vor meiner Tür brandet die Nordsee“, gibt einen Eindruck von der Wirktiefe dieser Veränderung.

Neben den Einschnitten, die durch die Eisenbahn im Raum und in den Köpfen der Menschen erzeugt werden, war auch die Erfahrung mit den Produktionsprozessen der Industrialisierung ein wichtiger Hintergrund für die Stadtentwicklung im letzten Jahrhundert. Arbeitsteilung und Auftrennung von bisher integrierten Tätigkeiten waren ganz offenbar erfolgreich im industriellen Produktionsprozess und konnten Umbrüche erzeugen. Warum sollten die Prinzipien industrieller Produktion nicht auch auf das Zusammenleben in der Stadt angewendet werden?

Spätestens als Henry Ford die Arbeitsteilung beim Bau von Automobilen in eine erste Perfektion trieb, kommt auch das Bild bei Architekten und ersten Stadtplanern an: die Stadt als arbeitsteilige, funktional organisierte Einheit und das Haus als „Maschine zum Leben“. Dies sind Gedanken, die spätestens in den 20er‐Jahren des letzten Jahrhunderts Architekten und Städtebauer wie Le Corbusier bestimmen. Diese Gedanken bilden auch einen wichtigen Hintergrund für die Art, wie die Straßennetze in der Stadt und in der Landschaft wurden.

Hinzu kommt ein weiteres Element: Spätestens seit dem Beginn des letzten Jahrhunderts – vor allem in der Periode bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges in Europa – begann eine erste große Diskussion und allgemeine Unterstützung der Exportorientierung der Wirtschaft der Industriestaaten. Debatteninhalte, die der aktuellen Diskussion über Globalisierung entsprechen, finden sich in den Protokollen der Parlamente. Im Deutschen Reichstag wurden bereits vor 1910 mehr Rechte für die Autofahrer eingefordert, weil sonst die deutsche Automobilindustrie in Nachteil gegenüber der Automobilindustrie der USA gerate.Footnote 37 Die Beziehung mit entfernten Standorten, die bessere Erreichbarkeit neuer Märkte vom eigenen Standort aus, dies werden wichtige Faktoren, die das Verkehrswesen dann auch wesentlich beeinflussen.

Eine der Architekturgeschichte vergleichbare Disziplin der Verkehrsgeschichte gibt es nur in Ansätzen, einige der entsprechenden Arbeiten werden hier zitiert. Der Hintergrund, der aus verschiedenen Quellen Erklärungen für den Umbau der Städte und Landschaften liefert, muss daher in der Forschung sicher noch weiter aufgearbeitet werden. Dies betrifft insbesondere auch den Ansatz der sog. „Spaziergangswissenschaften “ von Lucius Burckhardt, der unter anderem den veränderten Blick auf die Landschaft aus der Bahn und durch die Postkarten des ersten Tourismus sowie durch die Beschreibung von Reisen thematisiert. Insgesamt ergibt sich ein kultureller und materieller Hintergrund durch die Industrialisierung, der eine stärkere Aufmerksamkeit für die Erschließung der Ferne als der Nähe entstehen lässt. Ohne diesen Hintergrund ist der Prozess einer starken Veränderung der Straßen und der Verkehrsnetze und damit die erhebliche Veränderung des städtischen Lebens der Menschen nicht erklärbar.

3.4.2 Die Trennung von Haus und Straße und Verlust der Straße für den Aufenthalt

Zu Anfang dieses Buches wurde beschrieben, dass Straße, Vorplatz und Haus eine – vielfältig genutzte – Einheit bilden. Dies spiegelt sich in den Formen der Straße, in sozialen Absprachen über ihre Nutzung bis hin zur Sprache der Menschen wider. Die Vorstellung, die erfolgreiche industrielle Arbeitsteilung auch auf die Organisation der Stadt zu übertragen, und die Förderung und die Bewunderung der modernen Verkehrsmittel, die auf die Ferne orientiert sind, haben bald ganz konkrete Wirkungen. Diese zeigen sich zunächst bei der Fahrbahn der Straßen in Siedlungen. Schritt für Schritt wird aus der vielfältigen Nutzung bis hin zum Kinderspiel nur noch eine einseitige Nutzung: Sie wird der Platz für den schnellen Verkehr in die Ferne.

Angefangen hatte es um die Wende des letzten Jahrhunderts scheinbar völlig harmlos mit den bereits erwähnten Diskussionen um die Haftpflicht für die Automobile. Dies ist nur scheinbar ein unwichtiges Thema für die Siedlungsplanung. In Wirklichkeit erweist sich aber, dass eine rechtliche Frage den städtischen Raum entscheidend verändern kann.

Bis zum Beginn des letzten Jahrhunderts war eine quasi selbstverständliche Regel in Kraft: Der Betreiber einer Technik im öffentlichen Raum hatte die Risiken dieser Technik zu tragen und musste im Schadensfall bezahlen. Wenn Menschen durch explodierende erste Dampfwagen getötet wurden, wenn erste Automobilisten in Dörfern Hühner oder Hunde töteten, war es klar: Der Betreiber der Technik, der Fahrer, musste den Schaden bezahlen, wenn er sich nicht, was durchaus häufig vorkam, mit seinem schnellen Fahrzeug der Verfolgung entzog.

Bei den damals sehr belebten Straßen und den immer höheren Gefahren durch neu entwickelte, noch größere und schwerere Fahrzeuge war die Bezahlung der Schäden für die „Automobilisten “ bald sehr teuer. Steht anfangs in Zeitungsartikeln und Büchern der damaligen Zeit noch der Alleinunfall von Autofahrern im Vordergrund, also Tod oder Verletzungen des Fahrers selbst, wird bald deutlich, dass die Schäden, die Dritten zugefügt werden, erheblich sind. Diese Schäden nehmen Dimensionen an, von denen das Automobil in seiner Entwicklung gestoppt werden könnte. Die im Zuge der Großtechnik der Industrialisierung entstehenden Versicherungen für Automobile,Footnote 38 so zeigt sich, wären selbst für die reicheren Bevölkerungsschichten unbezahlbar, wenn die Fahrer grundsätzlich für alle Schäden haften müssten.

Das in Deutschland schließlich 1909 eingeführte Haftpflichtgesetz für Automobile legt eine wichtige Grundlage noch für das heutige Recht im Straßenverkehr . Der Autofahrer musste nicht mehr für jeden Schaden haften. Es können, insbesondere wenn sie sich auf der Fahrbahn aufhalten, auch andere Schuld an einem Unfall sein. Damit ist die Fahrbahn für Fußgänger, Kinderspiel und Tiere als Aufenthalt in der Tendenz bereits verloren.

Abb. 3.6
figure 6

Auszüge aus dem „Gesetz über den Verkehr mit Kraftfahrzeugen“ – der ersten Straßenverkehrsordnung Deutschlands aus dem Jahre 1909. (Exemplar der Polizeidirektion Kassel)

Abb. 3.7
figure 7

Auszüge aus dem „Gesetz über den Verkehr mit Kraftfahrzeugen“ – der ersten Straßenverkehrsordnung Deutschlands aus dem Jahre 1909. (Exemplar der Polizeidirektion Kassel)

Reste der alten Rechtsauffassung, die die Straße als öffentlichen Raum allen zuspricht, finden sich zwar in Deutschland noch in den aktuellen Gesetzen über den Straßenverkehr, aber sie haben wenig zu bedeuten. So gibt es den „Gemeingebrauch der Straße“ (jeder hat das Recht auf den Gebrauch der öffentlichen Straßen), der freilich aber durch die sonstigen Gesetze und Vorschriften beschränkt ist. In diesen sonstigen Vorschriften ist aber der Vorrang des „fließenden Verkehrs“ definiert. In der Praxis heißt das, dass ein Fußgänger die Straße nur queren darf, wenn er diesen Vorrang berücksichtigt. Im heutigen Straßenverkehr bedeutet dies auf weiten Strecken keine oder sehr schwierige Chancen der Überquerung, jedenfalls an Hauptverkehrsstraßen. In Deutschland ist die Gesetzeslage so, dass in vielen Fällen (etwa wenn eine Überquerung in „zumutbarer Entfernung“ durch eine Ampel oder einen Tunnel oder eine Brücke zur Verfügung steht) ein Kontakt mit einem „Gegenüber auf der anderen Straßenseite“ nur mit Umwegen möglich ist.Footnote 39

Gesetzliche Regeln verändern also den städtischen Raum vor den Häusern erheblich. Die Straße vor dem Haus wird von einer Fläche, die einst Möglichkeiten schuf, zu einer Fläche der ständigen Unsicherheit und Belastung.

Dabei wird oft übersehen, dass die rein materielle Ausstattung und das Gewicht des Autos jede „gleichberechtigte Nutzung“ einer Fläche durch Automobile gemeinsam mit Fußgängern oder Radfahrern unmöglich machen.Footnote 40 Während ich etwa jeden vor mir stehenden Menschen höflich bitten kann, mir Platz zu machen, ist ein parkendes Auto kaum zum Verlassen seines Platzes zu bewegen. Auch wenn ein Auto besetzt ist und der Fahrer mir höflich winkend den Vortritt lässt, bin ich immer stark von ihm abhängig. Rutscht ihm der Fuß von der Bremse auf das Gaspedal – was selten geschieht, aber vorkommt – bin ich in großer Gefahr. Noch viel gefährlicher wird es, wenn die Automobile auf Hauptstraßen schnell fahren – eine Unaufmerksamkeit kann einen Fußgänger das Leben kosten. Kinder, die einen Großteil der Toten im Verkehr stellen, sind aber oft unaufmerksam und abgelenkt.

Kein Wunder also: Schon in den 20er‐Jahren des letzten Jahrhunderts gibt es den Vorschlag, das Haus von der Straße abzutrennen. Arbeitsteilung und der Schutz der Bewohnenden vor dem Verkehr sind die Argumente. Beides scheint schlüssig: Der Automobilverkehr kann das, was er soll, nämlich ungestört fahren, besonders gut, wenn er nicht von den Anwohnern – so jedenfalls der Eindruck der Fahrer – gestört wird, die Häuser können, von der Straße quasi befreit, ihre Rolle für den Aufenthalt der Menschen, die ebenfalls viel ungestörter sind, besser erfüllen. Es entstehen in Deutschland, besonders im Bauhaus in Weimar und später in Dessau, die ersten Siedlungspläne, in denen die Häuser von der Straße abgewendet werden. Wohnwege, getrennt von der Straße, werden für die Fußgänger gezeichnet. Der Verkehr war bis dahin Mittel zum Zweck, er war Verbindung zum Gegenüber und Teil eines Tagesablaufes. Mit der Trennung vom Haus wird er auch in der Siedlung zum eigenen Zweck: In der Charta von AthenFootnote 41 taucht der Verkehr als eigene Funktion in der Stadt auf, obwohl Verkehr nicht selbst produziert oder reproduziert. Mit der Veränderung des Verständnisses von Raum in der Stadt verändern sich auch der Raum und die Begriffe.

In dieser Logik werden weitere Folgen der Auflösung der engen Beziehung von Haus und Straße nicht beachtet, die Desintegration dieser engen Beziehung gilt als Vereinfachung und kommt auch noch mit dem Argument des Schutzes daher: Die Menschen würden so, so heißt es, vor den Folgen des Autoverkehrs bewahrt, der jetzt nicht mehr vor der Tür sei.

Die Verfügung über die Straße vor dem Haus durch über Jahrhunderte gewachsene soziale Regeln entzieht sich zunehmend den Anwohnern. Die Stadtplanung als neue, mit der Industrialisierung entstehende Disziplin, ersetzt die eigene Verfügung der Anwohner durch ihre fachliche Vorsorge. Wie eine Fabrik einen Ingenieur zur Organisation der Produktion braucht, braucht die industrialisierte Stadt den Stadtplaner .

Die Durchsetzung des Automobils in den Siedlungen auf den Fahrbahnen der Straßen ist ein allmählicher Prozess. Viele Nebenstraßen, viele kleine Orte werden anfangs nur selten von Automobilen befahren, die Fahrzeuge sind oft sogar eine Attraktion. Auf Hauptstraßen jedoch und in den großen Städten wird bald sichtbar, dass der Verkehr in der Tat den regelnden Eingriff braucht. Erste Verkehrsampeln werden in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts errichtet, in Deutschland ist ein 3 Meter hoher Verkehrsturm in Berlin bekannt, den man 1924 aus New York importierte. Die eigene Aufmerksamkeit der Menschen wird ersetzt durch eine von außen – so jedenfalls der damalige, durchaus auch heute noch aktuelle Eindruck – entworfene Regel. Schriftsteller und Menschen, bekannt in Deutschland wurde der Dichter Kurt Tucholsky,Footnote 42 kommentierten diese Änderung damals skeptisch und negativ.

