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Richterliche Praxis, Paradigmen und Politische Justiz

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Zusammenfassung

Verlässt der EuGH seinen ihm vertraglich zugewiesenen Kontext und vollzieht so eine politische Rechtsprechung, dann können aus intergouvernementaler Perspektive schon minimale Abweichungen von mitgliedstaatlichen Absprachen zu politisch implosiven Widersprüchen führen, um empfindliche Konflikte und nicht kalkulierte Transaktionskosten unterschiedlicher Provenienz (Klump 2011, S. 183) beim Adressaten auszulösen. Der kooperativ von den „Herren der Verträge“ konzipierte Unionsvertrag folgt in etwa einem paretianischen Ergebnis, einem spieltheoretischen Win-win-Modell, das aber durch politisch unabhängige, nicht-kooperative Institutionen leicht aus dem Gleichgewicht gebracht werden kann. Die intergouvernementale Schule verbietet deshalb jegliche Abweichungen von deliberativ vereinbarten, kodifizierten Normen, weil sie als politisch intendierter Ausdruck mitgliedstaatlicher Arrangements gelten. Intergouvernementalisten fordern daher, dass der EuGH sich den normativ begründeten Interessen seiner Mitgliedstaaten unterzuordnen habe (Windolf 2000, S. 39). Der intergouvernementalen Forderung ist zu folgen, um aber weiterhin eindeutig zu klären, wann normative Abweichungen überhaupt stattfinden.

There is no need to give the European Economic Community power to legislate in the social field..

Ohlin-Report 1956

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Notes

  1. 1.

    EuGH, Urteil vom 10. Juli 2003 – C 472/00 P, Rs. Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Fresh Marine Company A/S, Slg. 2003, I-7541-7614, 7602 f, Rz. 26.

  2. 2.

    Aufgrund seiner Unabhängigkeit nach Art. 97 GG ist ein Richter nie Beamter. Ein Richter steht in einem besonderen Dienstverhältnis zum Staat. Beamte wie Staatsanwälte sind immer weisungsgebunden.

  3. 3.

    BVerfGE 75, Beschluß des Zweiten Senats vom 8. April 1987, 2 BvR 687/85, Zur Bindungswirkung von Vorabentscheidungsverfahren des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG), 223–246, 243 f.

  4. 4.

    Karl Larenz beantragte während seiner Karriere im Dritten Reich an der nationalsozialistischen Musterfakultät der Universität Kiel, der „Kieler Schule“ („Stoßtruppfakultät“), u. a. eine völkisch motivierte Änderung des § 1 BGB: „Rechtsgenosse ist nur, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse ist, wer deutschen Blutes ist.“ Nach Ende des Zweiten Weltkrieges erhielt Larenz an deutschen Universitäten wenige Jahre ein Lehrverbot. Sein Kollege und „Kronjurist des Dritten Reiches“, Carl Schmitt, erhielt wegen seiner vorbehaltlosen Affinität zum Dritten Reich faktisch ein lebenslanges Lehrverbot. Er bewarb sich ob seiner eleganten NS-Karriere nicht wieder für den Hochschuldienst. Gleichwohl widmete der als Richter am BVerfG tätige Böckenförde (1978) seinen Aufsatz zum 90. Geburtstag von Carl Schmitt.

  5. 5.

    Das geltende oder das positive Recht bedeutet das gesetzte Recht der Legislative und der Rechtsprechung. Das positive Recht ist ein lateinisches Lehnwort von ius positivum (ponere – setzen).

  6. 6.

    Die US-Bundestaatsdoktrin intendiert die Zusammenarbeit zwischen Bund und Gliedstaaten zur notwendigen Erfüllung nationaler Aufgaben (Annaheim 1992, S. 42).

  7. 7.

    Jurist Christian Hillgruber lehnt beide zitierten Doktrinen in dieser vom BVerfG vorgetragenen Pauschalität ab, weil sie das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung konterkarieren (Hillgruber 2012, S. 23).

  8. 8.

    Die Gruppe setzte sich zusammen aus Maurice Byé (Paris), T.U. Matthew (Birmingham), Helmut Meinold (Heidelberg), Bertil Ohlin (Stockholm), Pasquale Saraceno (Mailand), Petrus J. Verdoorn (Rotterdam). Maurice Byé kam mit seinem Minderheitsgutachten zu einem abweichenden Urteil.

  9. 9.

