Zusammenfassung
Das filmische Melodrama wird oftmals als Kitsch belächelt. Aus kunst- und kulturhistorischer Perspektive nimmt es jedoch eine geradezu paradigmatische Rolle mit Blick auf das Unterhaltungskino ein. Die entfesselte Ästhetik des Melodramas erweist sich vor diesem Hintergrund als ein Laboratorium für die konzeptionelle Verschränkung von Schauspielkörper, Räumlichkeit und Zeitlichkeit filmischer Bilder sowie die dynamische Affizierung des Zuschauerkörpers. Geht doch das filmische Melodrama genealogisch betrachtet auf eine spezifische Entwicklung im bürgerlichen Theater des 18. Und 19. Jahrhunderts zurück. Dort wird eine Theorie der Zeitlichkeit des Affekts zur Schauspieltheorie erhoben und in der Folge zur Matrix der Körperlichkeit des Schauspiels. Indem das filmische Melodrama jene Verschränkung von Zeitlichkeit und Körperlichkeit über die Dimensionen des Rhythmus und der Bewegung im audiovisuellen Bild fortschreibt, wirkt es als ein Ausgangspunkt der dynamischen Affizierung des Zuschauers im Unterhaltungskino weit über die Grenzen der konventionellen Genre-Kategorie des Melodramas hinaus.
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Notes
- 1.
Das Zitat entstammt einem Artikel von Malcolm MacKenzie im Juni 2011 – anlässlich des Starts der HBO-Serie „Mildred Pierce“, bei der Haynes Regie führte – in der britischen Tageszeitung The Guardian. S. https://www.theguardian.com/tv-and-radio/2011/jun/20/todd-haynes-mildred-pierce. Zugegriffen am 01.05.2016.
- 2.
Eine Haltung, die in der Welt des Kinos vor allem in den Filmen des spanischen Regisseurs Pedro Almodóvar Ausdruck gefunden hat. Vgl. Hermann Kappelhoff: Recherchen am sentimentalen Bewusstsein. In: Clemens Risi/Jens Roselt Hrsg.: Koordinaten der Leidenschaft. Kulturelle Aufführungen von Gefühlen. Berlin 2009, S. 242–253.
- 3.
Vgl. hierzu Sergej M. Eisenstein: Dickens, Griffith und wir. In: ders. Ausgewählte Aufsätze, mit einer Einführung von R. Jurenew, Berlin 1960, S. 157–229.
- 4.
Siehe dazu auch: Hermann Kappelhoff: Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit. Berlin 2004.
- 5.
Vgl. hierzu: Thomas Elsaesser: Tales of Sound and Fury. Observations on the Family Melodrama [1972]. Leicht gekürzt und überarbeitet in: Christine Gledhill Hrsg.: Home Is Where The Heart Is. Studies in Melodrama and the Woman’s Film. London 1987, S. 93–128.
- 6.
Auch wenn, was in Haynes’ Ausführungen allenfalls implizit mitschwingt, im Melodrama jeglicher Bezug zu einem ‚Wir‘ nur als Gegenstand einer geradezu genrekonstitutiven ästhetischen Subjektivierung möglich wird.
- 7.
Siehe hierzu auch: Hermann Kappelhoff: Tränenseeligkeit. Das sentimentale Genießen und das melodramatische Kino. In: Margrit Fröhlich/Klaus Gronenborn/Karsten Visarius Hrsg.: Das Gefühl der Gefühle. Zum Kinomelodram. Marburg 2008.
- 8.
In dem Sinne, dass ein von musikalischen Kompositionsprinzipien rhythmisierter Bühnenraum – ähnlich der Plastizität als gemeinsamem Seinsmodus des Textes und des Lesers bei Hegel – gleichermaßen die Zeitlichkeit des In-der-Welt-Seins des Bühnenspiels als auch jene der Zuschauer figuriert. Siehe zum Begriff der Plastizität: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Mit einem Nachwort von Georg Lukács. Frankfurt a. M. 1980, S. 60 f.
- 9.
Vgl.: Johann Christian Brandes: Ariadne auf Naxos. Ein Duodrama mit Musick. Gotha 1777.
- 10.
