1 „Habitus“ und Homogenität bei Führungskräften

Herr Sattelberger, aus Ihrer Erfahrung als Personalexperte und Topmanager sind Ihnen die Führungsetagen und Auswahlprozesse großer Unternehmen wie Continental, der Lufthansa und der Deutschen Telekom bestens vertraut. Was sind die spannendsten Erkenntnisse, die sich daraus für Sie persönlich in Bezug auf das Thema „Auswahl und Beurteilung von Führungskräften“ ergeben haben?

Hier fallen mir verschiedene Situationen ein, die ich sehr spannend fand, weil sie mir Einblicke dazu gegeben haben, was für die Auswahl von Führungskräften relevant ist. Als ich mich beispielsweise bei der DASA (Daimler-Benz Aerospace Aktiengesellschaft, heutige EADS) um eine Führungsposition im Personalbereich beworben habe, wurde ich im ersten Schritt abgelehnt, weil ich den Kriegsdienst verweigert hatte. Das hat man mir so natürlich nicht gesagt, ich habe das später durch Zufall erfahren. Das liegt jetzt lange zurück, aber es ist natürlich ein Indiz für das interessante Phänomen „Schmidt sucht Schmidtchen“.

Ein ähnliches Beispiel: Als ich bei Conti im Auswahlprozess als Vorstand war, hat eine nicht offizielle Referenzperson kommuniziert, ich hätte damals bei der DASA mit dem Vorstandvorsitzenden Jürgen Schrempp einen massiven Konflikt gehabt und das wurde als negative Referenz gesehen. Das hat mir zwar schlussendlich nicht geschadet, aber es hätte können.

Ebenfalls interessant für mich war, als ich 1994 bei der Lufthansa zum „Messer- und-Gabeltest“ eingeladen wurde: Ich saß im Vorstandsbüro von Jürgen Weber, da gab’s einen schönen Esstisch und an dem tafelten die vier Vorstände. Ich war der fünfte und musste Fragen beantworten und gleichzeitig Scampi sauber herauslösen. Zum einen ist es sicherlich effizient, dass alle zum Mittagessen zusammenkommen und dies mit einem Gespräch verknüpfen. Zum anderen wurde da aber natürlich auch sehr genau hingeguckt, wie meine Tischsitten sind, ob ich es schaffe zu antworten, zu kommunizieren und gleichzeitig zu essen. Und dann natürlich solche Sätze wie „Braune Schuhe trägt man längstens bis abends 18 Uhr – danach schwarze“. Also alles „Habitus“.

Das sind im Prinzip sehr persönliche Erlebnisse, die mir deutlich gemacht haben, dass diese ganzen Erwartungen an den Habitus von Bewerbern eine signifikante Rolle spielen – sei es die Frage der Weltanschauung, sei es die Frage der Sitten, sei es die Frage des Stils. Ich habe solche Sachverhalte dann natürlich dekodiert und versucht, sie in meinen eigenen Erklärungsversuchen und Konzepten umzusetzen. Das waren für mich persönlich die spannendsten und sehr prägenden Erlebnisse, die mir auch geholfen haben, zu meiner heutigen Position zu kommen.

Würden Sie denn sagen, dass sich das geändert hat bis heute? In der Biografie von Steve Jobs wird ja beispielsweise beschrieben, er sei durchaus auch ungewaschen und barfuß zur Arbeit erschienen. Das ginge dann nicht in Deutschland?

Nein, das ginge gar nicht. Ich glaube, dass das Thema Habitus nicht mehr so in den Mittelbau des Führungskörpers eindringt, wie das früher der Fall war, aber dass es für die obersten Etagen nach wie vor gilt und sich dort eigentlich nicht verändert hat. In den obersten Etagen wird im Grunde auf alles geachtet. Ich habe mal eine Situation erlebt, in der ein Bewerber sein Etui herausgenommen hat und seinen Füllfederhalter und seinen Kugelschreiber senkrecht hingelegt hat – der war durch. Und es gibt nicht wenige Headhunter, die beispielsweise nochmal die Gattin und den Bewerber zum Abendessen einladen, oder Unternehmen, bei denen in der finalen Runde der Vorstandsvorsitzende nach Hause einlädt. Wenn man die Hinterbühnen der Rekrutierungsprozesse jedes Unternehmens kennen würde, würden da ganz bestimmte Themen aufscheinen, die sozusagen ein No-Go sind. Bei Thyssen Krupp war es beispielsweise überhaupt nicht denkbar, dass jemand nicht mit Kind und Kegel nach Essen gezogen ist.