    Diese vom französischen Ministerpräsidenten ausschließlich auf Frankreich fokussierte Larmoyanz impliziert, dass (West-)Deutschland von der Weltwirtschaftskrise und dem Zweiten Weltkrieg ökonomisch profitiert hat.

  10. 10.

    Roland Vaubel weist darauf hin, dass mit der EEA (1987) eine vorsätzlich initiierte „Welle der europäischen Arbeitsmarktregulierungen in den neunziger Jahren auf das Binnenmarkt-Projekt… folgte“ (Vaubel 2007, S. 243). Zur empirischen Evidenz wie Einführung des Arbeitsumweltschutzes, Arbeitszeitrichtlinie oder Europäischen Betriebsrat etc. siehe bei Vaubel 2007, 248 ff; Zapka 2008.

  11. 11.

    Aktuell verfügt Frankreich über Kolonien wie Französisch-Guayana (Martinique, Guadeloupe), Französisch-Westindien (Neu-Kaledonien). Die nach politischer Unabhängigkeit strebende Insel Korsika, die nach Okkupation durch die einstige Republik Genua (Serenissima Repubblica di Genova) im Jahre 1769 als unabhängiges Land an Frankreich verkauft wurde, will ihren faktischen kolonialen Status abwerfen.

  12. 12.

    Um die abtrünnige Kolonie Algerien zu erhalten, formierte sich die Organisation de l’ armée secrète (OAS), die sich als französische Untergrundbewegung während der Endphase des Algerienkriegs bildete. Ihr Motto war: „L’Algérie est francaise et le restera“ (Kauffer 1986).

  13. 13.

    Bis zum Jahr 1975 stiegen die öffentlichen Ausgaben in Großbritannien von 30,4 % (1950) auf 46,1 % des BIP,, in Frankreich in dieser Zeit von 28,4 % auf 42,4 %, in der Bundesrepublik Deutschland von 30,8 % auf 45,6 %, Schweden von 37,5 % auf 51 %, in den Niederlanden von 27 % auf 54,3 %. Nur in der Schweiz gab es einen geringen Anstieg von 20,8 % auf 27,4 % (Hockerts 2011, S. 333). Bis etwa Ende der 1990er Jahren wurde dieser Anteil in verschiedenen Staaten bis zu 20 % (Finnland, Irland, Niederlande) gesenkt (Hockerts 2011, S. 353).

  14. 14.

    Der Aussage von Andreas Wagener steht ein kontroverses Bonmot gegenüber: „Politiker…benutzen die Ökonomen wie Betrunkene Laternen: sie suchen nicht Licht, sondern Halt“ (Felderer und Homburg 1999, S. 157).

  15. 15.

    Innerhalb eines halben Jahrzehnts stieg aus politischen Motiven der Preis für ein Barrel (159 Liter) Rohöl von drei US-Dollar auf zwischenzeitlich bis zu 38 US-Dollar und damit um etwa 1.300 %. Das OPEC-Kartell löste sich im Jahr 1982 auf, die Rohölpreise sanken. Die westlichen Industriestaaten reagierten mit geringeren Nachfragen durch Einsparungen im Konsum (Wärmedämmung an Gebäuden, verbrauchsschonende Motoren). Frankreich und Belgien kompensierten ihre Öleinsparungen durch den Ausbau von Atomkraftwerken.

  16. 16.

    Der Italiener und Vorsitzender des gleichnamigen Berichts zur Vollendung des Binnenmarkts, Paolo Cecchini, ist Jurist und war seit 1960 bei der Europäischen Kommission tätig. Als er das Forschungsprojekt zur Vollendung des Binnenmarktes übernahm, verließ er unmittelbar zuvor die Kommission. Später leitete er das vom Lobbyisten ERT finanzierte Forschungsprojekt „European Roundtable of Financial Services“ über die Liberalisierung von Finanzdienstleitungen in der EU.

  17. 17.

    Während meiner Assistenz eines MEP kamen Lobbyisten der Bundesarchitektenkammer mit ihrem Präsidenten Gerhart Laage nach Straßburg, um Richtlinien zur Produkthaftung zu verhindern, die bei Konstruktionsmängeln bis zu 30 Jahren nach Erstellung von Gebäuden Schadensersatzpflichten vorsahen. Im März 2011 deckte die britische Sunday Times ein Cash for laws-Skandal in Österreich auf. Der Politiker Ernst Strasser (ÖVP), Mitglied des Europäischen Parlaments, beeinflusste EU-Akte gegen Zahlungen durch Lobbyisten. Der korrupte Strasser gab sein Mandat darauf hin zurück.