Zum Zusammenhang von Musik und zeitlicher Gestaltwahrnehmung siehe auch: Christian von Ehrenfels: Die Gestalttheorie der Wahrnehmung, In. Lambert Wiesing Hrsg.: Philosophie der Wahrnehmung. Modelle und Reflexionen. Frankfurt a. M. 2004, S. 189–194.
- 11.
Vgl. dazu: Torben Kragh Grodal: Moving pictures. A new theory of film genres, feelings, and cognition. Oxford 1997; Carl R. Plantinga: Moving viewers. American film and the spectator’s experience. Berkeley, CA. 2009; Murray Smith: Engaging Characters. Fiction, Emotion, and the Cinema. Oxford u. a. 1995; Ed S. Tan: Emotion and the Structure of Narrative Film. Film as an Emotion Machine. Mahwah, NJ 1996.
- 12.
Vgl. Hermann Kappelhoff, Matrix der Gefühle, S. 69 ff.
- 13.
Vgl. Denis Diderot: Das Paradox über den Schauspieler [1770–1773], In. Ästhetische Schriften, Bd. II. Hrsg. (Von Friedrich Bassenge), Berlin 1984, S. 481–539.
- 14.
Ders.: Brief über die Taubstummen [1751], In. Ästhetische Schriften, Bd. I. Hrsg. (Von Friedrich Bassenge), Berlin 1984, S. 27–97.
- 15.
Vgl. zur Idee des „vollkommenen Zeichens“ im Theater des 18. Jahrhunderts: Erika Fischer-Lichte: Theater im Prozess der Zivilisation. Tübungen/Basel 2000, S. 71.
- 16.
Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 3. Stück, In. Werke und Briefe in zwölf Bänden (Hrsg. Von Wilfried Barner et al.), Bd. 6, Werke 1767–1769 (Hrsg. Von Klaus Bohnen), Frankfurt a. M. 1985a, S. 198.
- 17.
Ders.: Hamburgische Dramaturgie, 4. Stück, in: Ebd., S. 202 f.
- 18.
Ders.: Hamburgische Dramaturgie, 3. Stück, S. 198.
- 19.
Ders.: Hamburgische Dramaturgie, 4. Stück, S. 202 f.
- 20.
Ders.: Hamburgische Dramaturgie, 3. Stück, S. 198.
- 21.
Aus der Perspektive der heutigen psychologischen Forschung könnte man die Schauspieltheorien Diderots und Lessing als den Versuch beschreiben, Phänomene der Interaffektivität, d. h. der unwillkürlichen Affektübertragung mittels intersubjektiv empfundener Veränderungen im körperlichen Ausdruck – wie sie der Entwicklungspsychologe Daniel Stern für die Mutter-Kind-Beziehung dokumentiert hat (Siehe dazu auch: Daniel Stern: Ausdrucksformen der Vitalität. Die Erforschung dynamischen Erlebens in Psychotherapie, Entwicklungspsychologie und den Künsten. Frankfurt a. M. 2011) – in einer durch den Bühnenraum erweiterten Art und Weise für das Theater fruchtbar zu machen.
- 22.
Die gesamte, hier über etwas mehr als die Hälfte der Verlaufszeit skizzierte Szene erstreckt sich innerhalb des Films von 01:06:03 bis 01:13:27 (h:mm:ss).
- 23.
Vgl. Hermann Kappelhoff: Empfindungsbilder. Subjektivierte Zeit im melodramatischen Film. In: Theresia Birkenhauer und Annette Storr Hrsg.: Zeitlichkeiten. Zur Realität der Künste. Berlin 1998, S. 93–119.
- 24.
Siehe zum Begriff des Bildraums auch: Hermann Kappelhoff: Der Bildraum des Kinos. Modulationen einer ästhetischen Erfahrungsform, In: Gertrud Koch Hrsg.: Umwidmungen. Architektonische und kinematographische Räume. Berlin 2005, S. 138–149.
- 25.
Vgl. Vivian Sobchack: The Address of the Eye. A Phenomenology of Film Experience. Princeton, NJ 1992.
- 26.
Man denke an dabei an Linda Williams Ausführungen zu den body genres. Vgl. dazu: Linda Williams: Film Bodies. Gender, Genre, and Excess, In: Barry K. Grant Hrsg.: Film Genre Reader II. Austin 1995, S. 140–158.
- 27.