Mit Sicherheit ist ein weiteres Phänomen ganz stark und das ist sozusagen das Referenzsystem im Netzwerk. Das bedeutet, dass bei der Vergabe oberster Positionen die zentrale Frage relativ simpel ist: „Wen geben Sie als Referenz an, wo stehen Sie also im Netzwerk der bekannten Gesichter?“. Als ich bei Klaus Zumwinkel bei den Gesprächen für die Telekom war, da war klar, dass er vorher mit Jürgen Weber gesprochen hatte. Das ist eigentlich Usus und zunächst einmal nichts Schlechtes, aber die Frage „Wer kommt rein, wer bleibt draußen?“ wird dadurch natürlich anhand relativ homogenisierter Auswahlstandards entschieden, da ja auch die Bewertungsmaßstäbe an der Spitze häufig ähnliche sind, und sozusagen nach den Kompetenzprofilen entschieden wird, die jeder vulgär-psychologisch im Kopf hat.

Auf dieser allgemeinen Beschreibung der Auswahlprozesse aufbauend: Was sind die größten Fehler, die bei der Auswahl und Beurteilung von Führungskräften regelmäßig gemacht werden?

Die allergrößten Fehler sind zum einen, dass man nur in hochselektiven, homogenisierten Räumen nach Indizien für Güte sucht. Im Grunde ist der Ausschluss – die Sphäre außerhalb des Netzwerkes – schon getätigt. Die Vorselektion ist schon mal da. Und das zweite Thema ist, dass man natürlich aus dem Referenzsystem, obwohl es unterschiedliche Referenzgeber sind, eigentlich keine Diversität der Perspektiven auf den Menschen erhält. Und drittens – und das ist ja ein uraltes Thema – dass den ersten Eindrücken gerade in der Besetzung von Toppositionen, wo Gesprächssituationen überwiegen, sehr häufig freier Raum gelassen wird und diese ersten Eindrücke gravierend entscheiden.

Prominente Headhunter, unter Ihnen beispielsweise Herr Rickert sagen dagegen, dass es unbedingt auch auf den subjektiven Eindruck ankommen muss und alles Systematische an Auswahl eher abzulehnen sei.

Ja, es gibt, einfach ausgedrückt, zwei Arten von Suchmethoden. Bei der einen suche ich das Deckelchen aufs Töpfchen, also die Passung in ein vorgefertigtes, unternehmenskulturelles, mentales Korsett. Oder ich suche ein Stück moderate Differenz. Oder vielleicht sogar radikale Differenz in Turnaround-Situationen oder im Umbruch. Die Deutschland AG lebt ja im Grunde von der Chemie und damit hat Dieter Rickert für sein Geschäftsmodell vollkommen recht. Da würde ich jedoch sehr sauber unterscheiden: Rickert spricht nicht für die Güte intuitiver Auswahlprozesse, sondern für den Erfolg seines Geschäftsmodells in der heutigen Deutschland AG. Auswahldiagnostik ist eine Wissenschaft, die Validität von psychometrischen Tests ist umfassend erforscht. Die Angelsachsen sind in der Nutzung solcher psychometrischer Verfahren deutlich weiter und vor allem offener. In der Praxis von Rickert, der Suche für geschlossene Systeme, geht es jedoch vor allem um Passung, um Fit in den Status quo, um Chemie. Bei der Lufthansa haben wir in den 1990er Jahren fast 80 Topkandidaten zu eintägigen Assessment-Centern nach Zürich geschickt und zwar lange im Vorlauf, bevor irgendeine Auswahlentscheidung anstand. Das war eine Mischung aus psychometrischen, intuitiven und Gesprächsverfahren, um so einen balancierteren Blickwinkel aus verschiedenen Perspektiven zu erhalten.

2 Die Zukunft der Führung: Multioptionalität

Als Themenbotschafter der Initiative „Neue Qualität der Arbeit“ betonen Sie, dass traditionelle Führungskonzepte den Anforderungen der Unternehmenswelt der Zukunft nicht mehr genügen. Wie verändern sich die Anforderungen an Führungskräfte für die Zukunft, und wie verändern sich dadurch die Kompetenzen, die Führungskräfte mitbringen müssen?

