Zusammenfassung
Der Beitrag widmet sich dem ästhetischen und politischen Status des Zitats in Theater und Performance der Gegenwart. Fokussiert werden textuelle Rekursionen, die Effekte der Wiedererkennung produzieren, doch hinsichtlich ihrer sinnstiftenden Potenziale unkontrollierbar werden und eine diegetische oder narrative Kohärenz aufbrechen. Am Beispiel von Inszenierungen René Polleschs, Nicolas Stemanns, Laurent Chétouanes und des Nature Theater of Oklahoma werden Zitate untersucht, die als faux amis, als falsche Freunde des Zuschauers/der Zuschauerin bezeichnet werden können, insofern sie referenzielle Verwirrungen stiften oder eine Dramaturgie des Nicht-Verlässlichen etablieren. Ins Auge gefasst werden v. a. Redefigurationen, deren Bedeutungsebene von einer unbeherrschbaren Ironie, von der Täuschung oder von einer zerstörerischen Akustik stimmlicher Materialität befallen wird. Darüber hinaus soll aus den jeweiligen Szenenanalysen hervortreten, dass das Verhältnis von Theater und Theorie – trotz ihrer gemeinsamen etymologischen Wurzel – von aporetischen Spannungen durchwaltet und auf Unversöhnbarkeit fundiert ist.
Versprich mir Freundschaft, aber halte nichts!(W. Shakespeare: Timon von Athen, 4. Aufzug, 3. Szene)
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Notes
- 1.
Vgl. v. a. Jens Roselts Monografie Die Ironie des Theaters, in der Ironie nur in Bezug auf etwas ontologisch Gegebenes, Authentisches konzeptualisiert und mithin die Rede von der Schlegel’schen, nicht domestizierbaren Ironie zum Schweigen gebracht wird: „[V]on Ironie [kann] nur gesprochen werden […], wenn sie sich an etwas anheftet, was auch ohne sie wäre“ (Roselt 1999, S. 47).
- 2.
„Die Ironie ist eine permanente Parekbase. –“ (Schlegel 1963, S. 85)
- 3.
„Mit der Ironie ist durchaus nicht zu scherzen. Sie kann unglaublich lange nachwirken. Einige der absichtlichsten Künstler der vorigen Zeit habe ich in Verdacht, daß sie noch Jahrhunderte nach ihrem Tode mit ihren gläubigsten Verehrern und Anhängern Ironie treiben. Shakespeare hat so unendlich viele Tiefen, Tücken, und Absichten; sollte er nicht auch die Absicht gehabt haben, verfängliche Schlingen in seine Werke für die geistreichsten Künstler der Nachwelt zu verbergen, um sie zu täuschen, daß sie, ehe sie sichs versehen, glauben müssen, sie seien auch ungefähr so wie Shakespeare?“ (Schlegel 1971, S. 538)
- 4.
Die ungarische Theaterwissenschaftlerin Vera Kérchy hat in ihrer Dissertation ebendiese Herausforderungen der Aufführungsanalyse jenseits der ideologisch gefestigten Modelle der Theatersemiotik und der phänomenologisch orientierten Performancetheorie nachdrücklich aufgezeigt und analysiert (Kérchy 2010). Die Rekurse auf Paul de Mans Ironie-Konzept sind der Lektüre von Kérchys Dissertation zu verdanken.
- 5.
Diese doppelt destruktive Kraft der Ironie hat Paul de Man im Bereich der Literatur(theorie) auf die narrative Konsistenz (Erzählpraxis) wie auch auf deren Reflexion (Erzähltheorie) bezogen: „So we could say that any theory of irony is the undoing, the necessary undoing, of any theory of narrative, and it is ironic, as we say, that irony always comes up in relation to theories of narrative, when irony is precisely what makes it impossible ever to achieve a theory of narrative that would be consistent. […] There is a machine there, a text machine, an implacable determination and a total arbitrariness, unbedingter Willkür, [Schlegel] says […], which undoes any narrative consistency of lines, and which undoes the reflexive and the dialectical model“ (de Man 1996, S. 179, 181).
- 6.