Vgl. dazu: Christine Gledhill Hrsg.: Home is where the heart is. Studies in melodrama and the woman’s film. London 1987.
Literatur
Brandes, Johann Christian. 2013 [1777]. Ariadne auf Naxos. Ein Duodrama mit Musick. In Ariadne auf Naxos/Ino, Hrsg. Michael Holzinger. Seattle: CreateSpace Independent Publishing Platform.
Diderot, Denis. 1984. Das Paradox über den Schauspieler [1770–1773]. In Ästhetische Schriften, Hrsg. Friedrich Bassenge, Bd. II, 481–539. Berlin: Das Europäische Buch.
Ehrenfels, Christian von. 2004. Die Gestalttheorie der Wahrnehmung, Lambert Wiesing Philosophie der Wahrnehmung. Modelle und Reflexionen, 189–194. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Eisenstein, Sergej M. 1960. Dickens, Griffith und wir. In Ausgewählte Aufsätze, mit einer Einführung, Hrsg. R. Jurenew. 157–229. Berlin: Henschel.
Elsaesser, Thomas. 1987. Tales of sound and fury. Observations on the family melodrama [1972]. In Home is where the heart is. Studies in melodrama and the woman’s film, Leicht gekürzt und überarbeitet, Hrsg. Christine Gledhill, 93–128. London: British Film Institute.
Gledhill, Christine, Hrsg. 1987. Home is where the heart is. Studies in melodrama and the woman’s film. London: British Film Institute.
Grodal, Torben Kragh. 1997. Moving pictures. A new theory of film genres, feelings, and cognition. Oxford: Claredon/Oxford University Press.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. 1980. Phänomenologie des Geistes. Mit einem Nachwort von Georg Lukács, 60 f. Frankfurt a. M.: Ullstein.
Kappelhoff, Hermann. 1998. Empfindungsbilder. Subjektivierte Zeit im melodramatischen Film. In Zeitlichkeiten. Zur Realität der Künste, Hrsg. Theresia Birkenhauer und Annette Storr, 93–119. Berlin: Vorwerk 8.
Kappelhoff, Hermann. 2004. Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit. Berlin: Vorwerk 8.
Kappelhoff, Hermann. 2005. Der Bildraum des Kinos. Modulationen einer ästhetischen Erfahrungsform. In Umwidmungen. Architektonische und kinematographische Räume, Hrsg. Gertrud Koch, 138–149. Berlin: Vorwerk 8.
Kappelhoff, Hermann. 2008. Tränenseeligkeit. Das sentimentale Genießen und das melodramatische Kino. In Das Gefühl der Gefühle. Zum Kinomelodram, Hrsg. Margrit Fröhlich, Klaus Gronenborn und Karsten Visarius. Marburg: Schüren.
Kappelhoff, Hermann. 2009. Recherchen am sentimentalen Bewusstsein. In Koordinaten der Leidenschaft. Kulturelle Aufführungen von Gefühlen, Hrsg. Clemens Risi und Jens Roselt, 242–253. Berlin: Theater der Zeit.
Lessing, Gotthold Ephraim. 1985a. Hamburgische Dramaturgie, 3. Stück. In Werke und Briefe in zwölf Bänden, Hrsg. Wilfried Barner et al., Bd. 6, Werke, 1767–1769. Klaus Bohnen. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag.
Plantinga, Carl R. 2009. Moving viewers. American film and the spectator’s experience. Berkeley: University of California Press.
Smith, Murray. 1995. Engaging characters. Fiction, emotion, and the cinema. Oxford: Oxford University Press.
Sobchack, Vivian. 1992. The address of the eye. A phenomenology of film experience. Princeton: Princeton University Press.
Stern, Daniel. 2011. Ausdrucksformen der Vitalität. Die Erforschung dynamischen Erlebens in Psychotherapie, Entwicklungspsychologie und den Künsten. Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel.
Tan, Ed S. 1996. Emotion and the structure of narrative film. Film as an emotion machine. Mahwah: Lawrence Erlbaum.
Williams, Linda. 1995. Film bodies. Gender, genre, and excess. In Film genre reader II, Hrsg. Barry K. Grant, 140–158. Austin: University of Texas Press.
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Kappelhoff, H., Bakels, JH. (2020). Das Melodram. In: Stiglegger, M. (eds) Handbuch Filmgenre. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-09017-3_30
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