Nicht nur die Straßen ändern sich, sondern auch das ganze Verkehrsnetz . Diese Veränderungen finden in einem langen Prozess bis in die heutige Planung hinein statt.

3.4.3 Die Veränderungen der Verkehrsnetze

Die Form und die Differenzierung des Netzes von Straßen und Wegen bestimmen in enormem Maße das Leben in Siedlungen und den Eindruck, den wir von dem urbanen Umfeld gewinnen. Die Wege sind auch quasi die Ergänzung zu den privaten Parzellen, deren prägende Wirkung auf urbane Zusammenhänge der deutsche Autor Dieter Hoffmann‐AxthelmFootnote 43 immer wieder betonte. Die Netze der Wege schaffen die Voraussetzung für Aufenthalt, für die Beziehung der Menschen untereinander und zu Produktions‐ und Konsumgelegenheiten.

Zu Beginn des letzten Jahrhunderts erfahren diese Netzwerke nun allmählich erst Veränderungen in der Nutzung, dann auch in den Rechten, bestimmte Flächen zu nutzen, und später dann in ihrer baulichen Form. Dies beeinflusst fast alle Lebensmöglichkeiten, vor allem, wenn gewachsene Verbindungen und Nutzungen gestört, unterbrochen oder mit Hindernissen und nur mit Umwegen zu realisieren sind.

Zu Beginn handelte es sich um einen schleichenden Prozess, der scheinbar wenig Wirkung hatte: Die noch seltenen motorisierten Fahrzeuge nutzten die Netze in den Siedlungen eher sporadisch. Die ersten Maßnahmen waren zudem auch nicht allein nur im Interesse der Automobilisten: Behörden und Ämter bewirkten damit gleichzeitig andere Zwecke, wie mehr Ordnung und HygieneFootnote 44 in den dichter bewohnten Städten. Es verschwanden Tiere von der Straße, die zumindest in den Kleinstädten in Europa bis dahin frei herumliefen (vor allem Schweine und Geflügel).Footnote 45 Kinder und Jugendliche, die mit Ballspielen auch die Fensterscheiben gefährdeten, konnten mit Hinweis auf die Autos schrittweise von der Straße verdrängt und auf „zugewiesenen“ Plätzen oder in Vereinen „geordneter“ erzogen werden.

Anfangs war die Beziehung von Polizei und Behörden zu den motorisierten Fahrzeugen und ihren Fahrern zudem auch noch problematisch. Oft wurden die Motoristen gestoppt oder ihnen wurden niedrige Geschwindigkeiten vorgeschrieben. Dies änderte sich jedoch bald. Die ersten Interessensverbände der Automobilisten erkannten, wie wichtig eine Kooperation mit den Ordnungsbehörden ist, luden Polizeibeamte ein, selbst Auto zu fahren und pflegten enge Beziehungen zu den leitenden Beamten. Schon vor dem Ersten Weltkrieg erfolgte der erste Verkehrsunterricht für Kinder in den Schulen, damit diese die von den Autofahrern beanspruchten Räume freigaben.Footnote 46 Die Kommunikationsnetze der örtlichen Bevölkerung änderte dies anfangs kaum. Aus heutiger Sicht können jedoch diese Entwicklungen als erste Schritte beschrieben werden, die zur jetzigen Situation führten, in der ein Kind nicht einmal am Straßenrand „unbeaufsichtigt“ spielen soll und kann.

Die freie Fahrbahn für Autofahrer war freilich nur der erste Schritt. Damit erhielten die Motoristen, ohne diese Fläche – wie es bei der Eisenbahn noch nötig war – zu bezahlen, ein eigenes, wenn auch nicht immer ausgebautes, Verkehrsnetz . In diesem Netz störten sie aber nun in den bewohnten Bereichen genau die Dinge, die, wie in den vergangenen Kapiteln sichtbar wurde, die Qualitäten von Verkehrsnetzen über Jahrhunderte hinweg ausmachten.

Dies betraf zuerst die Kreuzungen, vor allem wenn sie, wie bei den gründerzeitlichen Blocks üblich, in – aus Sicht der Autofahrer – geringen Abständen unter 100 Metern auftauchten. An den Kreuzungen mussten die Motoristen abbremsen, denn aus der Querfahrbahn drohte das größte Risiko für ihre persönliche Sicherheit und ihr Fahrzeug: ein anderes Fahrzeug. Das konnten anfangs auch Pferdekutschen oder Fuhrwerke sein. Bei den – wieder aus der Sicht der Autofahrer – zahlreichen Konfliktpunkten (also den Kreuzungen) kam es in großen Städten schon bald zu Zusammenstößen mit Todesopfern, die zeigten: An Kreuzungen muss man vorsichtig sein und abbremsen.

Bei den damaligen Fahrzeugen aber war das Abbremsen enorm hinderlich: Schwierig kamen sie in Gang. Kupplung und Schalthebel waren mit hohem Aufwand zu bedienen. Auch das Bremsen brauchte stärkere Kraft des Fahrenden und weit längere Wege als heute. Doch nicht nur das: Auch wer an der Kreuzung abbog, hatte Probleme, denn das Drehen der Lenkräder erforderte ebenfalls hohe Muskelkraft. Selbst bei wenigen Automobilen in einer Stadt führten die aufwendigen und gefährlichen Manöver des Abbiegens oder Bremsens sehr schnell zu Störungen. Wechselseitige Kommunikation der Fahrzeugführer mit ihren Kollegen und den anderen Menschen auf der Straße an den Kreuzungspunkten machte die Sache kaum einfacher. Ab 1902 musste in Deutschland beim Abbiegen ein Handzeichen gegeben werden.

Bereits ab 1907 wurden in Deutschland offiziell Verkehrsschilder aufgestellt, die der Disziplinierung der Beteiligten dienten.Footnote 47 Dass diese ersten Verkehrsschilder von der Autolobby , sprich den ersten Autoclubs, aufgestellt wurden, zeigt bereits, dass diese deren Interessen entsprachen.Footnote 48 Tatsächlich dienten diese Schilder, neben dem Anzeigen von Risiken wie Bodenwellen, fast überall in Europa auch dem Verweis von Fußgängern von der Fahrbahn. Die Problempunkte, auf die die Schilder hinwiesen, zeigten die Sichtweise aus den Autos. Bereits ab 1908 fanden internationale Straßenkongresse der AIPCRFootnote 49 statt (erster in Paris, bereits 2411 Teilnehmer aus 33 Nationen), die 1910 vier international einheitliche Warnschilder für Automobilisten beschlossen: Gewarnt wurde vor Querrinnen, Kurven, Kreuzungen und Bahnübergängen. Gleichzeitig wurde beschlossen, wie Straßen aussehen sollten: möglichst gerade, angemessen breit, nicht zu steil, Kurven sollten ohne allzu erhebliche Geschwindigkeitsänderungen zu befahren sein.

Es ist nachträglich erstaunlich, mit welcher gezielten und energischen Strategie die führenden bürgerlichen, industriellen und administrativen Schichten die Einführung und Subventionierung des Automobils betrieben. Zuerst wird in Deutschland die Einschränkung der Gefährdungshaftung für die Automobile erreicht, ohne die das Fahren viel zu teuer geworden wäre (erreicht im Jahre 1910).Footnote 50 Dasselbe galt für die schon sehr früh erreichte Flächeneroberung in den Verkehrsnetzen der Siedlungen . Immer war es eine breite und international konsistente Argumentation, die diese Maßnahmen durchsetzte. Was national und lokal nicht ging, wurde auf – in der Regel nicht demokratisch autorisierten – internationalen Konferenzen beschlossen und dann mit Hinweis auf diese Konferenzen national durchgesetzt. Ein Beispiel waren die Straßenkongresse der erwähnten AIPCR, die „Fachleute“ versammelten, die dann die Politik national und lokal mit Hinweis auf diese Vereinbarungen umsetzte.

In den Siedlungen gab es nun große Hindernisse, die oben beschriebenen Grundsätze, also etwa die Forderung nach geraden Straßen ohne Kreuzungen und „störende“ andere Verkehrsteilnehmer, wie Fußgänger, zu realisieren. Am Ortsrand gab es weniger Probleme, dort wurde bereits im Jahr 1913 in Berlin mit dem Bau einer geraden, reinen Autostraße, der späteren Rennstrecke AVUS, begonnen.Footnote 51 Solche Vorbilder erhöhten noch den Druck, auch das normale Straßennetz möglichst weitgehend entsprechend zu verändern.

Die Ansprüche der Automobilisten auf kreuzungsfreies, schnelles Fahren konnten sich dort zwar nur schrittweise, aber mit viel deutlicherer flächenhafter Wirkung durchsetzen. In Deutschland wurden bereits 1905 die ersten Verkehrsschilder für Fußgänger aufgestellt, damit sie die Straße nicht überqueren. In Berlin gab es schon im Jahre 1917 eine Verkehrsvorschrift, die das rechtwinklige Überqueren der Fahrbahn für Fußgänger vorschrieb.Footnote 52 Zu dieser Zeit dürfte es etwa auf 700 Einwohner einen Kraftwagen gegeben haben. 699 Menschen mussten also ihr Verhalten ändern, damit einer fahren konnte.

In den 20er‐Jahren des letzten Jahrhunderts setzte dann auch die „Vorfahrt“ den Anhaltepflichten der Automobilisten an Kreuzungen wenigstens teilweise ein Ende. Verkehr an Hauptstraßen (in Deutschland zunächst die Landesstraßen erster Ordnung, später auch die Reichsstraßen) bekam den Vorrang an Kreuzungen, der Querverkehr musste anhalten. Dies Prinzip entsprach genau den Vorstellungen der Ingenieure, die die ersten kreuzungsfreien Autobahnen in Deutschland, Italien oder Frankreich bauen wollten. Vorbild war wieder die Berliner AVUS (die als Versuchsstrecke, nicht als „richtige“ Autobahn eingestuft wird).Footnote 53 Die Studiengesellschaft für Automobilstraßenbau (STUFA)Footnote 54 veröffentlichte 1929 für Deutschland „vorläufige Leitsätze“ über Stadtstraßen. Basis waren Überlegungen, ein „Stammgerüst“ von Hauptverkehrsstraßen in den Städten zu bilden,Footnote 55 die „möglichst durchgehend“ anzulegen seien. Anders gesagt: Die Stadt wird durchzogen von Straßen, die auf die Ferne gerichtet sind, der Orts‐ und Nahverkehr, vor allem die Fußgänger , müssen den Vorrang beachten.

Diese Hauptstraßen sollten zudem die anderen Straßen entlasten. Hier waren die Grundlagen für einen – noch heute und immer wiederholt auftretenden – Irrtum gelegt: Die Planung und der Straßenbau könnten durch „Straßenverbreiterungen“ oder vor allem durch den Bau von so genannten „Entlastungsstraßen“, von großen “Verkehrssammlern“, eine verkehrsentlastende Wirkung entweder auf das Stadtzentrum oder auf einzelne Stadtteile haben. Dies wird so seit 1929 von der STUFA in Deutschland verbreitet und es ist bis heute Grundlage vielfältiger Baumaßnahmen im Verkehr. Tatsächlich hat sich – ebenfalls seit 1929 – fast ausnahmslos keine Entlastung gezeigt. Vielmehr wird generell durch jede Entlastungs‐, Umfahrungs‐, oder Tangentenstraße die Verkehrsfläche für die Automobile größer. Zudem wird durch die, jedenfalls in der Regel, grundsätzlich möglichst schnell und mit Vorfahrtsrecht versehenen Entlastungsstraßen der Fernverkehr mit Autos schneller, aller Verkehr der Nähe muss jedoch warten und wird behindert. Ob die Entlastungsstraße (später auch Tangente oder Umgehungsstraße genannt) am Siedlungsrand den Zugang zum Umland für Fußgänger und Radfahrer stört, oder ob sie in der Stadt als Hauptverkehrsachse zwei Stadtviertel trennt: Die Nahverbindungen werden systematisch verschlechtert, Fernverbindungen mit dem Automobil werden verbessert. Im Grunde genommen wurde so schon früh eine enorme und den Verhältnissen überhaupt nicht angemessene Flächenumverteilung in den Städten erreicht. Dabei wurden vorwiegend juristische oder administrative Maßnahmen eingesetzt. Der Straßenneubau hatte im Wesentlichen Vorbildcharakter, er machte die Utopien sichtbar. Ökonomisch argumentiert könnte man sagen: Es fanden – durch Umorganisation – massive Investitionen in den Fernverkehr statt, die von erheblichem Desinvestment in den Netzen der Nähe begleitet waren.