Der Begriff Zukunft ist ja ein diffuser, und das macht auch die Antwort auf die Frage schwierig, da der Transformationsprozess im Grunde ein relativ langwieriger ist. Mit Sicherheit geht es um Begriffe wie Fehlertoleranz, Ambiguität ertragen oder sogar nutzen und den ganzen Bereich kritische Analysefähigkeit. Das sind ja übrigens Themen, die man nicht im Gespräch identifiziert, sondern die Gegenstände kreativer wie kognitiver Intelligenztests sind. Und wahrscheinlich die ganze Frage: „Gibt es Hinweise und Erfahrungsfelder, dass jemand Transformation in einem nichtheroischen Stil gestalten kann?“ Das sind zunächst vage Äußerungen zu der Frage, wie sich Unternehmen der Zukunft verändern und eher bezogen auf den Transitionsweg als das Endresultat. Bezüglich des Endresultats kenne ich kein Idealbild von Führung, weil ja auch die Organisationen der Zukunft vielfältig sein müssen. Führungskräfte werden also in Zukunft zunehmend mit Multioptionalität umgehen müssen.

3 Toleranz von Querdenken und Heterogenität

Sie vertreten die These, dass es zentral für den Unternehmenserfolg ist, eine sich selbst klonende Personalauswahl homogener Führungskräfte zu vermeiden, also z. B. sowohl Frauen als auch Männer zu befördern. Was würde sich für Unternehmen und die Gesellschaft verändern, wenn Frauen und Männer tatsächlich gleich häufig in Führungspositionen repräsentiert wären?

Nichts! Wenn Frauen relativ weit oben ankommen, sind sie genauso von den Sozialisationsprozessen geprägt wie jeder Mann, sodass man nicht erwarten kann, dass sie nicht geklont sind. Ich glaube, die Unternehmen würden sich nur oberflächlich-kosmetisch nicht mehr dem Vorwurf ausgesetzt sehen, dass sie diskriminieren. Aber zum Thema Cloning wird sich nicht viel verändern, denn eigentlich ist der Kern des Themas nicht „weiß, männlich, deutsch“, sondern „wie denke ich“. Die interessante Frage bezüglich Cloning ist dann nicht, ob ich Männer und Frauen, verschiedene ethnische Hintergründe und sexuelle Orientierungen in der Organisation habe. Tatsächlich interessant in diesem Zusammenhang ist die Frage: „Habe ich Rekrutierungs-, Beförderungs- und Belohnungsprozesse, die auch Anders-Sein, Querdenken und -handeln wertschätzen und honorieren?“ Erst das eröffnet Unternehmen den Nutzen der Reichhaltigkeit von Diversität. Kennen Sie den Film Der Club der toten Dichter? Das ist ein sehr schönes Beispiel dafür, dass es nicht darauf ankommt, ob es Schüler oder Schülerinnen sind, die mit diesem Lehrer zusammentreffen, sondern es ist eigentlich die Frage, welche Form von Denken lernen sie und gibt ihnen die Institution, in der sie sind, die Möglichkeit dieses Denken anzuwenden? Vor einigen Monaten war ich bei einem Alumni-Treffen von Absolventen der Zeppelin-Universität. Dort sagten einige, die Organisationen, in denen sie heute seien, hätten ihnen ihr Denken wegradiert.

Oder nehmen wir ein ganz anderes Beispiel: Als wir (bei der Telekom) noch nicht sicher waren, ob wir die Scout-Gruppe verkaufen, haben wir diese näher an den Konzern herangeführt. In dieser Situation haben sich die Geschäftsführer aufgeführt wie Konzernmanager. Sie haben sich plötzlich anders angezogen, haben auf die Größe des Auto-Auspuffrohrs geachtet, haben höfische Rituale angenommen. Das Thema Cloning hat mit den Sozialisationsprozessen in Organisationen zu tun. Deswegen äußert sich auch keine DAX-30-Vorständin positiv zur Frauenquote.

In einem Interview mit dem Spiegel sagten Sie einmal, dass „Karrieren beim Pinkeln entschieden“ werden, also oftmals hinter verschlossenen Türen und in Räumen, zu denen weibliche Führungskräfte keinen Zugang haben. Wird das weiterhin so bleiben – und wenn ja, warum? Wird es sich ändern – und wenn ja, warum und wodurch?

