Zusammenfassung
Eine große Anzahl von Labor-Experimenten in Ökonomie, Politikwissenschaft und Soziologie beschäftigt sich nicht mehr nur mit Individualverhalten, sondern mit dem (sozialen) Verhalten von Gruppen in Entscheidungssituationen. Hierbei zeigt sich immer wieder, dass, entgegen einfacher spieltheoretischer Annahmen, eben diese individuelle oder kollektive Natur des Entscheidungsträgers elementaren Einfluss auf die Entscheidungen selber hat. Da allerdings die meisten Untersuchungen auf die Betrachtung genau dieser letztendlichen Entscheidungen begrenzt sind, werden weitergehende Erklärungen ihres Zustandekommens bisher noch vernachlässigt.
Zu einer entsprechenden Erweiterung der Analysemöglichkeiten stellen wir eine prozessbezogene Individualanalyse des Entscheidungsverhaltens in Gruppen vor. Hierzu nutzen wir die Kommunikationstranskripte eines Mehrparteien-Wahlexperimentes als Datengrundlage. In Anlehnung an die qualitative Inhaltsanalyse verdichten wir diese Daten zu individuums- und interaktionsbezogenen Entscheidungshistorien, die spezifische Veränderungen im Zeitverlauf beinhalten. In ihrer Interpretation lassen sich Einflussnahmen und Begründungszusammenhänge aufzeigen, die eine Ergänzung und teilweise Neubewertung der quantitativen Experimentalergebnisse ermöglichen.
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Notes
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Auch wenn die Entscheidungssituation im Labor zweifellos real ist, so ist die Frage nach der ökologischen Validität durchaus zulässig. Der vorgeschlagene Ansatz ist eine Erweiterung zu bisherigen Methoden bei der Auswertung experimenteller Daten und unterliegt somit der gleichen Diskussion zur Generalisierbarkeit der Ergebnisse. Wirkt die Kommunikationsstruktur elektronischer Textnachrichten im Vergleich zum alltäglichen, persönlichen Gespräch zunächst irreal, so ist diese im Kontext des kontrollierten Laborexperimentes durchaus ein natürlicher Weg des Informations- und Meinungsaustauschs. Diese Kommunikationsform ist unserer Meinung nach vielleicht der „realistischste“ Teil des experimentellen Aufbaus, da die moderne Kommunikation zunehmend auf textbasierten Plattformen stattfindet, deren Palette von Short Message Services bis zu firmeninternen Diskussionsforen reicht.
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Die offensichtliche Effizienz der Verwendung von elektronischen Chats muss natürlich wiederum der ökologischen Validität gegenübergestellt werden. Ein anonymer Gutachter wies auf die fehlenden „sozialen Kommunikationsregeln“ in anonymen Chats sowie auf die Möglichkeit hin, dass gerade in der Gruppenkommunikation mehrere Diskussionsstränge simultan ablaufen könnten. Beide Argumente sind natürlich richtig. Zur Auswirkung auf die Generalisierbarkeit kann man allerdings entgegnen, dass auch in realweltlichen Gruppendiskussionen selten ein strenges Kommunikationsprotokoll eingehalten wird und oftmals Subgruppen parallele Diskussionsstränge erzeugen (Ausnahmen dabei sind beispielsweise Gerichtsverhandlungen). Darüber hinaus sind für die Teilnehmer hier elektronische Kommunikationsmedien von Vorteil, da die gesamte bisherige Kommunikation jederzeit „nachgelesen“ werden kann und Argumente somit nicht verloren gehen. Nach gängigen Theorien aus der psychologischen Literatur (siehe z. B. Pruitt 1971) sollte dies zu mehr Überzeugungskraft elektronischer Kommunikation führen. Nichtsdestotrotz sei hier auf empirische Arbeiten wie z. B. Brosig et al. (2003), Frohlich und Oppenheimer (1998) oder Bos et al. (2001) verwiesen, die klare Unterschiede zwischen elektronischer und direkter Kommunikation finden. Auch wenn neuere Arbeiten wie z. B. Lev-On et al. (2010) keine Unterschiede zwischen den Kommunikationsformen finden, so steht die Generalisierbarkeit der Ergebnisse außerhalb des Labors noch immer zur Diskussion.
- 3.
Im Vergleich zu den Versuchsanordnungen ohne Kommunikation erzeugte Kommunikation eine signifikante Erhöhung der Wahlbeteiligung von etwa einem Drittel auf die Hälfte bis zu zwei Drittel. In Folge dessen stieg der Anteil der Gruppen, denen es gelang, Partei C zu besiegen und somit auch höhere Auszahlungen zu erreichen. In dieser Analyse geht es uns jedoch um die Potenziale einer genaueren Auswertung der Kommunikationsprozesse selbst, nicht um den Effekt von Kommunikation auf das individuelle Wahlverhalten.
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Als letzte Periode wird an dieser Stelle Periode 18 als Berechnungsgrundlage verwendet. Da es in der eigentlich letzten Periode 19 in einer Session zu einer Serverstörung kam, liegen hier keine vollständigen Daten vor.
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Aufgrund des in weiten Teilen explorativen Vorgehens sind die Codes und die letztlichen Codierungen von den beteiligten Wissenschaftlern als Gruppe diskursiv erarbeitet worden. Dieses Vorgehen erzeugt einen nachvollziehbaren und intersubjektiven Umgang mit den Daten, der als zentrales Gütekriterium qualitativer Forschung gilt (Steinke 2007). Werte für die Intercoder-Reliabilität können bei diesem Verfahren aber selbstverständlich nicht angegeben werden.
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Als Alternativen standen für die Wähler die Parteien A, B und C zur Verfügung. Als vierte Möglichkeit konnten sich die Spieler entscheiden, sich zu enthalten und dadurch die entstehenden Wahlkosten einzusparen.
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Kalwitzki, T., Kittel, B., Luhan, W., Peuker, B. (2015). Strategische Wort-Wahl in der Politik: Ein qualitativer Ansatz zur Analyse experimenteller Gremienwahlen. In: Bächtiger, A., Shikano, S., Linhart, E. (eds) Jahrbuch für Handlungs- und Entscheidungstheorie. Jahrbuch für Handlungs- und Entscheidungstheorie. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-07583-5_3
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