  18. 18.

    Nach Schätzung bemühen sich 15.000 Lobbyisten in Brüssel um Durchsetzung ihrer Interessen (Haller 2009, S. 191).

  19. 19.

    Der Belgier Etienne Davignon war Kommissar für Binnenmarkt (1977–1985), Vize-Präsident der Kommission (1981–1985), ab 1989 Präsident des ERT, Vize-Präsident des Luxemburger Stahlproduzenten Arbed und des belgischen Stahlkonzerns Fortis, er besetzte mehrere lukrative Aufsichtsräte in der Großindustrie.

  20. 20.

    European Roundtable of Industrialists: Changing Scales. A Review Prepared for the Roundtable of Industrialists, June 1985, Paris, zitiert nach Holman 2000, S. 253.

  21. 21.

    Der ERT ist kein innovativ agierender Akteur. Vielmehr werden bereits marktbasierte Standortfragen seit etwa Ende der 1960er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland berücksichtigt. Das vornehmliche Anliegen des sich institutionell herausgebildeten „kooperativen Staates“ liegt in der Schaffung und Absicherung wirtschafts- und sozialpolitischer Rahmenbedingungen zum Vorteil effektiverer Wettbewerbsfähigkeit, Innovation und Standortqualität (Esser 1999, S. 135; Zapka 2007, S. 8–45). Dass diese politökonomischen Forderungen des ERT zustimmende Resonanzen in „politischen Kreisen“ auslösen, dokumentiert zugleich sein hohes Eigeninteresse.

  22. 22.

    Die Einführung der EWWU gilt mit allen ihren positiven wie negativen Konsequenzen auch als Mittel zur Perfektionierung des Binnenmarktes.

  23. 23.

    Beschluss des Rates vom 21. Oktober 2010 über Leitlinien für beschäftigungspolitische Maßnahmen der Mitgliedstaaten (2010/707(EU), ABl. EU L 308/46 vom 24. November 2010, Absatz 1, 4, 6.

  24. 24.

    DGB. Stellungnahme des Deutschen Gewerkschaftsbundes zur Konsultation der EU-Kommission über die künftige Strategie bis 2012, Berlin 2010.

  25. 25.

    Als Zielgröße wird zwar Kosteneffizienz im Binnenmarkt intendiert, jedoch verursacht die EU einen enormen kostenträchtigen bürokratischen Aufwand (Tichy 2012). Der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw) zufolge wird die deutsche Wirtschaft jährlich mit etwa 50 Milliarden Euro an Transaktionskosten belastet, wovon 25 Milliarden direkt von der EU verursacht werden (vbw. Die bayerische Wirtschaft, Bürokratiekosten durch EU-Vorschriften, Stand November 2011, www.vbw-bayern.de).

  26. 26.

    Freilich ist es bei staatlichem Nutzen doch möglich, die unabdingbar geltenden Grundfreiheiten effektiv zu begrenzen. Dieses Einverständnis dokumentiert die Richtlinie 2010/12/EU des Rates vom 16. Februar 2010 zur Änderung der RL 12/79/EWG, der RL 92/80/EWG und der RL 95/59/EG hinsichtlich der Struktur und der Sätze der Verbrauchssteuern auf Tabakwaren sowie der RL 2008/118/EG, ABl. EU L 50/1 vom 27.2.2010, die den Warenverkehr einschränkt. In der Erwägung 12 der Richtlinie heißt es: „Um Wettbewerbsverzerrungen und untragbare Verkehrsverlagerungen sowie sich daraus ergebene Einnahmeverluste für die Mitgliedstaaten zu vermeiden, die sowohl als wichtige Einnahmequelle als auch aus Gesundheitsgründen hohe Verbrauchssteuern anwenden, ist es notwendig, dass es diesen Mitgliedstaaten gestattet wird, für Zigaretten, die aus Mitgliedstaaten, für die ein Übergangszeitraum gilt, ohne zusätzliche Zahlung von Verbrauchssteuern in ihr Gebiet eingeführt werden können, Mengenbeschränkungen zu verhängen.“ Für den privaten Verbrauch ist die Einfuhr dieser Waren aus wettbewerblichen Gründen kontingentiert, was für den sozialen Bereich angeblich nicht möglich sein soll.

  27. 27.

    EuGH, Urteil vom 21.2.1973, Rs. 6/72, Europemballage Corporation und Continental Can Company Inc. gegen Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Slg. 1973, S. 215, 245.