Dies entsprach nun in keiner Weise der Nachfrage. Der Automobilbesitz in Deutschland stieg in den 20er‐Jahren des letzten Jahrhunderts von einem Fahrzeug auf 100 Einwohner auf etwa ein Fahrzeug auf 50 Einwohner zu Beginn der 30er‐Jahre, wobei ein Großteil Motorräder waren.Footnote 56 Der Bedarf an Raum für Alltagsmobilität und verschiedenste Kommunikation und Aufenthalt im Raum vor und um die Häuser wuchs dagegen besonders in den Städten durch weiteres Bevölkerungswachstum an. Wenn also trotzdem alle Architekten‐ und Stadtbauvisionen gewaltige Anlagen für den automobilen Fernverkehr durch die Städte trieben (ein Beispiel ist insbesondere, aber nicht nur, Le Corbusier mit seinem „Plan Voisin“ für Paris von 1925),Footnote 57 lag dies an anderen Interessen.

Das Automobil entsprach vollständig den technikdominierten Zukunftsinteressen der leitenden intellektuellen sowie insbesondere der finanziell und politisch bestimmenden Schichten. Der Erfolg von Technik, je größer desto besser, ob Schiffe, Fabriken, Hochhäuser, überzeugte diese von der Notwendigkeit und dem Nutzen einer technischen Organisation von Siedlung. Die Techniker selbst, also meist Architekten oder Straßenplaner oder erste Stadtplaner sahen ihren Einfluss wachsen, je mehr sie industrielle Prinzipien, Methoden und Einrichtungen in den Städten installierten. Ein ganz wichtiger Teil waren die Einrichtungen für das Automobil. Die alltäglichen, kleinteiligen Beziehungen zwischen Haus und Straße, die sozialen Implikationen, die in den einleitenden Kapiteln hier geschildert wurden, sie entzogen sich ihrer Betrachtung.

Selbstverständlich ist das nicht, denn auch Architekten und Stadtplaner haben einen Alltag. Es findet eine Art AbspaltungFootnote 58 der menschlichen und sozialen Lebenswirklichkeit statt, die Planung selbst wird asozial. Die Menschen wurden nicht als ganzheitliche Individuen, sondern als zweckbezogen handelnde Einheiten gesehen. Eine Person, die am Hauseingang steht, dem Nachbarn zuwinkt, ein paar spielende Kinder kontrollierend beobachtet und dann zu Fuß an die nächste Straßenecke geht, mischt Freizeit, Einkaufen und Erziehungsaufgaben. Dies wurde jetzt alles einzeln, angeblich effizienter und ohne Aufmerksamkeit für vielschichtige lokale Prozesse, neu geregelt. Wenn überhaupt, wurde der „Fußgänger“ somit als Verkehrsmittel betrachtet, nicht als anwesender Mensch im urbanen Raum. Entsprechend hierarchisieren die Planer ihre Netze: Wohnstraßen , Sammelstraßen , Durchfahrtsstraßen, Hauptstraßen und Fernstraßen. In Deutschland sind die wichtigsten Straßen diejenigen „erster Ordnung“, die anderen das „untergeordnete Netz“. Dabei wurde schon in den Bezeichnungen auch die funktionelle Trennung der Netze entsprechend der funktionellen Trennung der Stadt organisiert. In der technischen Hierarchie wurde allen Beteiligten jeden Tag auch die Rolle klargemacht, die Straßen haben: Die wichtigen Straßen sind „bevorrechtigt“. Es sind die Straßen, die zu weit entfernten Orten führen, auf denen die Autos schneller fahren und die breit ausgebaut werden.

Aus der Stadt, in der die nahen Beziehungen und Tätigkeiten um das Haus den Alltag bestimmten, wo an den Kreuzungen die Interessen der Anlieger mit denen der Durchfahrenden abgestimmt wurden, wurde schrittweise die Stadt, in der die Ferne, der schnelle Verkehr mit dem Auto, dominierte. Teilweise scheinen die Planer in den Utopien aus den 20er‐Jahren des letzten Jahrhunderts die Nachteile dieses Prozesses zu sehen. Sie legten die Fernstraßen als Hochstraßen an, um den Alltag und die Kommunikationsformen der Nähe nicht zu stören, oder sie wollten die Automobile gar im Tunnel verkehren lassen. Letzteres mag für U‐Bahnen und Stadtbahnen möglich sein, die auf engem Querschnitt viele Menschen befördern. Diese waren daher auch einigermaßen stadtverträglich zu organisieren. Die Trassen für Automobile waren so breit und der Aufwand für entsprechende Maßnahmen so groß, dass solche Pläne allein durch ihre hohen Kosten und die Unmöglichkeit, solche Baumaßnahmen zu finanzieren, dann doch das Gewicht demonstrieren, dass ihre Entwerfer der Erschließung der Ferne zumessen. Dass auch Hochstraßen oder Tunnels für Automobile technisch nicht ohne riesige Opfer städtischen Raumes und weitere Belastungen machbar sind, ist heute zudem bekannt.

Die neuen Verkehrsnetze für das Automobil aber, kaum dass sie sich durchsetzten, hatten auch bald noch den Effekt der Bestätigung ihrer Planer: Sie wurden im Augenschein der Betrachter relativ schnell von vielen Automobilen gefüllt. Zwar sollte es noch lange dauern, bis die ersten Außerortsstraßen in Deutschland Staus vermeldeten, aber in der Stadt schafften es die immer noch wenigen Automobile bald, ein Verkehrschaos an wichtigen Punkten zu produzieren. Während ein Fußgänger wenig Platz braucht, sich flexibel verhalten kann, braucht das Automobil viel Platz, bei schneller Fahrt aufgrund wachsender Abstände sogar immer mehr. Die anfangs wenigen Autos fielen aufgrund dieser Eigenschaft sowie des Lärms und ihrer schieren Größe im städtischen Umfeld viel stärker auf als Kinder, die nun nicht mehr im Vorgarten eines Hauses spielen konnten. Die Aufmerksamkeit richtete sich auf das Automobil. Die Planer und Architekten, die das Bild der künftigen Städte in ihren Visionen zeichneten, hatten zudem meist selbst Automobile und sie sahen die Stadt aus deren Fenstern: Der Blick daraus fiel im Wesentlichen auf Hindernisse für die freie Fahrt, auf Risiken aus ihrer Sicht, auf Kurven, Kreuzungen, Querverkehr, ob es denn Fußgänger oder andere Fahrzeuge waren. Die Forderung nach „mehr Platz“ wurde also von einer trügerischen Optik bestätigt, die für das Auto sprach, ein nicht zu unterschätzender Einfluss.

Es waren also räumliche Politik und räumliche Erfahrung, die das Auto voranbrachten. Fast alle Quellen, die die Geschichte des Automobils behandeln, vernachlässigen diesen Aspekt und die Verluste und Benachteiligungen durch die Umverteilung des Raumes in den Städten. Die vor Ort betroffenen Menschen begleiteten diese Entwicklung durchaus nicht mit dem Jubel, den die ersten Fahrzeuge an Rennstrecken auslösten. Diese konkreten Einschnitte wurden keineswegs freiwillig von den Menschen hingenommen,Footnote 59 doch auch die Geschichte dieses Protestes ist heute fast vergessen. Dennoch blieb dieser Protest keineswegs ohne Erfolge, wenn auch vor allem außerhalb der Städte: In dem Kanton Graubünden in der Schweiz bestand etwa von 1900 bis 1925 ein allgemeines Automobilverbot , das durch Volksabstimmungen regelmäßig bestätigt wurde. Den allgemein werdenden Verlust der Straße als Freiraum und ihre Umwandlung in eine Störungsquelle beeinflusste dies allerdings nicht.Footnote 60

Die Lösung, die die Fachleute den Menschen anbieten, ist in den Architekturvisionen bereits enthalten: Das spezialisierte und „ruhige Wohnen“ wird von der Straße abgewendet. Schon Mitte der 1920er‐Jahre entstanden die ersten Zeilenbauten, bei denen die Häuser nicht mehr einander zugewandt, sondern hintereinander ausgerichtet werden. Straßen zwischen ihnen kamen nicht mehr vor. Argumentiert wurde hier geradezu sozial – fürsorglich mit der gleichen Besonnung für die Hausbewohner. Angeknüpft wurde dabei an die seit Beginn des letzten Jahrhunderts aufkommende Lebenskultur des Bürgertums, die Natur und Sonne mit Gesundheit in Verbindung brachte. Die Beziehungen von Haus zu Haus werden bei hintereinander stehenden Häusern jedoch unterbrochen, bei zunehmender Länge der Häuser ist der Eingang eines fiktiven „Gegenüber“ nur mit Umwegen zu erreichen. Straßen waren, so wird es dann in der „Charta von Athen“ vorgegeben, unvereinbar mit Gehwegen und lokaler Kommunikation .Footnote 61 Dabei war die Straße über Jahrtausende geradezu durch Kommunikation definiert. Die stark von Le Corbusier beeinflusste „Charta von Athen“ trennt und verlagert den Autoverkehr entsprechend der Basisüberlegung einer funktionalen Stadt und trennt die Verkehrsarten auch untereinander. Dabei wird der „Schutz“ der Wohnenden vor den Verkehrsimmissionen , wie Lärm, betont. Tatsächlich kann aber die Verlagerung und Abtrennung des Verkehrs von den Siedlungen auch als Ausweichen aller anderen Funktionen in Reservate zwischen den Autoverkehrsstraßen gewertet werden. So gesehen kann der „Schutz“ auch als Alibi gesehen werden, das Automobil ungestört und schnell fahren zu lassen.Footnote 62

Dabei wird die Lektüre der „Charta von Athen“ häufig zur Überraschung für heutige Planer, die immer noch der Verlagerung des Autoverkehrs das Wort reden, und die dann in der Charta ein Werk sehen, das „weit vorausschauend“Footnote 63 gewesen sei oder die heutige Verkehrsberuhigung vorwegnehme. Dies zeigt jedoch nur, dass die oft geäußerte Meinung, eine Kritik an der „Charta von Athen“ sei heute „doch entbehrlich“, falsch ist. Tatsächlich sind viele Grundsätze in das heutige Denken und in das Planungsrecht eingegangen, und viele heutige angeblich „alternative“ Pläne sind den irrigen Grundsätzen der Charta ähnlicher, als ihre Autoren annehmen. Das gilt auch für den – im Gegensatz zu den Äußerungen über den Verkehr – weit bekannteren Grundsatz der Funktionstrennung in der Stadt.Footnote 64 Bis heute jedenfalls ist deutlich, dass eine wirklich kleinteilig in ihrer Nutzung gemischte Stadt viel weniger Automobilverkehr produziert als die der Charta entsprechenden „reinen Wohngebiete“.Footnote 65 Die Funktionstrennung schafft sich also einen Teil des Autoverkehrs selbst, den sie dann verlagert.

Wie sinnvoll ist aber überhaupt der Ansatz, Automobilverkehr um bewohnte Areale herum zu lenken? Zunächst einmal setzt er voraus, dass nicht überall gewohnt wird, vor allem nicht an Hauptstraßen. Bis heute ist es jedoch in den europäischen Städten nicht gelungen, die Forderung nach vollständiger Funktionstrennung durchzusetzen. Analysen zeigen: Selbst in Industriegebieten wohnen überraschend viele Menschen, und das ist eigentlich gar nicht so schlecht. Allein aus Gründen der Sicherheit sind Anwesenheiten auch in funktional getrennten Strukturen immer noch wesentlich. An vielen Hauptstraßen wohnen ebenfalls Menschen, gar an Stadtautobahnen. Selbst wenn es gelingt, die Hauptstraßen sozusagen zu isolieren – so wird es in der „Charta von Athen“ Anfang der 30er‐Jahre des letzten Jahrhunderts jedenfalls erträumt – muss der Verkehr ja auf diese Hauptverkehrsstraßen auf‐ und wieder abfahren. Es zeigt sich bis heute bei der Verkehrsverlagerung (etwa auf Stadtautobahnen), dass der Verkehr also parallel der neuen Entlastungsstraße vielleicht abnimmt, aber auf den Auffahrten und auf den Zuführenden, also dazu rechtwinkligen Strecken, noch weiter zunimmt. Ganz abgesehen davon ist natürlich mit all dem eine höhere Verkehrsfläche in der Stadt für die Automobile verbunden und es wird langfristig das Wachstum des Fahrzeugverkehrs stimuliert. Im Resultat dürfte es, wie bereits erwähnt, seit dem Beginn der „Strategie“ der Verkehrsverlagerung in den 20er‐Jahren des letzten Jahrhunderts nur ganz wenige Straßen geben, die wirklich langfristig die versprochene Abnahme des Autoverkehrs zu verzeichnen hatten.