Natürlich beginnt der Mörtel zu bröckeln und wie ich vorher gesagt habe, werden heute im Mittelbau tolerantere Betrachtungen dazu angestellt, was geht und was nicht geht. Das heißt, dass sich das Thema von unten oder von der Mitte her langsam nach oben in die Organisation „hineinfrisst“. Ich glaube, der entscheidende Punkt für Veränderungen wird sein, wie divers das Governance-Gremium zusammengesetzt ist, wie es seine Nominierungen macht und wie es Prozessen der Homogenisierung entgegentritt. Wenn Sie sich mal anschauen, wie Joe Kaeser nominiert worden ist – durch Handauflegen von Herrn Cromme, wie sein Vorgänger auch. Per Handauflegen! Das führt dann natürlich zu ganz spezifischen Resultaten, der Herr Kaeser hat ja mal gesagt: „Ich bin Siemens“.

In der skandinavischen Nominierungspraxis beispielsweise bestimmt die Hauptversammlung mit, wer im Nominierungsausschuss ist. Oder auch im angelsächsischen Bereich, wo regelmäßig qualitativ hochwertige Aussagen über Vorstandsaspiranten und CEO-Aspiranten getroffen werden und wo Jahr für Jahr beobachtet wird, wie jemand sich entwickelt. Man kann über General Electric sagen, was man möchte, aber Jack Welch hat dieses Thema ja sehr systematisch geprägt. Das zweite Thema der Diversität ist in der Governance eine kluge Zusammensetzungspolitik, also dass ich nicht nur aus dem Düsseldorfer Industrieclub heraus rekrutiere.

Worauf sollten Personalverantwortliche bei der Auswahl und Beurteilung achten, um statt „Klonen“ „Originale“ für Führungspositionen ausfindig zu machen und diese auch erfolgreich für Führungsrollen zu gewinnen?

Man sollte auf jeden Fall psychometrische Tests einsetzen. Zudem sollten die Auswahlgremien relativ divers zusammengesetzt sein und sollten nicht ein Idealprofil der gesuchten Person erstellen, sondern eines bezogen auf die Aufgaben und die Unternehmenssituation. Und man sollte möglichst bis in die obersten Unternehmensspitzen hinein Beurteilertrainings durchführen, damit jeder sich seiner eigenen Wahrnehmungsverzerrungen bewusst wird. Zudem ist es zentral, dass man wirklich mal hinsieht und die eigene Beförderungspolitik über die letzten Jahre zunächst ganz unabhängig von dem Thema Mann/Frau betrachtet und Big Data auswertet. Da sollte man sich fragen, ob Muster zu erkennen sind, und wenn ja, ob diese so gewollt sind.

Wie überzeugt man Ihrer Erfahrung nach die „weißen deutschen Männerseilschaften“ in Unternehmen, wie Sie sie in einem Zeit-Interview nannten, Diversität auf allen Führungsebenen zu stärken, und somit auch einen Teil ihrer eigenen Vorteilsquelle abzubauen?

Ich hatte ja zwei relativ autokratische Unternehmenslenker, einer davon war sogar ein Despot, Jürgen E. Schrempp. Und ich hatte zwei liberalere Unternehmenslenker, nämlich Jürgen Weber und René Obermann. Ich würde im ersten Schritt sagen, dass man bei autokratischen Unternehmenslenkern das Thema Überzeugung für Chancenfairness gleich sein lassen kann. Selbst wenn Veränderungen dann zustande kämen, würde der Autokrat danach streben, das für seine Interessenslagen zu instrumentalisieren. Das Thema Überzeugen setzt voraus, dass der „zu Überzeugende“ Unternehmenskultur toleranter betrachtet und damit auch klüger einschätzt, was dies an Vorteilen bringt.

René Obermann war beispielsweise offen bezüglich der Einführung der Frauenquote. Aber er hat darüber ein paar Monate reflektiert und wird vor seiner Entscheidung auch mit anderen darüber gesprochen haben, so kenne ich ihn. Arbeitgeberverbandsfunktionäre hatten ja dann kurz kolportiert, dass das daran liege, dass ihn seine Frau, Maybrit Illner, getrieben habe. Dort kam quasi deren Ansicht zum Vorschein, dass es da eine „Hexe“ geben müsse, denn der Obermann „sei doch einer von uns“. Insofern glaube ich, dass es eine direkte Korrelation zwischen Offenheit und Toleranz in einem Entscheidergremium und der Empfänglichkeit für Diversity-Themen gibt.