Aristoteles spricht von Freundschaft, die auf Gegenseitigkeit und Gleichheit basiert: „(echte) Freunde aber sind nur die, deren Basis die Gleichheit ist“ (Aristoteles 1962, S. 74).
- 7.
An dieser Stelle sei es nur an die Hegel’sche Definition des Dramas verwiesen: „Die vollständige dramatische Form ist der Dialog“ (Hegel 1971, S. 527).
- 8.
Diesen Aspekt der Teilhabe betont Alexander Schwinghammer: „Der Botenbericht wird zur Inszenierung, der in seiner eigentümlichen Veranschaulichungsoption die ‚Teilhabe‘ am Ereignis ermöglicht“ (2010, S. 249).
- 9.
Zur Signifikanz des Zitats in der Kultur des Mittelalters vgl. die Ausführungen von Wim van den Berg (2000, S. 17 f.).
- 10.
Wim van den Berg fasst Montaignes Position wie folgt zusammen: „Im großen und ganzen sieht Montaigne das Zitat als ein gefährliches Ausdrucksmittel, das das eigene Denken unfruchtbar machen kann: es ist oft Schwäche, die uns dazu verleitet, uns mit dem zu begnügen, was andere gefunden haben.“ (van den Berg 2000, S. 27).
- 11.
Die rhetorische Dimension der (visuellen) Wahrnehmung bei Castorf habe ich an anderer Stelle – mit Hilfe der Tropen Metapher, Metonymie und Synekdoché – untersucht (Czirak 2012, S. 74–84).
- 12.
Vgl. den Kurzvortrag von Barbara Gronau im Rahmen der Expertenrunde zur Eröffnung des Stückemarktes beim Theatertreffen 2009, Haus der Berliner Festspiele, 7. Mai 2009.
- 13.
Laut Diderot ist die gute Mimesis „allein dazu geeignet […], Bewunderung hervorzurufen. Aber warum soll man die Ähnlichkeit ‚bewundern‘? Ist es, wie Aristoteles dachte, weil der Mensch Vergnügen an der Ähnlichkeit so wie am Lernen findet?“ (Kofman 1986, S. 37)
- 14.
„Die Repliken des dramatischen Dialogs zerreißen nicht die dargestellte Welt, machen sie nicht vielschichtig; […]. Eine echte Vielschichtigkeit würde das Drama zerstören, denn die dramatische Handlung, die sich auf die Einheit der Welt stützt, ist nicht in der Lage, eine Lösung zu finden, diese Vielschichtigkeit in sich zu integrieren.“ (Bachtin 1971, S. 22)
- 15.
Diese Frage stellt Derrida in einer Replik an Hans-Georg Gadamer: „[I]mmer muß man sich doch fragen, ob die Bedingung des Verstehens weit entfernt davon, ein sich kontinuierlich entfaltender Bezug zu sein […] nicht doch eher der Bruch des Bezuges ist, der Bruch als Bezug gewissermaßen, eine Aufhebung aller Vermittlung?“ (Derrida 2004, S. 53 f.)
- 16.
„[D]as hermeneutische Verstehen [ist] nicht ein wirklich aktives, also auch transformierendes Interpretieren […].“ (Forget 1984, S. 13)
- 17.
Derrida spricht von der „Gabe des Gedichts“ (2004, S. 20).
- 18.
„Im allgemeinen, meint man, kann man nur geben, was man hat oder besitzt; […] Auch das Paradox des ‚geben, was man nicht hat’, von dem wir bereits sprachen, gilt und wirkt nur deshalb als ein Paradox, weil das Geben normalerweise mit dem Haben verbunden wird.“ (Derrida 1993, S. 68).
- 19.
Derrida schreibt, dass „die Gabe, wenn es sie gibt, zugleich die Möglichkeit der Erzählung einfordert und ausschließt. Die Gabe gehört zur Bedingung der Erzählung, gleichzeitig aber zur Bedingung der Möglichkeit und Unmöglichkeit der Erzählung.“ (Derrida 1993, S. 136).
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Czirak, A. (2014). Falsche Freunde. Von der Unversöhnbarkeit von Theater und Theorie. In: Hackel, A., Vollhardt, M. (eds) Theorie und Theater. Kulturelle Figurationen: Artefakte, Praktiken, Fiktionen. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-04102-1_2
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