  28. 28.

    Eine Differenzierung zwischen Markt und Politik ist praktisch ausgeschlossen. Jeder Markt wird mit politischen Instrumenten begleitet. Ein Markt steuert sich nicht von selbst. So sind gesellschaftlich notwendige Instrumente gegen Marktversagen wie das wettbewerbsschützende Kartellrecht vonnöten.

  29. 29.

    In Art. 3 Abs. 1 Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen, ABl. EG Nr. L 018 vom 21.1.1997, 1–6, wird ein „zwingender Grund des Allgemeininteresses“ verdeutlicht: So werden Arbeitsbedingungen wie Höchstarbeitszeiten, bezahlter Mindesturlaub, Mindestlohnsätze, Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz, Schutzmaßnahmen für Schwangere, Wöchnerinnen, Kinder und Jugendliche, Gleichbehandlung von Männern und Frauen garantiert.

  30. 30.

    EuGH, Urteil vom 5. Mai 1998, Rs. C 180/96, Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Nordirland gegen Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Slg. 1998, I-2269.

  31. 31.

    Gemäß § 7 SachvRatG werden die inoffiziell als „Fünf Weisen“ geadelten Ökonomen des Sachverständigenrats von der Bundesregierung vorgeschlagen und vom Bundespräsidenten berufen. Sie werden auf fünf Jahre gewählt, ihre Wiederwahl ist möglich. Wegen des in § 3 SachvRatG formulierten Erfordernisses ihrer politischen Unabhängigkeit dürfen sie nicht Repräsentant eines Wirtschaftsverbandes oder einer Arbeitgeber- oder Arbeitnehmerorganisation sein. Ihre Beschlüsse bedürfen nach § 8 SachvRatG der Zustimmung von drei Mitgliedern. Ihre Aufgabe besteht in der Analyse von wirtschaftlichen und sozialen Fehlentwicklungen und sie sollen nur Fehlentwicklungen und alternative Möglichkeiten zu ihrer Vermeidung vortragen. Mit diesem direkten Einfluss der politischen Entscheidungsträger besteht eine wohlwollende Perspektive, der zufolge geplante politische (Reform-)Interessen einer amtierenden Bundesregierung von ökonomischen Experten gestützt werden.

  32. 32.

    Johannes Popitz wurde am 2. Februar 1945 wegen seiner Kontakte zum politischen Widerstand von der NS-Justiz zum Tode verurteilt und gehängt.

  33. 33.

    Ziel von AVE ist die tarifvertragliche Bindung aller Arbeitsverhältnisse eines fachlichen und räumlichen Tarifbezirks auch ohne Mitgliedschaft (Kirsch 2003). Seit den 1990er Jahren wird es schwieriger, AVE durch-zusetzen. Der Grund liegt in rückläufigen Tarifbindungen vieler Unternehmen und Arbeitnehmer. AVE geraten „unter Druck, wenn tarifgebundene Arbeitgeber weniger als 50 % der unter dem Geltungsbereich des Tarifvertrages fallenden Arbeitnehmer beschäftigen. Es liegt… an den Arbeitgeberverbänden und den Betrieben selbst, ob und inwieweit sie die tariflichen Regelungen branchenorientiert vornehmen wollen“ (Sommer 2007, S. 14).

  34. 34.

    Frankreich scheint als Ausnahme zu gelten, da es als nicht reformwillig gilt und einen opulenten, stark defizitären Sozialstaat versorgt. Nach seiner Wahl als Staatspräsidenten im Sommer 2012 hob François Hollande soziale Restriktionen seines Vorgängers Nicolas Sarkozy trotz enormen Haushaltsdefizits auf (Bagus 2012, S. 23).

  35. 35.

    Hayeks Position zur „sozialen Gerechtigkeit“ wird als „Herabwürdigung“ stigmatisiert. Es sei ein „Wieselwort“, das eine „merkwürdige Mischung aus Wohlempfinden und Abscheu“ (Borchard 2013, 34 f) verursache. Ein Wiesel saugt Eier restlos aus und hinterlässt nur noch eine intakte Hülle.

  36. 36.

    Carl Schmitt (1888–1985) führte die juristische Theorie vom Dezisionismus in die staats- und verfassungs-theoretische Diskussion ein (Schmitt 1969). Danach sind Inhalt und Begründung einer Entscheidung weniger bedeutsam. Vielmehr ist die Entscheidung selber von Bedeutung.

  37. 37.