Taktisch war diese Strategie der Verkehrsverlagerung – und der begleitenden Hierarchisierung und Verbreiterung des Straßennetzes – jedoch ein hochintelligentes Erfolgsmodell. Die Menschen befürworteten neue Straßen, wenn ihnen versprochen wurde, dass sie dadurch von Verkehr entlastet werden, und das wurde (und wird) von denen, die keinen Ausweg aus den steigenden Belastungen durch die Automobile sehen, oft auch geglaubt. Die entsprechenden Gedankengänge werden auch heute in der Regel noch bei Straßenneubauten diskutiert und setzen sich häufig durch.

Grundlage ist auch hier die wesentlich von Le Corbusier beeinflusste „Charta von Athen“. Sie besitzt einen eigenen Verkehrsteil von 14 Thesen und begleitenden Erläuterungen. Hier findet sich eindrucksvoll (These 63) die Illusion, dass alles im städtischen Raum besser würde, vom Spaziergang hin bis zur Durchfahrt der schnellen Autos, wenn dies nach einer „fundamentalen Reform des Verkehrs“ geschähe. Die Fernverkehrsstraßen, so heißt es „werden keinen Anlass haben, öffentlichen und privaten Bauten in die Nähe zu kommen“, sie sollen hinter „dichten grünen Hecken“ verschwinden. Dass dies ohne Nachteile nicht geht, hätte man wissen können und müssen, denn dieselbe Charta kritisiert die Abtrennung von Stadtvierteln durch Eisenbahnstrecken (These 58). Wenn schon die Bahnstrecken Stadtviertel abtrennen, was ist mit den vielen neuen Fernverkehrsstraßen hinter den „grünen Hecken“?

In der „Charta von Athen“ wird die Zukunft aber aus der Sicht der Automobilisten formuliert und ein Haupthindernis in den Mittelpunkt ihrer Argumentation gestellt, das wir schon kennen und das den Autofahrern schon seit jeher das Leben schwer machte: die Kreuzung. Schon der erste, dem Verkehr gewidmete Absatz in der Charta, These 51, bezeichnet das Straßennetz der Städte als „Summe von Verzweigungen“, in These 54 heißt es dann ganz klar: „Die Abstände zwischen den Straßenkreuzungen sind zu gering.“ Die Begründung ist rein technisch. „Die Bremse kann nicht brutal verwendet werden, ohne eine schnelle Abnutzung der wichtigsten Bestandteile zu verursachen.“ Die Bremse liefert also ein wesentliches Argument für die vollständige Veränderung der städtischen Straßennetze. Dass die kleinteiligen Kommunikationsnetze in den Städten vorher den Kommunikationsbedürfnissen der Bewohner dienten, spielt hier überhaupt keine Rolle. Auf die historisch gewachsenen und vielfältigen offenen Möglichkeiten, die die kleinteiligen Verkehrsnetze in Städten boten, wurde bereits hingewiesen. Kurz erwähnt werden muss hier aber auch noch die Erkenntnis moderner Kommunikationsforschung. Die Arbeiten von Vilém FlusserFootnote 66 über Kommunikationsnetze und die Fähigkeiten, die er kleinteiliger Kommunikation in offenen Netzen (Netzdialoge) zuschreibt, sind diesbezüglich deutlich. Er bezeichnet solche Dialoge, deren Basis ja auch ein adäquates Straßennetz im Alltag in Städten und Dörfern ist, als „Basis aller Kommunikation und damit des menschlichen Engagements gegen den Tod“. Änderungen der städtischen Kommunikationsnetze sind also nicht nur für Bremsgummis relevant.

Das Automobil bringt also nicht nur einen Verlust der Straße für die Menschen, sondern es entsteht eine völlig neue Netzkonfiguration in den bewohnten Siedlungen. Die Ausrichtung dieses Netzes auf die Ferne und den Fernverkehr wird täglich auch jedem sichtbar, der diese Netze nutzt, vor allem in den Städten. Dies gilt nicht nur für Deutschland. Die Veränderung der Netze ist für alle Menschen ein wichtiges Orientierungszeichen: Ihre lokalen Ansprüche und die Qualitäten vor Ort haben im Ernstfall gegen die Eroberung der Ferne zurückzustehen. Der schnellen Kommunikation gehört der Vorrang (in Deutschland die „Vorfahrt“) vor der langsamen Kommunikation des Alltags. Dies täglich für viele erfahrbare Bild hatte sicher auch eine große Wirkung, gerade wieder auch für die Attraktivität des Autos. Jeder konnte sehen, dass der Automobilbesitzer und der aus der Ferne kommende Mensch die für die Planer und leitenden Handelnden der Städte wichtigen Beziehungen darstellten, die gefördert wurden. Der Raum vermittelte eine Information, die eindeutig war. Die Ferne hatte Vorrang vor der Nähe, wer auf Letztere orientierte, war „rückständig“. Was in Rom oder New York passiert, ist wichtig, der Nachbar oder das Umfeld meines Hauses stehen dagegen zurück.

Die Einstellung, dass entfernte und globale Ereignisse für die dezentralen Räume ungeahnte und entscheidende Bedeutung haben, wird in der Phase der 30er‐Jahre des letzten Jahrhunderts und des Zweiten Weltkrieges dazu noch enorm gestärkt. Ob es die Weltwirtschaftskrise infolge eines Börsenzusammenbruches in New York ist, wegen der ein Arbeiter in einer deutschen Kleinstadt entlassen wird, oder ob es der Krieg selbst ist, bei dem aus entfernten Regionen kommende Nachrichten über Tod und Verletzung von Angehörigen entscheiden: Die Menschen werden in ihrer lokalen Nähe sehr stark von den Entwicklungen in der Ferne beeinflusst. Ja, teilweise müssen sie gar selbst – etwa vor dem deutschen Faschismus – in entfernte Orte fliehen, um das eigene Leben zu retten. Der Krieg und die Kriegsvorbereitungen selbst unterstreichen dabei in Deutschland vor allem die Rolle von Technik und Planung. Die Verkehrsnetze (anfangs meist noch die der Bahn), die Logistik , die Ersatzteile für Fahrzeuge und die Zuverlässigkeit von Fahrzeugen entscheiden in dem von den Faschisten schon vorher vorbereiteten Angriffskrieg die militärischen Gemetzel. Die anfänglichen Siege des nationalsozialistischen Deutschlands und seiner Verbündeten zeigten erneut die Stärke der schnellen räumlichen Verlagerbarkeit von Menschen und Material durch moderne Verkehrsmittel.

Vor allen Staaten demonstrierte dabei Deutschland eine enorme Stärkung der Planung, die nicht nur den Bereich der Kriegsvorbereitung, sondern auch der Schaffung von Verkehrsanlagen bis hin zu einer genauen Vorstellung über die Anlage von Ortschaften in den eroberten Gebieten ging (dies alles verbunden mit der Zerstörung „unpassender“ Orte und dem Mord an entsprechend „unpassenden“ Menschen). Die Autoren Gert Gröning und Joachim Wolschke‐Bulmahn zeigten bereits 1987 auf Footnote 67, dass die Entstehung der Landespflege und der Raumplanung in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg untrennbar verbunden ist mit dem SS‐Anführer und Massenmörder Heinrich Himmler und den für den „Drang nach Osten“ eingesetzten Planungsstäben. Spätere Informationen zeigen, dass die Verbindungen vieler Planer zur nationalsozialistischen Partei noch enger waren, als es diese Autoren damals belegen konnten.Footnote 68

In fast allen Erschließungsplänen, ob sie nun in Deutschland für den Aufbau neuer Städte in den eroberten Gebieten, oder über eine Renovierung der alten Städte gemacht werden, wird Abstand vom klassischen, durchlässigen Straßenraster mit vielen Kreuzungen genommen. Deutlich wird dies vor allem bei einem Planer und Architekten , der beim Wiederaufbau des Straßennetzes in der Bundesrepublik Deutschland und deren Veränderung nach dem Krieg eine erhebliche Rolle spielt: Hans Bernhard Reichow.

Hans Bernhard Reichow war ab 1934 Stadtbaurat in Braunschweig. Er wechselte 1936 nach Stettin in die Bauverwaltung und wurde dort 1939 Baudirektor. Reichow entwickelte für die Stadt und das Umland ein Siedlungsmodell, das in Siedlungszellen gegliedert ist. Das Siedlungsmodell enthielt mit dem so genannten „West‐Oder‐Band“ eine autoverkehrsgerechte, schnelle Bandinfrastruktur in Form von schnellen und gut ausgebauten Straßen. An diesem zentralen Band orientiert lagen Siedlungszellen, wie, so die bildhafte Vorstellung von Reichow, die Ortsgruppen der NSDAP an den Leitlinien ihrer Parteizentrale orientiert sind.Footnote 69 Das ganze System war streng hierarchisch aufgebaut.

Hans Bernhard Reichow trat 1937 in die NSDAP ein. Wie in ähnlichen Fällen wird auch bei Reichow oft wohlwollend angenommen, dies sei „für die Karriere erforderlich“ gewesen. „Eigentlich“ hätte er Differenzen zu den Nationalsozialisten gehabt. Beweise für diese oder andere Tatbestände gibt es nicht, allerdings lassen die Untersuchungen zu bereits genannten Fakten in der hervorragenden Arbeit von Katja Bernhardt andere Schlüsse zu.Footnote 70 Reichow selbst bezeichnete sich nachträglich als zu „modern“. Aber gerade in den 40er‐Jahren des letzten Jahrhunderts wurde der technisch/moderne Flügel in der NSDAP unter Albert Speer tonangebend, und Hans Bernhard Reichow gehörte zu dessen „Arbeitsstab Wiederaufbauplanung zerstörter Städte“. Im Entnazifizierungsverfahren stellte sich offenbar zusätzlich eine Mitgliedschaft in der SA heraus. Es gelang ihm aber, mit Leumundszeugen das Verfahren zu überstehen.

In den direkten Jahren nach dem Krieg wurde Reichow zu einem der öffentlichkeitswirksamsten Planer beim Aufbau der Städte in der neuen Bundesrepublik. Er übernahm seine Entwürfe aus den Kriegsjahren und erklärte sie neu. Was noch vor kurzer Zeit in seinen Werken ein Stadtaufbau nach dem Vorbild der Parteizellen der nationalsozialistischen NSDAP war, nannte er, obwohl in der Form und in den Ordnungsprinzipien ganz ähnliches herauskommt, erst „organisch“Footnote 71 oder später „autogerecht“Footnote 72. Die hierarchische Baumstruktur der Kommunikationsnetze ähnelte nach dem Zweiten Weltkrieg eben Blättern oder dem Blutkreislauf der Lunge.

Abb. 3.8
figure 8

Autogerechte Siedlung mit „organischem“ Erschließungsnetz. (Zeichnung: Jan Houdek, frei nach Hans Bernhard Reichow)

Die von Reichow entworfenen Netze waren keine Raster, sie enthielten auch keine Haupt‐ oder Vorfahrtsstraßen. In ihnen waren die für Motoristen unbequemen Kreuzungen nämlich tatsächlich völlig verschwunden. Reichow schlägt zudem in der Tradition der „Charta von Athen“ eine Trennung aller Verkehrsarten vor: Die Fuß‐ und die Radwege wurden getrennt von den Fahrstraßen geführt, dabei bildeten auch die Fußwege kein Netz, sondern waren in Baumstruktur angelegt.Footnote 73

Der Einfluss der Arbeiten Reichows, die vom Bauministerium in den ehemaligen „Westzonen“ der neu entstandenen Bundesrepublik Deutschland gefördert und in Lehrfilmen verbreitet wurden, wird von Fachleuten oft nicht hoch eingeschätzt. Tatsächlich war sein Einfluss jedoch enorm, vor allem was das Bild der Stadt anbetrifft: Seine Gleichsetzung der Städte mit einem menschlichen Körper, die Betrachtung des Verkehrs als „Blutkreislauf“ oder der Vergleich der Verkehrsinfrastruktur mit dem Saftsystem eines Baumes: Sie sind in die Alltagssprache, nicht nur in Deutschland, eingegangen. Die „Verkehrsader “ (englisch: arterial road), die verstopft ist, der „Verkehrsinfarkt “, nach dem Vorbild des Herzinfarktes, der dann die ganze Stadt zum Absterben bringen kann, dies sind Bilder, die mit auf Reichow und seine bildhaften Analogien zurückgehen.

