Ein klassischer Fall von Inkrementalismus

Zusammenfassung

In den letzten 50 Jahren erfuhr die Regulierung männlicher Homosexualität in Deutschland eine umfassende Liberalisierung. Zu Beginn des Betrachtungszeitraums 1960 bestand noch ein Totalverbot jedweder physischer sexueller Handlungen zwischen männlichen Personen, was auch praktische Relevanz hatte, da jährlich Tausende nach §175 StGB verurteilt wurden. Die Liberalisierung erfolgte in drei Schritten und über einen relativ langen Zeitraum, weshalb der Reformprozess insgesamt als inkrementell charakterisiert werden kann. Das Totalverbot wurde 1969 aufgehoben, allerdings noch ein hohes „Schutzalter“ von 21 Jahren beibehalten. Die Altersgrenze wurde 1973 zunächst auf 18 Jahre gesenkt, die Änderung auf 14 Jahre und damit Angleichung an die Regulierung der Heterosexualität erfolgte erst 1994. Die deutsche Politikentwicklung nimmt damit im europäischen Vergleich eine Sonderstellung ein, denn es waren drei Reformschritte innerhalb von drei Dekaden für die Komplettliberalisierung nötig. Ursächlich hierfür war zunächst das nationalsozialistische Erbe, wodurch die Legalisierung verzögert wurde. Im Anschluss führten spezifische Merkmale des Parteienwettbewerbs, insbesondere das Fehlen eines schlagkräftigen politischen Agenten homosexueller gesellschaftlicher Interessen dazu, dass der letzte Reformschritt erst infolge der Deutschen Einheit realisiert wurde.