Zusammenfassung
Seit dem Ende der Volksrepublik verschärfen sich die sozialen und ökonomischen Unterschiede in der polnischen Gesellschaft. Landesweite Statistiken von Arbeitslosigkeit und durchschnittlichem Einkommen verdecken starke regionale Differenzen. Da Arbeitslosigkeit nicht zum Bezug von Sozialunterstützung berechtigt, sind Langzeitarbeitslose auf (Sach-)Spenden caritativer Hilfe angewiesen. An die Stelle eines staatlichen Sozialhilfesystems treten patriarchalische Strukturen der Unterstützung. Alternativen Überlebensstrategien bieten sich in der Wanderarbeit und im informellen Sektor an. Am Beispiel des Schmuggels wird die historische Entwicklung der Schattenwirtschaft in Polen aufgezeigt, die bis in die 1980er Jahre zurückreicht. Aktivitäten in der informellen Ökonomie werden gesellschaftlich als Initiative selbständig handelnder Subjekte bewertet. Wanderarbeiter, die in privaten Haushalten oder in der Landwirtschaft arbeiten, sind gezwungen patriarchalische Arbeitsverhältnisse zu akzeptieren.
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Notes
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Dem Artikel liegen zwei umfangreiche Forschungsprojekte zugrunde, die jeweils von der Universität Bielefeld (Fakultät für Soziologie) in Kooperation mit der Universität Warschau (Fakultät für Soziologie/Politologie) durchgeführt wurden: „Grenze als Ressource. Kleinhandel in der Armutsökonomie an der neuen EU-Außengrenze zwischen Nordostpolen und dem Bezirk Kaliningrad“ (weiterer Kooperationspartner war die Immanuel-Kant-Universität Kaliningrad) (2005–2008 gefördert von der VolkswagenStiftung); „Wanderarbeit als Alltagspraxis. Soziokulturelle Effekte saisonaler Migration in lokalen Gesellschaften: Fallstudien aus Polen und Deutschland“ (2009–2013 gefördert von der Deutsch-Polnischen Wissenschaftsstiftung). Methodisch basieren die Arbeiten auf jeweils einjährigen ethnographischen Feldaufenthalten der WissenschaftlerInnen.
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Alle Personennamen sind anonymisiert.
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Das Unternehmen hatte die Arbeiten zunächst in den Räumen ihres schlesischen Betriebes durchgeführt. Da die stark belasteten Abwässer ungeklärt abgeleitet wurden, führte das zum Einschreiten der lokalen Behörden. Als Reaktion vergibt der Betrieb die Arbeiten in Heimarbeit und teilt sie auf unterschiedliche Privathaushalte des Landkreises auf. Damit reduziert sich die Umweltbelastung im Einzelfall, ohne dass der Betrieb Maßnahmen zur umweltgerechten Entsorgung der Abwässer unternommen hätte.
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In vielen Situationen ist dieser bevorzugte Zugang zu Ressourcen recht einfach zu erklären. So verfügten die leitenden Angestellten eines staatlich gelenkten Landwirtschaftsbetriebes (PGR Państwowe Gospodarstwo Rolne) frühzeitig über Informationen bezüglich der Betriebsauflösung und hatten damit die Chance aus der Konkursmasse private Landwirtschaftsbetriebe aufzubauen. Hingegen die Alternative, eine Überführung der Betriebe in Genossenschaften, einen aufwendigen Organisationsprozess vorausgesetzt hätte, der zudem von der Regierung auch nicht vorgesehen war. Daher ist es zu erklären, dass nur ausnahmsweise und dann aufgrund der Initiative der leitenden Angestellten (überwiegend die ehemaligen Direktoren der PGR) es zur Gründung von landwirtschaftlichen Genossenschaften kam.
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Eine realistische Einschätzung ist nur in der Kombination mit den Preisen möglich. Als Richtwert kann man sagen, dass Grundnahrungsmittel ca. ein Drittel weniger als in Deutschland kosten, hingegen bei Elektrogeräten, Benzin und Diesel die Preise angeglichen sind.
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Eine Rolle spielt in dieser Haltung auch die historische Erfahrung der polnischen Gesellschaft im Widerstand gegen Okkupation und Fremdherrschaft.
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Wagner, M. (2016). Zwischen Individualismus und sozialer Verantwortung. Polens eigenwilliger Weg des gesellschaftlichen Wandels. In: Aschauer, W., Donat, E., Hofmann, J. (eds) Solidaritätsbrüche in Europa. Europa – Politik – Gesellschaft. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-06405-1_9
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