Noch wichtiger für den Erfolg auch ähnlicher Ansätze im Ausland waren jedoch die klaren Hierarchien und Ordnungssysteme, die der Ansatz von Reichow beinhaltet: Die Ferne, die im Krieg so entscheidend war und die in der auf weltweiten Austausch zielenden Ordnung der Nachkriegsgesellschaft noch wichtiger zu werden scheint, dominierte in den Plänen Reichows, die Nähe hatte sich zu fügen. Durchgehende kleinteilige Netze für Fußgänger gab es in seinen Plänen praktisch nicht, ihre Wege waren untergeordnet und orientierten sich auf die nächste Bushaltestelle an der Hauptstraße. In die großen Verbindungen für Automobile wurde investiert. Kleinteilige Kommunikation wurde auf dazu reservierte Plätze verbannt, wo es jedoch an jedem Anlass fehlte. Dabei ist die Form der Netze – wie wir nicht nur durch die Arbeiten von Vilém Flusser wissen – für das Ablaufen von Kommunikation im Alltag entscheidend. Die Formen, die Reichow entwickelte, ähneln seinen Plänen, den Raum nach dem Vorbild von Ortszellen der NSDAP zu organisieren, in frappierender Weise. Es ging dabei eindeutig um Herrschaft über disperse Orte durch großmaßstäbliche Kontrolle.

Durch den Wegfall der Kreuzungen in der Erschließung sind die Wege vorgegeben, das Aufeinandertreffen durch Zufall gibt es nicht, das ständige „Fließen“ und die Reibungslosigkeit der Bewegung machen menschliche Auseinandersetzung nur geplant – und damit überhaupt kaum in der dafür notwendigen unabhängigen Form – möglich. Zudem fällt eine Kontrolle eines Quartiers von „außen“ leicht, wer einen Zugang besetzt, kann allen Export und Import des Quartiers registrieren oder aufhalten. Die formale Ähnlichkeit einer Verkehrserschließung mit einer Organisation einer faschistischen Partei ist nicht ganz folgenlos.Footnote 74

Gleiche Formen müssen nicht immer gleiche Ursachen haben. Dennoch: Dass sich, auch in anderen Netzen des Austausches, etwa im modernen Güter‐ und Warentransport, die Formen mit Ähnlichkeiten zu der von Reichow entwickelten Netzorganisation durchsetzen, macht nachdenklich. Und in der Tat: Auch unsere heutigen Gesellschaften zeigen eine starke Dominanz der Menschen, die weit, fern und schnell reisen über diejenigen, die sich lokal und regional bewegen. Auch heute noch erhalten Verkehrseinrichtungen, die in die Ferne wirken, seien es Autobahnen oder Flughäfen, viel größere Aufmerksamkeit als Organisation und Planung einer kleinteiligen Kommunikation auf Straßen und Plätzen.

3.4.4 Die Durchsetzung der entfernungsorientierten Planung in den 50er- und 60er‐Jahren des letzten Jahrhunderts – und die Isolierung der Anwohnenden in neuen fordistischen Siedlungsformen

Die Entscheidung für eine Orientierung der Siedlungen auf die Ferne war also keine automatische oder von den Menschen durch ihre „freie Entscheidung für das Auto“ erzwungene Entwicklung, der die Planer nur widerwillig nachgekommen waren. Nein: Planung und Bauen neuer räumlicher Organisationsformen liefen den tatsächlichen Entscheidungen der Menschen weit voraus. Die neuen Muster der Straßen und Siedlungen sind mit dem – erst später in der Soziologie geprägten – Wort „fordistisch“ recht gut beschrieben: Eindeutige Zuordnungen und „Befehlsstränge“ bestimmen auch die Produktionsorganisation des frühen Kapitalismus.

Die Grundformen der Städte in Europa waren von ihrer baulichen Form nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges immer noch auf kleinteilige Kommunikation angelegt, wenngleich – es wurde geschildert – Verkehrsregeln, Straßengesetze und der in der Regel staatlich finanzierte Straßenneubau bereits dem Automobil unendlich mehr Rechte gaben, als es seiner Bedeutung entsprach. Im traditionellen Netz wurden so bereits die künftigen Formen vorbereitet. Die Gelegenheit, durch breiten Abriss von Häusern und der Neugestaltung von Straßen auch in die bauliche Grundform der Erschließung radikal einzugreifen, war in Europa nach dem Ende des Krieges gegeben. Viele Städte waren im Krieg stark zerstört worden, dazu wurde die These eines erforderlichen „Neuanfangs“ geprägt, der sich in der Form der Städte auch materialisieren sollte.

In Deutschland wurde die Beseitigung der Zerstörung mit der – wie wir sehen werden: unwahren – Propaganda eines Neuanfangs oft kombiniert. In der Stadt Kassel etwa, deren Innenstadt durch einen Luftangriff am 22./23. Oktober 1943 durch englisch‐amerikanische Bombenflugzeuge stark zerstört wurde, taten die Planer alles, um noch mehr Häuser, als ohnehin zerstört waren, für abrissreif zu erklären, vor allem wenn sie dem Straßenausbau im Wege standen. Gleichzeitig eröffnete man eine Ausstellung unter dem Titel „Kassel baut auf“ mit einem „großen Festakt“. Die Fälschungen und teilweise offensichtlichen Lügen, die dabei benutzt wurden, wurden jedoch aufgedeckt.Footnote 75 Es wurde deutlich, dass die Zerstörungen übertrieben wurden, wenn sie an Stellen waren, an denen sie den neuen Grundrissen im Wege standen, um „störende Bauten“ wegreißen zu können. Auch die These vom „Neubeginn“ flog auf und zwar in einer Art und Weise, dass die Planer ihre Ausstellung schließen mussten. Die ausgehängten Pläne erwiesen sich als zum Großteil völlig identisch mit den bereits vor der Zerstörung der Stadt erstellten Visionen einer faschistischen „Gau‐Hauptstadt Kassel“. Dabei waren offensichtlich führende Planer der in den vorigen Kapiteln bereits erwähnten Wiederaufbaugruppe, die vom späteren Rüstungsplaner Speer eingesetzt war, beteiligt, wie etwa Konstanty Gutschow oder Hans Bernhard Reichow. Die Personen vor Ort waren – für Deutschland nicht untypischFootnote 76 – ebenfalls die gleichen, die schon in der Zeit der nationalsozialistischen Stadtverwaltung für die Planung zuständig gewesen waren.Footnote 77

Nachdem die öffentlichen Reaktionen die unmittelbare Umsetzung der alten Pläne verhindert hatten, fand in Kassel ein Wettbewerb bekannter Ingenieure um den neuen Stadtgrundriss statt. Nach einigem Hin und Her entstand ein Plan, über dessen Grad der Ähnlichkeit mit dem faschistischen Entwurf man vielleicht streiten kann, der aber dessen Hauptelemente im Prinzip nur leicht verschleiert aufnahm und die historische Form der Erschließung völlig veränderte.

Die wesentlichen Bestandteile der Änderungen wurden in den vergangenen Kapiteln bereits beschrieben. Es verschwanden Kreuzungen in großer Zahl, das gesamte Netz wurde „weitmaschiger“. An Stellen, wo noch alten Straßengrundrissen gefolgt wurde, wurden die ehemaligen Kreuzungen einfach „abgeschnitten“.

Abb. 3.9
figure 9

Die Kölnische Straße in Kassel: Nach Fertigstellung des Innenstadtrings wurde die vorher durchgehende Straße im Bereich des Scheidemannplatzes zur Sackgasse. (Foto: Swen Schneider)

An einer breiten, achsenähnlichen Hauptstraße wurde die Nebenstraße zur Sackgasse. Dass sie einmal über die Hauptstraße hinüberführte, verrät heute manchmal noch der identische Straßenname auf beiden Seiten der so geschaffenen „Durchgangsstraße“. Diese wird nun zu einer Art innerstädtischer Autobahn, die mit der Bebauung kaum noch etwas zu tun hat. Die ehemalige Straße wird zum reinen Durchgangsort.

Die Ideen, wie sie LeCorbusier formuliert hatte, der lange gerade Straßen forderte, auf denen man nicht bremsen muss, wenn man Auto fährt, zeigten sich zunehmend in der Form der Straßennetze. Freilich änderte dies nicht nur die Netze für die Automobile, sondern auch für die Fußgänger und Fahrradfahrer. Und es veränderte radikal die Beziehung der Häuser zur Straße. Wo diese Häuser neu errichtet wurden, um die Wohnungsnot nach dem Kriege zu lindern, wurden sie in Form der Zeilenbauweise rechtwinklig von den Straßen abgewendet. Auf den Straßen dominierte bald in noch eindrucksvollerer Weise als vor dem Krieg das Automobil. In Deutschland wurden schließlich im Jahre 1953 alle existierenden Geschwindigkeitsbeschränkungen für Automobile aufgehoben, auch innerorts. Die faschistische Administration, die eigentlich, wie die vergangenen Kapitel zeigten, stets ein Anwalt der „freien Fahrt“ gewesen war, hatte 1939 Begrenzungen der Höchstgeschwindigkeiten einführen müssen. Grund war neben allgemeiner Treibstoffknappheit auch die Bereifung der Fahrzeuge mit „Buna‐Kunststoffreifen“, die man wegen mangelnder Verfügbarkeit von Kautschuk produzierte, und die nur begrenzte Geschwindigkeiten verkraften konnten. Im Jahr 1939 wurden also nur aus einer Notlage heraus die Höchstgeschwindigkeiten außerorts auf 100 km/h (Pkw) und 70 km/h (Lkw) begrenzt, innerorts lagen die Geschwindigkeiten zwischen 40 und 60 km/h. 1953 wurden nun alle diese Begrenzungen abgeschafft, teilweise gar mit dem Argument, hier würde ein „Nazi‐Gesetz“ beseitigt. Die nach dem Zweiten Weltkrieg anfangs wenigen Automobile verbreiteten also sofort eine recht große Gefahr, aber erst nach vier Jahren und vielen Toten auf Straßen in den Städten und Dörfern kam es im Jahre 1957 in Deutschland zu einer Begrenzung der Geschwindigkeit innerorts auf 50 km/h.Footnote 78

Besonders die Gefährdungen durch die Autos bildeten dann eine wesentliche Grundlage, es noch weiter zu bevorrechtigen. Fußgänger und Fahrradfahrer gehören nicht an solche schnell befahrenen Straßen, sie müssen zur Not Umwege in Kauf nehmen, durch einen Tunnel oder über Brücken ihr Ziel erreichen. Dies war ein Kerngedanke von Hans Bernhard Reichow. Er wurde mit der Abhandlung zur „autogerechten Stadt“, die in Deutschland vom zuständigen Bauministerium als quasi offizielle Leitlinie herausgegeben wurde, zum institutionell gestützten Theoretiker der neuen Stadtplanung.Footnote 79

Obwohl Reichow in vielem, etwa seiner Gleichsetzung der Stadt mit Blättern, Bäumen oder dem menschlichen Blutkreislauf, fast kauzig wirkt, sollte man seinen Einfluss nicht unterschätzen. Er fertigte – sehr verbreitete und auch in den Schulen schon den Kindern gezeigte – Filme über seine Theorie an, nach der die Stadt nicht, wie seit Jahrtausenden, rasterförmig erschlossen werden sollte, sondern eben hierarchisch, von breiten Hauptverkehrsstraßen ausgehend hin zu verzweigten Formen, die am Ende in Sackgassen schließen.

