Zusammenfassung
Kameradschaft lässt sich aus funktionaler Perspektive als eine Verhaltenserwartung beschreiben. Die Erwartung, dass Soldaten, Polizisten (aber auch Feuerwehrleute oder Bergbauarbeiter) einander in Not- und Gefahrensituationen beistehen, wird durch diesen Begriff geweckt und insbesondere durch die Selbstbeschreibungen der Organisationen Militär und Polizei kommuniziert. Im vorliegenden Text behaupte ich, dass es nicht die Organisationen, sondern die Extremsituationen sind, die an die anwesenden Personen Verhaltenserwartungen richten, welche Kameradschaft in der harten strukturellen Realität erforderlich und aus soziologischer Sicht in Abgrenzung zu bekannten Begriffen wie beispielsweise denen der Kollegialität, Clique oder Primärgruppe beobachtbar machen. Am Beispiel des Reservepolizeibataillons 101 rekonstruiere ich Kameradschaft als eine Verhaltenserwartung, die auch in der Extremsituation der ersten Massentötungen am 13. Juli 1942 in Józefów dazu beigetragen haben kann, dass die in anwesenden Polizisten sich am Genozid an der jüdischen Bevölkerung beteiligten. Auf der Grundlage der Systemtheorie argumentiere ich, dass Kameradschaft die soziale Funktion zufällt, Handlungssysteme in Extremsituationen zu stabilisieren. Als Merkmal geregelter Interaktionen kann sie maßgeblich zur Erfüllung der Zwecke von militärischen Organisationen beitragen.
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Archiv- und Literaturverzeichnis
Archiv
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Grüneisen, S. (2015). Kameradschaft im Reserve-Polizeibataillon 101 und der Genozid an den Juden. In: Gruber, A., Kühl, S. (eds) Soziologische Analysen des Holocaust. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-06895-0_6
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