Es mag auch durchaus sein, dass Entscheider, insofern sie traditionelle Rollen zu Hause praktizieren, diese dann auch in das Unternehmen übertragen. In der Sinus-Studie von Carsten Wippermann ist relativ gut beschrieben, auf welche Ansichten zu Frauen in Führungspositionen man heute in Unternehmen trifft. Bei manchen führt selbst die Einsicht, dass veränderte Spielregeln in den oberen Rängen notwendig und richtig sind, nicht automatisch zu irgendeiner Handlung – das ist eines der Segmente, die bei den Interviewten nicht unbeträchtlich ausgeprägt war. Und dann gibt es die anderen, die sagen: „Ja, Diversity ist das Beste! Selbstverständlich! Heute hat doch auch jeder schon die Möglichkeit, also ran an den Speck!“. Insofern sind das alles auch Schaltungen, die man nicht mit Habermasschem Diskurs bewältigen kann.

In jüngster Zeit haben zahlreiche Vorstandsfrauen in DAX-Unternehmen ihre Positionen nach vergleichsweise kurzer Zeit wieder verlassen. In der Süddeutschen schrieben Sie dazu, dass diesen Frauen ihre Sachlichkeit zum Verhängnis wurde. Wenn Rationalität und Themenorientierung nicht zum Ziel führen, welche Strategien würden Sie Frauen raten, um im Topmanagement zu bestehen? Was sollten weibliche Führungskräfte unbedingt tun, was unbedingt vermeiden?

Leider lernt man den Homo Oeconomicus und den Homo Rationalis an den Universitäten und doch wissen wir seit den frühesten Organisationsforschungen, dass Unternehmen keine rationalen Veranstaltungen sind. Ich habe das auch mit Stephan Jansen von der Zeppelin-Universität immer wieder diskutiert: „Wie lernen Menschen das Thema Rationalität und Sachlichkeit und wie lernen sie auf der anderen Seite, mit den Schmutz- und Grauzonen von Unternehmen umzugehen? Wie können Unternehmen ‚Clubs der toten Dichter‘ schaffen, damit gute geistige Haltungen weitergetragen und konserviert werden? Wie schafft man Netzwerke, sodass Menschen sich austauschen können, ohne dass – insbesondere für Außenseiter, Innovatoren und Querdenker – das ‚Immunsystem‘ der Organisation zuschlägt und dies unterbindet?“

Im Wall Street Journal habe ich jetzt gerade ein langes Interview gegeben, in dem es darum ging, dass diese Frauen zwar alle im Konzern gelernt haben, aber die wenigsten haben „Konzern-Zentrale“ gelernt. Aber eigentlich würde ich das auch gar nicht raten, denn dann wird man so, wie man eigentlich nicht sein will: Ganz oben an der Spitze bewahren sich manche eine Art Schonraum, von dem sie behaupten, er wäre der Beweis dafür, dass sie nicht deformiert sind – das ist auch eine Form der Bewältigung der kognitiven Dissonanz. Andere bemühen sich, noch ein paar Personen um sich zu scharen, die weiterhin wirklich „Nein“ zu ihnen sagen. Aber im Kern ist es natürlich schon so, dass man einerseits in großen Konzernen von den Investor-Relations-Leuten, den eigenen Stabsleuten, den Kommunikationsleuten, den Medien-und PR-Leuten und den eigenen Kollegen geformt wird.

Und für das Thema Sachlichkeit können Sie als interessantes Beispiel die Aussage von Herrn Kauder ansehen, „die Frau Familienministerin solle nicht so weinerlich sein“, der Koalitionsvertrag zur Frauenquote werde ja umgesetzt. Das ist eigentlich ein Symptom dafür, wie Organisationen, hier: Parteien, sich für ein bestimmtes Diversity-Thema entscheiden, wobei aber die innere Kultur bezüglich dieses Themas völlig verrottet ist, im schlechtesten Sinne unsachlich.

4 Notwendig sind Zeit und Diskurs

Trotz – oder gerade wegen – dieser Rückschläge ist die Frauenquote als politischer Lösungsansatz in aller Munde. Sie selbst haben kürzlich betont, dass es „nicht ohne eine Quote“ geht. Welche konkreten Maßnahmen sollten Ihrer Ansicht nach – in der Implementierung von Quoten und über Quoten hinaus – von der Politik angestoßen werden, um die Situation effektiv zu verbessern?