Das Konzept der Baumstruktur für neue Stadtviertel wurde in fast ganz Europa üblich, und es ist sicher kein Zufall, dass es den hierarchischen Abläufen in den Wirtschaftsbetrieben der damaligen Zeit entsprach. Die 1965 entstandene Arbeit des Städtebauers Christopher Alexander mit dem Titel „A city is not a tree“Footnote 80 versuchte in fast schon verzweifelter Weise gegen diese Entwicklungen und ihre immer weiter andauernde Realisierung Protest einzulegen. Ohne Probleme kann man heute – nicht nur in Deutschland – in der Regel schon vom Grundriss und der Anordnung der Straßen her erkennen, ob ein Stadtteil vor den 50er‐Jahren des letzten Jahrhunderts oder danach entstand.

Hierarchische Straßennetze entstehen also nicht zufällig. Wesentliche Elemente des Zukunftsglaubens Mitte des letzten Jahrhunderts sind in dieser Ordnungsvorstellung enthalten. Nicht nur die lange, gerade Straße als Symbol der Richtung der Siedlung auf die Entfernung und des Triumphes der Geschwindigkeit über den Raum, auch die schrittweise Abstufung (etwa entsprechend von Hierarchien am Arbeitsplatz) der Rangfolgen bis hinunter zum (unbedeutenden) Weg im Nahbereich des Hauses lassen erkennen, dass technologischer Fortschrittsglaube und die Organisation der arbeitsteiligen, hierarchischen Industrieproduktion sich räumlich materialisieren.

Eine weitere, in den sich herausbildenden Stadtformen klar werdende formale Regel ist die Abkehr der Häuser von der Straße.

Die Zeilenbauweise setzte sich in den Neuplanungen durch, beim Herausgehen aus ihren Häusern blickten die Menschen nun nicht mehr auf die Vorderseite des gegenüberliegenden, sondern meist auf die Rückseite eines anderen Hauses. Der Eindruck der Vereinzelung der Wohnstätten ohne die Verbindung durch eine Straße drängt sich vor allem auch in Einfamilien‐Wohnhausgebieten auf.Footnote 81 Eine Vereinzelung, die der Situation des Industriearbeiters am Band entspricht. Das Prinzip der industriellen Arbeitsteilung wurde auch im Verkehrsablauf zum Vorbild. Die „Trennung“ der Verkehrsarten, also die Optimierung von Fuß‐ und Radwegen getrennt von der Fahrbahn der Automobile, wurde angestrebt. Dass die Einheit von Haus, Straße, Gehweg und Bebauung Sinn macht, dass ein von der Fahrbahn abgetrennter, etwa gar in einen Tunnel geführter Gehweg nachts jeder Sicherheit durch potenziellen Kontakt mit Fahrzeugführern entbehrt, geriet aus dem Blick.

Es war nicht nur die in Deutschland von Reichow propagandistisch eingesetzte Analogie zum Körper oder zu Bäumen, die dem Konzept eines hierarchischen, auf große Distanz setzenden Erschließungssystems der Verkehrsorganisation der Städte den Weg freimachte. In den USA entstanden entsprechend der dort herrschenden Bedingungen eines modernen Kapitalismus, ganz ähnliche, noch weit mehr auf Distanz setzende Formen der Erschließung. Dies geschah relativ unabhängig von den Entwicklungen in Deutschland und Europa bei einer stärkeren Akzentuierung und Beteiligung industrieller Interessen.

Christopher B. Leinberger schildert in seiner Arbeit „The option of urbanism“ eindrücklich, wie in den Sommermonaten 1939 und 1940 eine Weltausstellung in New York den Menschen eine Welt von morgen in Form eines „Futurama“ präsentierte. Vorbereitet und beeinflusst von führenden Vertretern der Moderne wie Le Corbusier, Walter Gropius, Mies van der Rohe und Ludwig Hilberseimer wurde der Hintergrund für die Präsentation dieses Zukunftsbildes geschaffen.Footnote 82 Der große Sponsor der Ausstellung war die Firma General Motors.Footnote 83 Gezeigt wurden die „Stadt von Morgen“ in Form von riesigen Panoramen, Blicke aus der Vogelperspektive und eine Straßenkreuzung im 1:1‐Format. Trennung der Verkehrsarten, Erschließung durch zentrale „Verkehrsadern“ und ein mit alleinstehenden Einfamilienhäusern gefülltes Umland wurden den staunenden Besuchern in eindrücklicher Weise und mit für damalige Zeiten enormem medialen Aufwand präsentiert. 55 Millionen Besucher hatte die Ausstellung am Ende aufzuweisen. Durch diese und durch das gewaltige Medienecho waren diese Zukunftsvorstellungen Menschen in den USA noch über Jahre präsent. Diese Zukunftsvision und entsprechende Interessens‐ und Kapitalverflechtungen beeinflussten natürlich Wahlprogramme und die Zukunftsvorstellungen von Politikern. Die Investitionen in die Realisierung des präsentierten Zukunftsbildes, also ein vom Staat errichtetes weiträumiges Straßennetz , schufen in den Vereinigten Staaten über Jahrzehnte eines der größten Machtzentren neben dem militärisch bestimmten Komplex. Leinberger schildert eindrücklich, wie in das neue Bild der Landschaft Milliarden investiert wurden. Es entstand ein Interessengeflecht von Staat und Wirtschaft, das die ständige weitere Ausweitung dieses Netzes und dessen Aufrechterhaltung betreibt.Footnote 84

Es wurde also nicht nur in Deutschland und Europa eine Entwicklung eingeleitet, die auf die Ferne zielte. Das Übertragen der Logik industrieller Arbeitsteilung auf den Raum wurde auch in den Vereinigten Staaten von Amerika als völlig selbstverständlich propagiert. Nicht nur die Industrie, auch ein zunehmender staatlicher Machtblock war aktiv, der sich um Bau‐, Verkehrs‐ und angelagerte Wirtschaftsministerien scharte, aber auch eigene Machtzentren wie die Highway‐Administration in den USA hervorbrachte. Es war also nicht nur der Faschismus, der den Drang in die Ferne propagierte, auch die Logik des Industriesystems beförderte ihn enorm. Die Verbindung der Investitionen in den Verkehr zu den Kernbegriffen des Kapitalismus wie „Wachstum“ und „Wohlstand“ trieb sie weiter an. Dabei ging der Aufstieg der Ingenieure in ihrem Einfluss auf die Gestaltung der Alltagswelt der Menschen, der mit dem Aufstieg des Automobils einherging, immer weiter, und dies in der Regel ohne jegliche demokratische Kontrolle.

Dies soll wieder am Beispiel von Deutschland gezeigt werden, wo in den 50er und 60er‐Jahren des letzten Jahrhunderts so genannte „Generalverkehrspläne“ entstanden, die die Zurichtung der Städte für das Automobil mit immens starken Eingriffen, wie man sie in den europäischen Städten in ihrer Geschichte noch nicht erlebt hatte, vorantrieben.

3.4.5 Der Ausbau des Straßennetzes

Die Ausbaupläne des Straßennetzes waren in den Städten in Deutschland nur zu realisieren, wenn große Teile der Stadtgrundrisse mit – teilweise massiven – Eingriffen in die Bebauung und die privaten Grundstückparzellen verändert wurden. Die Bombenschäden des Zweiten Weltkrieges waren in vielen Fällen ein Vorwand, wie bereits am Beispiel der Stadt Kassel gezeigt, um diese Veränderungen umzusetzen. Aber dies allein reichte nicht aus, den oft starken Widerstand der Bevölkerung gegen die Pläne zu brechen. Die autoorientierte Zukunft wurde daher nicht nur mit Lehrfilmen des Planers Reichow verbreitet, sondern durch Ingenieure und Techniker in Form von mathematisch aufgebauten Wohnumfeldmodellen der künftigen Wirklichkeit zum Sachzwang erhoben. Die in den USA entwickelten Prognosemodelle, die aus einer künftigen Landnutzung („land‐use“) den erwartenden Verkehr ableiteten, wurden von den deutschen Verkehrsingenieuren aufgenommen und für deutsche Städte in leicht veränderter Form angewendet.

Die in den 50er und 60er‐Jahren des letzten Jahrhunderts in den USA und Deutschland allmählich durchgesetzten Modelle der Prognose des künftigen – in aller Regel wird nur der Automobilverkehr behandelt – Verkehrs bestehen aus recht einfachen Gleichungssystemen. Aufgrund von statistischen Analysen (multiple Regression) werden simple, über lineare Zusammenhänge kaum hinausgehende Relationen zwischen Automobilfrequenzen auf Straßen und der Einwohnerentwicklung (kombiniert oft mit Strukturen wie Einkommen oder Automobilbesitz) in der Vergangenheit ermittelt und auf imaginierte oder konkret geplante künftige Zustände übertragen.

Insgesamt wurde im Laufe der Zeit ein vierstufiger Ansatz für diese Prognosemodelle entwickelt. In einem ersten Schritt wird die aus einem Untersuchungsgebiet (einem relativ abgeschlossenen Gebiet mit einem Radius von je nach Genauigkeit mehrere 100 m oder mehr), das auch „Verkehrszelle“ genannt wird, herausentstehende Menge des Verkehrs ermittelt. Dann wird (wenn überhaupt ein anderes Verkehrsmittel als das Automobil betrachtet wird) dieser Verkehr auf unterschiedliche Verkehrsarten aufgeteilt.Footnote 85 Danach wird der Verkehr zwischen den einzelnen „Zellen“ berechnet, wobei einige Modelle eine Analogie zur Gravitationstheorie Newtons für ihre Berechnung herstellen. Als letzter Schritt werden die so berechneten Verkehrsmengen zwischen den „Verkehrszellen“ auf die existierenden oder geplanten Straßen aufgeteilt (als Verkehrsaufteilung oder „Routen‐Split“ bezeichnet). Die Resultate der Modelle werden optisch eindrucksvoll als „Balkenplan“ der „Verkehrsbelastung“ (s. folgende Abbildung) demonstriert.Footnote 86

Abb. 3.10
figure 10

Balkenplan aus einem Generalverkehrsplan der Stadt Kassel. (Grafik: Stadt Kassel 1988; grafische Nachbearbeitung: Swen Schneider)

Die Verkehrsingenieure der 50er und 60er‐Jahre des letzten Jahrhunderts waren in Deutschland in aller Regel ausgebildete Bauingenieure, die im Krieg im Bereich der Logistik oder bei der Konstruktion und Ausführung von Bunkern oder anderen Kriegsbauten ihre Erfahrungen gesammelt hatten. Dies war auch in anderen Ländern durchaus üblich, so war etwa der in den 1960er‐Jahren tätige und später hier noch erwähnte Sir Colin Buchanan, der die Planung in Großbritannien (mit Einfluss weit darüber hinaus) wesentlich prägte, Pionier in der britischen Armee gewesen. Allerdings war in Deutschland dabei eine Nähe vieler Planer zu ehemaligen faschistischen Organisationen gegeben (etwa der „Organisation Todt“). Gegen einen der einflussreichsten Ingenieure, den Stuttgarter Professor Kurt Leibbrand, wurde in den 60er‐Jahren des letzten Jahrhunderts ein Prozess wegen Kriegsverbrechen geführt.Footnote 87

Allen Plänen des Verkehrs gemein war die Logik des Denkens aus der Statik von Bauwerken, ein Gebiet, auf dem die Planer im Krieg oft Erfahrungen gemacht hatten. Einer „Belastung“ eines Balkens in einem Haus oder eines Trägers in der Decke eines Bunkers muss ein entsprechend groß dimensionierter Querschnitt dieses tragenden Elementes entsprechen, sonst bricht das Bauwerk ein. Auf den Verkehr übertragen heißt dies, dass einer „Belastung“ – die der gerade erwähnte „Balkenplan“ anzeigt – eine größere Dimension der Straße folgen muss. Nach dieser Logik ist die „Unterdimensionierung“ einer Straße, also deren zu schmale Anlage, gleich bedeutend mit dem „Zusammenbruch“ der Stadt, wie eben auch ein Bauwerk bei Überlastung zusammenbricht. Mit diesem „Zusammenbruch“ wird dann auch der ökonomische Kollaps des Ortes als Vision verbunden, damit entsteht der Zwang zum Handeln.

Mittlerweile ist wissenschaftlich bekannt, dass ein Denken in dieser Art von „geschlossenen Modellen“ zwar einleuchtet, aber auch gleichzeitig gegen Kritik abschottet und Reflexion verhindert.Footnote 88 Entsprechend überzeugt gingen die Beteiligten ans Werk, bestärkt noch durch die sonstigen Rahmenbedingungen. Es galt damals als feststehende Grundüberzeugung, dass technischer Organisation die Zukunft gehöre, dass diese wertfrei und unabhängig vom politischen System positiv für alle wirke, und dass die Maßnahmen daher mathematisch notwendig und zwanghaft zu realisieren und umzusetzen seien.Footnote 89 Wie ungestört optimistisch die planenden Ingenieure waren, zeigen die Zeithorizonte, in denen sie dachten: Oft ist es das Jahr 2000, auf das sich Prognosen und Erwartungen konzentrieren, ein Horizont von etwa 40 Jahren, der sich später immer weiter reduzieren sollte (das Jahr 2000 bleibt lange ein üblicher Endpunkt von Prognosen).

Die „Verkehrsbelastungen“, die die „Balkenpläne“ anzeigen, machen, und das erscheint isoliert technisch gedacht unvermeidlich, eine größere Dimension der Straßennetze erforderlich, sodass diese den „Belastungen gewachsen sein müssen“ oder sie „bewältigen“ sollen.

In Deutschland entstanden vor diesem Hintergrund eine große Anzahl so genannter „Generalverkehrspläne“,Footnote 90 die einen großflächigen Umbau der Städte einleiteten, da auf dieser Grundlage umfangreiche Baumaßnahmen für große Verkehrsinfrastruktur auch in innerstädtischen Lagen geplant wurden. Diese Pläne wurden in der Regel als technische Vorgabe von den Kommunen akzeptiert, ohne dass eine intensive Bürgerbeteiligung stattfand. Im Gegensatz zu den Planungen von Bauten und Baugebieten, die in Flächennutzungs‐ und Bebauungsplänen in Deutschland öffentlich und rechtlich der Kontrolle unterliegen, sind die Generalverkehrspläne bis heute fast jeder demokratischen Kontrolle entzogen. Oft werden sie den gewählten Stadträten nur präsentiert und gar nicht beschlossen. Dennoch dienen sie der Verwaltung als Richtlinie des Handelns. Sie sind sozusagen Vorgaben von Fachleuten, und an deren Aussagen gibt es wenig Zweifel. Dennoch gab es Widerstand gegen den Umbau der Städte, der in seinen Folgen einer zweiten Bombardierung gleicht, und vor allem in den eher konservativen Teilen Deutschlands setzten sich – zumindest in einigen Innenstädten – Pläne durch, die zumindest die alten Straßengrundrisse und Parzellen erhielten.

In dieser Situation wurde schließlich ein „Kompromiss“ gesucht, der einerseits noch etwas von den Städten bewahrte, andererseits den Abriss von Gebäuden und eine grundsätzlich neue Organisation des Straßennetzes ermöglichte. In einer in jeder Art zeitgemäßen Form zeigte sich diese Lösung, die aber, wie sich zeigen wird, keine ist, in dem Gutachten „Traffic in towns“, einer britischen, von der Königin eingesetzten Enquête‐Kommission. Die Leitung hatte der im Zweiten Weltkrieg als Pionier der britischen Armee tätige Colin Buchanan.

Buchanan perfektionierte die Prinzipien der Verkehrsverlagerung und der Trennung der Verkehrsarten. Die Hoffnung auf „Ruhe vor dem eigenen Haus“ und gleichzeitig auf freie Fahrt durch konzentrierte Straßennetze und neue Straßen wurde in dem britischen Gutachten verbunden. Buchanan „erfand“ so einerseits die heutige Verkehrsberuhigung in Form von „environmental areas“ und andererseits gleichzeitig die bei den heutigen Städten weltweit gar nicht mehr wegzudenkenden Stadttangenten.

Ein Artikel der Neuen Züricher Zeitung beschreibt am 29. April 1964 beeindruckt die Grundlagen der Konzeption: Um die Innenstädte herum wird ein – möglichst kreuzungsfreies – System von Tangenten gelegt, Kreuzungen werden generell durch die Bildung von Verkehrszellen, an deren Grenzen die Straßen als Sackgassen enden, vermieden. In den „Zellen“ soll es ruhig zugehen, da auf diese Weise auch Fremde nur schwer hineinkommen. Die größte „ruhige Zone“ ist die Fußgängerzone, ein Einkaufsareal, das von großen Parkhäusern umgeben ist. Diese werden von den „Tangenten“ aus angefahren.

Abb. 3.11
figure 11

Hierarchisches Ordnungsschema von Verteilerstraßen nach dem Vorschlag des britischen Verkehrsplaners Sir Colin Buchanan. Darstellung ohne Erschließungsstraßen. (Zeichnung: Swen Schneider nach Sir Colin Buchanan)

Hervorstechend an dem Konzept ist, wie es auch die Neue Züricher Zeitung bemerkt, die völlige Neugliederung des historisch entwickelten Straßennetzes .Footnote 91 Die Neugliederung des Netzes mit Tangenten („Hauptarterien“), Sammelstraßen und Quartiererschließungsstraßen soll „funktionsgerecht“ sein. Das gesamte Bild, das hier vor unseren Augen erscheint, ist das einer „Maschine“, die Stadt heißt, und deren „Kreislauf“ durch technische Maßnahmen, die von Fachleuten entworfen werden, gesteuert wird. Da ist es kein Zufall, dass eben mit Sir Colin Buchanan ein Pionier mit Erfahrung im Krieg mit der Lösung des so bezeichneten „Verkehrsproblems“ herangezogen wurde.

Die Logik der Lösung ist entsprechend: Brücken oder Tunnel werden gebaut. Wie bei einem Flussübergang der Pioniere geht es vor allem darum, möglichst alles immer gleichförmig und geregelt in Bewegung zu halten. Das bedingt, Störungen eines Systems durch ein anderes auszuschalten. Daher werden Fußgänger und Radfahrer getrennt von den Automobilen durch die Stadt geleitet.Footnote 92 Geleitet wird in der Tat fast alles: Die Bewohner selbst sind es nicht mehr, die über ihre Straße und deren Nutzung Kompetenz haben. Im Sinne eines umfassend definierten Interesses für das „Funktionieren“ der Stadt wissen die Experten viel besser, welche Rolle eine Straße zu spielen hat, als die Anwohner selbst. Jedem wird sein Platz zugewiesen, wie im Kino. Auch die Fußgänger haben ein „Reservat“, die Fußgängerzone . Natürlich mit Parkhäusern um diese herum, denn auch der Fußgänger kommt mit dem Automobil. Der Gedanke, dass der am Wohnstandort basierende vielfältige Austausch zwischen Menschen Teil des Verkehrs ist, ist damit Geschichte: Zu Fuß gehen und unterhalten wird zum szenarischen Beiwerk des in der Fußgängerzone konzentrierten Einkaufs.

Die Logik, die von dem britischen Gutachten verfolgt wird, führt dabei in eine immerwährende Wachstumskurve der Flächen für das Automobil. Um bestimmte Teile der Stadt „ruhig zu halten“, werden in anderen Teilen die Straßennetze erweitert. Gleichzeitig wird durch diese Erweiterung das Automobil als Verkehrsmittel immer attraktiver. Um in das verbesserte Netz für die Automobile zu gelangen, fahren natürlich auch mehr Fahrzeuge auf den Nebenstraßen, oft auch mal auf Umwegen, denn der direkte Zugang wurde ja der Kreuzungsfreiheit geopfert. In der Folge sollen dann immer neue Straßen gebaut werden, um auch die Nebenstraßen „ruhig“ zu halten. Tangente folgt auf Tangente und Städte mit drei und mehr Tangenten um sie herum sind heute keine Seltenheit.

„I was wrong“, diese drei Worte sprach der gealterte Sir Colin Buchanan in den 1990er‐Jahren auf einer Konferenz der britischen Planerorganisation PTRC. Er habe sich den Autoverkehr auf den Hauptverkehrsstraßen so vorgestellt, wie er mittlerweile in den beruhigten Verkehrszellen leider geworden sei. Das war eine Äußerung, die heute noch wenige erreicht hat.

Immer noch wird die Verlagerung des Verkehrs aus „Wohngebieten“ durch neue Straßen gepredigt, immer noch wird der ständige Fluss des Autoverkehrs als Ideal der „funktionierenden Stadt“ oder gar eines „funktionierenden Landes“ ausgemalt.Footnote 93 Es ist die falsche Grundlogik, der die Planer der 1950er und 1960er‐Jahre verhaftet sind, die in eine völlige Fehlentwicklung städtischen Lebens führt. Verkehr war einst eine in die Straße vor dem Haus eingebundene Angelegenheit, die das Leben begleitete, er wird nun zum „Feind“, zum Durchgangsverkehr, der zu neuem Straßenbau, möglichst aber nicht vor der eigenen Tür, führen muss. Das Raster der Wege in der Stadt – eine Qualität für den, der zu Fuß geht – wird zu einem System von Sackgassen.

Abb. 3.12
figure 12

Stadtautobahnring um den Stadtkern der mittelenglischen Stadt Coventry. Für Fußgänger und Radfahrer ist es nur an wenigen Stellen – entweder über Brücken oder durch Unterführungen – möglich, diese überdimensionierte Straße zu queren, um in die Innenstadt zu gelangen. (Foto: Swen Schneider)

Gab es wirklich, um eine später in der Geschichte übliche Phrase zu gebrauchen, „keine Alternative“? Wer sich heute nach einigermaßen lebenswert gebliebenen Städten umsieht, findet etwa in Europa solche mit, aus welchem Grund auch immer, noch teilweise erhaltenem Straßenraster. Da gibt es die sehr große Innenstadt des italienischen BolognaFootnote 94, die, wenn auch von einer Ringstraße und einer weiteren Tangente umgeben, die Qualität und ökonomische Attraktivität einer Rasterstadt zeigt, da gibt es Barcelona in Spanien. In Deutschland sind etwa die gründerzeitlichen Vorstädte in Bremen, das ansonsten auch durchaus fürchterliche Fehlplanungen zeigt, und auch die Innenstadt von FreiburgFootnote 95 zu nennen. Es ist allerdings, angesichts des weltweit kopierten Musters der Stadtorganisation nach Buchanan schwer, wirklich umfassende Gegenmodelle zu finden. Stattdessen zeigen die werkgetreuen Beispiele deutlich die Schwächen des „Modells“, Städte wie Kassel in Deutschland oder Coventry in Großbritannien sind Orte, deren Innenstädte nur noch monofunktionale Ödnisse des Einkaufens sind. Die Bewohner erreichen diese kaum noch zu Fuß. Es ist schwierig, über die Tangentenstraße hinweg in die Innenstädte zu gelangen, an einigen Punkten existieren immer noch Fußgängertunnel, die mehr als unangenehm zu passieren sind. Die Städte in Europa mit einem wenigstens einigermaßen erhaltenen Straßenraster sind dagegen keineswegs zusammengebrochen, wie die Planer der 1950er‐Jahre prophezeiten. Lebendigkeit und Vielfalt sind in ihnen weit eher zu finden, die Staus der Automobile sind weitgehend unabhängig von der Form und dem Ausbau des Straßennetzes.

Das Konzept, das Sir Colin Buchanan in dem Gutachten formuliert, wurde mit wenigen Varianten dennoch sehr breit durchgesetzt. Die Veränderung der Organisation der Straßennetze in den Städten seit den 1950er‐Jahren wird gegenüber anderen Faktoren der Veränderung der Städte in ihrer Tragweite gewöhnlich unterschätzt. Das zeigt allein schon der Tatbestand, dass noch heute der Bau von Tangenten, Entlastungsstraßen und die Anlage von – vom Rest der Stadt weitgehend abgetrennten – beruhigten Quartieren zum Wohnen zum gängigen Repertoire der Stadtplanung gehört. Zusammen mit der Funktionstrennung in der Stadt und einer am Vorbild der Industrie orientierten, auf Wachstumsprognosen gestützten Zukunftsvision bildet die Neuorganisation des Verkehrsnetzes eine ganz wesentliche Veränderung der Stadt für ihre Nutzer.

Strategisch wird diese Neuorganisation mit dem Versprechen der Entlastung betrieben. Die offensichtlichen Verluste der Städte an Bauten, Erholungsflächen und historischen Grundmustern werden dadurch ermöglicht, dass den Bürgern erzählt wird, die Folgen der Motorisierung würden sie nicht treffen, wenn sie nur dem Straßenbau generell (und in der Regel an anderen Orten) zustimmen würden. Die bis dahin in den Städten vorhandene Rückkopplung der Folgen des Verkehrs auf den Ort und die eigene Straße ist damit aufgehoben. Der Bürger soll und muss sich um das Wachstum der Anzahl der Automobile nicht kümmern, jeder und jede kann selbst viel fahren, es bleibt vor der eigenen Haustür die Aussicht auf ein „beruhigtes Quartier“.