Also im Augenblick, würde ich sagen, nichts mehr. Und zwar, weil das Thema durch das quälend lange Nicht-zum-Ergebnis-kommen so viele unerwünschte Nebenwirkungen erzeugt hat, dass ich glaube, weitere ordnungspolitische Eingriffe würden die kulturelle Situation eher noch verschlimmern als verbessern. Man macht ja häufig etwas mit guten Motiven und erlebt, dass die Welt schlechter wird. Ich würde jetzt wirklich den Firmen die Zeit geben, das Thema zu verdauen und ihren Weg zu finden und es dann erneut zu adressieren, sollte man feststellen, dass das Vorhaben manipuliert oder umgangen wird.

Sie stellen zudem eine Diskursnotwendigkeit auf gesamtgesellschaftlicher Ebene fest. Was muss sich Ihrer Meinung nach in den kollektiven Köpfen ändern, um Frauen und Männern gleiche Erfolgschancen in Führungspositionen zu geben? Und was können wir als Einzelpersonen dafür tun?

Was ich für wichtig halte, ist, dass beispielsweise die Firmen direkt den Diskurs mit Politikern führen und aufzeigen, dass es nicht trivial ist, Kultur zu verändern. Oder dass Frauenverbände nicht nur glauben, sie könnten sich auf die Familienministerin berufen und dies wie eine Monstranz vor sich hertragen. Frauenverbände müssen mit den Unternehmen dialogfähig werden und nicht nur in einer Anklägerrolle bleiben. Zumal jeder weiß, dass in Frauenverbänden ähnlich hierarchische Strukturen vorherrschen wie anderswo auch.

5 Die Lösung sind Diagnostik, Diversität und Monitoring

In der Süddeutschen haben Sie die „gelangweilte Reaktion“ der Medien auf die Rücktrittswelle weiblicher Vorstände kommentiert. Was sollten die Medien Ihrer Meinung nach konkret tun, um die Chancengleichheit von Frauen und Männern in Führungspositionen zu fördern und die Veränderung gesellschaftlicher Sichtweisen zu unterstützen?

Als lang geübter Interviewgeber kann ich Ihnen sagen, der Sachverstand der Medien zu diesen Themen hält sich an der Oberfläche. Ich glaube nicht, dass die Medien da viel helfen können. Heute Morgen habe ich die neue Emma gelesen und fand, auch die kann nicht helfen. Irgendwo bewegt sich das alles auf der Ebene des rhetorischen Überzeugungstätertums, wo man sich lediglich wechselseitig die eigenen Überzeugungen übermittelt.

Von all den Maßnahmen und Strategien, über die wir bislang gesprochen haben: Welche ist Ihres Erachtens die wichtigste, um die Auswahl und Beurteilung von Führungskräften zu verbessern und die Chancengleichheit zu erhöhen?

Ich glaube das Wichtigste ist erstens die Nutzung externer psychometrischer Diagnostik, zum Zweiten die Herstellung von Diversität in den schlussendlichen Auswahlgremien und zum Dritten ein systematisches Monitoring der Resultate.

6 Blitzlicht

Zum Abschluss würden wir gerne noch ein kleines Satzergänzungsspiel mit Ihnen machen. Bitte ergänzen Sie spontan die folgenden Sätze:

  • Die Situation für Frauen in Führungspositionen in der Wirtschaft in den nächsten 20 Jahren wird … sich verbessern.

  • Eine Sache in Bezug auf die Auswahl und Beurteilung von Männern und Frauen als Führungskräfte in der Wirtschaft, die ich erst spät verstanden habe, ist … welche Rolle eigentlich die Seilschaften in Konzernen haben.

  • Wenn ich Arbeitsminister oder Familienminister wäre, würde ich … mir mehr „Nudging“ überlegen als Ordnungspolitik.

  • Ein Spitzenunternehmen in Bezug auf Frauen in Führungspositionen erkennt man auf den ersten Blick daran, dass … in Besprechungen unter Gleichrangigen ein deutlich höherer Anteil von Frauen ist und zu Wort kommt.

  • Ein Spitzenunternehmen in Bezug auf Frauen in Führungspositionen erkennt man auf den zweiten Blick daran, dass … bei Besprechungen intensiv zugehört wird, wenn eine Frau etwas sagt.

  • Um Karriere zu machen, kommt es eigentlich auf … soziale Intelligenz an.

  • Ein zentraler Tipp, den ich Unternehmen für die Auswahl und Beurteilung von Führungskräften geben würde, ist … die externe Diagnostik.