Der weitere wesentliche Effekt der Planung einer veränderten und großräumigen Stadtorganisation ist der Entzug der Verfügung der Anwohnenden über die Straße. Neben der Tatsache, dass viele Häuser gar nicht mehr an einer Straße stehen, entweder, weil sie dort gar nicht geplant wurden, oder weil eine neue Straße (oder besser Autobahn) ohne Rücksicht auf Bauten durch die Stadt führt, ist es nun grundsätzlich so: Über die Rolle und Funktion einer Straße entscheidet ein Ingenieur, der die „Maschine Stadt“ in Betrieb hält. So wird die Straße vor dem Haus vielleicht Sackgasse oder aber eine zentrale Achse, je nachdem, wie die Ingenieure es entscheiden.

Durch die Einteilung in „Zellen“ und beruhigte Bereiche werden völlig neue Formen von Quartieren geschaffen, die, umgeben von zentralen „Adern“, wie Inseln in einer zerstückelten Stadt liegen. Es ist klar, dass dabei der unmittelbare Kontakt und die Auseinandersetzung der Menschen untereinander, die auf der Bewegung zu Fuß wesentlich aufbaut, stark gestört werden.

3.5 Soziale Aspekte der Organisation von Stadt und Verkehr

Für soziales Zusammenleben ist sicher die Selbstbestimmung der Menschen über ihr Umfeld eine wesentliche Voraussetzung. Also muss darüber nachgedacht werden, wie eine Siedlung und ihre Entwicklung durch die Bewohnerinnen und Bewohner selbst gesteuert werden könnten oder nicht. Es handelt sich um den grundlegenden Zusammenhang von Stadt und Demokratie oder anders gesagt um die Frage, ob in einer bestimmten Organisationsform von Siedlungen die Herrschaft von „außen“ quasi „eingebaut“ sein könnte.Footnote 96 Aus zwei Gründen heraus wird dies in der Stadtplanung selten thematisiert:

  1. 1.

    Es erscheint der Gedanke müßig, denn eine moderne Großsiedlung, oft mit dem Begriff der „Metropole“ bedacht, kann ja per se nur sehr beschränkt dezentral gesteuert werden, da Energie‐, Abfall‐ und Verkehrssysteme allein von der schieren Größe her einer zentral denkenden technischen Fach‐ und Großverwaltung bedürfen.

  2. 2.

    Es kann ein Ort natürlich nicht den Menschen die Demokratie durch seine Bauform als Geschenk darbieten (etwa in Form des „Heils durch Ziegelsteine“),Footnote 97 die Demokratie müssen Menschen immer noch selbst sichern.

Beide Argumente sind jedoch bestenfalls teilweise richtig und haben zu Unrecht dazu geführt, die Zusammenhänge von Siedlungsformen , Demokratie und Herrschaft in der aktuellen Stadtplanung und Verkehrsplanung so zu vernachlässigen, wie dies tatsächlich geschieht.

Wie so oft gibt es in der Realität keine absoluten Wahrheiten, aber es geht um das Ausmaß von Selbstbestimmung, das möglich ist. Wenn in modernen Großsiedlungen und großformatigen Anlagen (etwa des Transports) die Herrschaft von Fachleuten schon unvermeidlich scheint, stellt sich ganz zentral die Frage, wer diese Fachleute kontrolliert. Und: Es stellt sich die Frage, ob bestimmte Organisationsformen von Orten diese Kontrolle erschweren oder erleichtern. Ein wesentlicher Aspekt von Kontrollierbarkeit ist schon die Größe von Bürokratien und Apparaten: Je umfassender, gewaltiger und komplexer eine Administration (egal ob privat oder öffentlich) ist, umso schwieriger ist es für die Menschen „vor Ort“, einen „für ihn Zuständigen“ auszumachen, und umso schwieriger ist es, Einfluss auf Entscheidungen zu nehmen oder auch nur an der richtigen Stelle zu protestieren.

Je größer und großformatiger Infrastrukturen sind, desto weniger können Menschen mitreden. Dies gilt, obwohl mittlerweile über Umweltverbände oder den Zusammenschluss großer Bürgerinitiativen Gegenbewegungen zu den Fachleuten in den Administrationen Rechte erkämpft haben. Autobahnen, Flughäfen, Fernstraßen oder auch Hochgeschwindigkeitsstrecken der Bahn belasten die Nähe der Menschen zugunsten der Erreichbarkeit der Ferne. Entscheidungen über solche Infrastrukturen sind jedoch in hohem Maße abstrakt und schwierig nachzuvollziehen, sie fallen in der Regel weit entfernt vom Ort der Maßnahme.

Neben der Frage der demokratischen Kontrolle ist ebenso wichtig, wer denn den Nutzen der Entscheidungen für immer größere und auf Distanz gerichtete Infrastrukturen hat. Der Alltag der meisten Menschen – auch in den entwickelten Industrieländern – wird ganz wesentlich von den lokalen und regionalen Formen unserer Siedlungen und Infrastrukturen bestimmt. Die täglichen Versorgungen und Aktivitäten, vom Einkaufen von Nahrungsmitteln bis hin zur Ausbildung und Arbeit, finden dort, nämlich in der Nähe, statt. Dies gilt ebenfalls für einen immer noch großen Teil der Ortsveränderungen in der Freizeit. Zwar hat sich der durchschnittliche Aktionsradius der Menschen im vergangenen Jahrhundert enorm erhöht. In Deutschland legen Männer im Schnitt 46 km pro Tag zurück, davon 30 km mit dem Automobil, Frauen sind pro Tag 29 km unterwegs, davon 12 km in einem Kfz.Footnote 98 Bereits daran ist zu sehen, dass sich die – in den vergangenen Kapiteln geschilderte – Förderung und Realisierung von immer mehr Infrastruktur, die auf entfernte Ziele und hohe Geschwindigkeit orientiert, sozial selektiv auswirkt.Footnote 99 Zunächst fällt der Unterschied zwischen Männern und Frauen (heute oft „Gender ‐Aspekt“ genannt) ins Auge. Durch eine stärkere Orientierung der Frauen auf Haus oder Wohnung (da sie zumeist für die Betreuung der Kinder verantwortlich sind) und durch eine immer noch geringere Verfügbarkeit über ein Kfz (ist im Haushalt „nur“ ein Automobil vorhanden, nutzt es in der Regel immer noch der Mann) ist der Aktionsradius von Frauen weit geringer als der der Männer. Auch das zumeist geringere Einkommen bewirkt, dass Frauen sich erheblich weniger weit als Männer fortbewegen. Die pro Tag zurückgelegte Distanz – und damit die Nutzung entfernungsorientierter Infrastruktur – nimmt mit den Haushaltseinkommen deutlich zu. Eine Frau aus einem Haushalt mit einem Einkommen von unter 900,00 Euro im Monat legt durchschnittlich 19 km am Tag zurück: Dies ist nur knapp ein Drittel der Entfernung, die ein Mann aus einem Haushalt mit einem Verdienst von 3600,00 Euro und mehr zurücklegt (50 km).

Diese Fakten stehen in völligem Gegensatz zu dem immer wieder an krassen Ausnahmefällen exemplifizierten sozialen Nutzen von neuen Straßen oder Autobahnen: Es ist der „arme“ Landbewohner, der nur durch die neue Autobahn einen Arbeitsplatz in der entfernten Stadt findet; oder bei allfälligen Staus entdeckt die Autolobby ihr Mitgefühl für einen Behinderten, der ein Automobil nutzen muss und nun zu spät kommt. Von solchen Ausnahmefällen abgesehen, ist die Realität eindeutig. Die auf die Entfernung gerichtete Infrastruktur kommt eben nicht „allen gleich“ zugute, sondern sie wird weit überwiegend von Personen männlichen Geschlechts und durch soziale Oberschichten genutzt.Footnote 100 Da gleichzeitig die Organisationsformen der Nähe immer weiter vernachlässigt und eingeschränkt und nicht zuletzt auch durch den Ausbau der großen Straßen in die Distanz erheblich entwertet wurden, ist diese Benachteiligung gleich doppelt eingetreten.

Und nun zum Geld: Wer hat diesen Prozess bezahlt? Die Fahrbahnen der innerörtlichen Straßen wurden praktisch kostenfrei von den Automobilisten in Besitz genommen. Auch wenn in Deutschland im § 1 der Straßenverkehrsordnung noch Reste des bis vor 100 Jahren üblichen Gemeingebrauches der Straße – also des Rechtes auf gleichberechtigte Nutzung durch alle Menschen – vorhanden sind, dient die Fahrbahn tatsächlich weit überwiegend den Insassen von Motorfahrzeugen. Die ersten Autobahnen wurden nicht von den Automobilisten, sondern in der Regel aus Mitteln des Staates finanziert (die oft auch noch aus Gewinnen des Bahnverkehrs stammten). Der anfangs relativ geringe Anteil der Autonutzer an der Bevölkerung (in Deutschland besaß noch 1960 erst jeder 7. Haushalt ein Automobil) trug in den ersten Jahren des Baus von Großanlagen des motorisierten Verkehrs, seien es Autobahnen oder städtische Magistralen, den Aufwand für die Finanzierung nur zu einem ganz geringen Anteil. Es war eine Investition des Staates und der Bevölkerung in eine imaginierte Zukunft. Dieser „Anfangsschub“ war für die Motorisierung, die ohne ein attraktives Netz fraglos stark behindert worden wäre, enorm fördernd. Nie wurde diese Förderung – eigentlich müssten darauf auch Zinsen und Zinseszinsen gezahlt werden – an den Staat zurückgezahlt. Die Menschen, die überwiegend die Nähe und den öffentlichen Verkehr nutzen, müssten dies Geld eigentlich bekommen.

Auf die heutigen Auseinandersetzungen, ob die Automobile nun aktuell aus dem Staatshaushalt immer noch subventioniert werden oder nicht, soll hier nur am Rande eingegangen werden.Footnote 101 Tatsächlich ist etwa für die Lastkraftwagen in Deutschland durch jahrelange politische Debatte mittlerweile einvernehmlich klar, dass diese nicht einmal die Kosten ihrer Zerstörungen an Straßen und Autobahnen ausgleichen. Eine entsprechende Lkw‐Maut wurde erhoben, die jedoch durch Finanznachlässe in anderen Bereichen wieder an die Lkw‐Betreiber zurückgegeben wurde. Für die Personenfahrzeuge gilt ganz sicher, dass sie ihre enormen ökologischen Schäden (von den Luftschadstoffen, Gesundheitsschäden durch Lärm bis hin zu den Klimaschäden) nicht decken, ganz zu schweigen von dem enormen Leid durch Tote und Verletzte, die die Automobile verursachen. Auch diese Kosten sind Subventionen, mit denen der Staat die Wege in die große Distanz fördert.

Die Menschen, die überwiegend die Nähe ihres Wohnstandortes nutzen und sich dort aufhalten, werden also gleich dreifach enteignet.

  1. 1.

    Sie können über die Areale im Umfeld ihrer Wohnung immer weniger selbst verfügen.

  2. 2.

    Sie bezahlen den Fernverkehr und dessen Subventionierung mit.

  3. 3.

    Sie nutzen ihn aber unterproportional häufig.

Die Energie der Administrationen geht überwiegend in den Ausbau der Verbindungen in die Ferne. Dagegen war es gerade die sorgfältige und kleinteilige Planung der Häuser und ihres Umfeldes, die in der Geschichte für das alltagstaugliche Zusammenleben von Menschen großen Nutzen stiftete. Dabei wurde auch eines deutlich: Eine gute Organisation der baulichen und infrastrukturellen Gegebenheiten der Nähe ermöglicht soziale Prozesse, sie kann sie allerdings nicht schaffen oder gar beeinflussen. Jedoch gilt, dass schlechte Planung sozialen Austausch erschweren oder gar in bestimmten Fällen unmöglich machen kann. Im Weiteren soll gezeigt werden, inwieweit sich dies konkret darstellt und in welcher Form dies mit der Debatte um „sozialen Raum“ zu tun hat, die bisher den Aspekt des Verkehrs oft nur am Rande streift.