    Im Jahr 1978 musste der zwischen 1966–1978 als Ministerpräsident von Baden-Württemberg amtierende Hans Karl Filbinger (1913–2007) von seinem Amt zurücktreten. Als Marinerichter und Mitglied der NSDAP verurteilte er nach NS-Gesetzen am 16. März 1945 den erst 22 jährigen Matrosen Walter Kröger wegen Desertierens nach einer 1943 verhängten Gefängnisstrafe schließlich zum Tode – das Urteil wurde vollstreckt. Filbinger rechtfertigte mit stoischem Habitus sein Handeln durch den Gesetzespositivismus. Dieses kapitale Verbrechen gegen grundlegende Menschenrechte stigmatisierte nicht nur den zeitlebens uneinsichtigen Richter Filbinger zum „furchtbaren Juristen“ (Müller 1989).

  38. 38.

    Transaktionskosten sind Kosten, die durch Nutzung des Marktes beim Bestehen unterschiedlicher nationaler Regelungen entstehen. Sie werden auch als Marktbenutzungskosten (Ronald Coase) angesehen. Kosten entstehen nicht bei der Güterherstellung, sondern bei der Suche nach Transaktionspartnern. Dazu gehören Transport-, Verständigungs- oder Informationsbeschaffungskosten. Im Allgemeinen wird zur Rechtfertigung des Binnenmarktes auf das Phänomen der Senkung von Transaktionskosten hingewiesen, ohne aber tatsächlich entstehende Effekte zu benennen. Inwieweit stimulieren oder hemmen sie transnationale Beziehungen? Transaktionskosten sind Kosten, die durch Nutzung des Marktes um Beispiel beim Bestehen unter-schiedlicher nationaler Regelungen entstehen.

  39. 39.

    Beim Arbeitsumweltschutz rangiert der supranational hoch gelobte und ethisch bedeutsame Gesundheitsschutz von Arbeitnehmern allerdings hinter dem wettbewerblich induzierten Existenzschutz der KMU.

  40. 40.

    Bei der perfektionierten Vollendung des Binnenmarktes ist auch die EWWU zu berücksichtigen, der aber hier keine nähere Berücksichtigung zuteil kommt.

  41. 41.

    EuGH, Urteil vom 19. Mai 2011, Arthur Wiedemann gegen Land Baden-Württemberg und Peter Funk gegen Stadt Chemnitz, Rs. C-329/06, C-343/06 sowie C-334/06, C-336/06.

  42. 42.

    EuGH, Urteil vom 16.12.2010, C-137/09, Rs. Marc Michel Josemans vs. Burgermeesters van Maastricht, EuZW 6/2011, 219–226.

  43. 43.

    In Frankreich wird das Münchner Oktoberfest treffend als „fête de la bière“ bezeichnet und hebt die das Bewusstsein verändernde Droge hervor. Es wird primär gesoffen und erst dann krankgefeiert. Die Europäische Kommission plante sichtbare Etikettierungen alkoholischer Erzeugnisse. So kann Champagner wie „Cuvée Belle Epoque“ mit stigmatisierenden Warnungen versehen werden. Die EU scheint eine Gemeinschaft zu formen, die Genuss tabuisieren will. Andere Genussmittel wie Schokolade oder Kuchen verursachen sklerotische Effekte und die Volkskrankheit Karies, die in dieser Logik ebenfalls mit konsum-kritischen Etikettierungen verpönt werden könnten. Kraftfahrzeuge schädigen die menschliche Gesundheit und biologische Umwelt, so dass sie potentielle Objekte europäischer Intervention sind. Statt Rallyestreifen oder elegantes Schwarz ziert die Etikettierung „Autos gefährden die Umwelt“ zu 30 % der Karosserie einer Staatslimousine aus Untertürkheim. Diese opulente Etikettierung gilt für Tabakprodukte (Zapka 1990).

  44. 44.

    EuGH, Urteil vom 25. Oktober 1977, Metro SB-Großmärkte GmbH & Co. KG gegen Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Rs. 26/76, Slg. 1977, 1875–1933, Leitsatz 4.

  45. 45.

    Siehe dazu die vielfältig aufgelisteten Beispiele bei Spiegel-online vom 8. Februar 2010.

  46. 46.

    Die „Richtlinie 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.12.2006 über den Führerschein“, ABl. EU L 403/18 vom 30.12.2006, beabsichtigt ab dem Jahr 2013 eine für Führerscheine nur noch befristete Geltung von 15 Jahren. In Erwägung 1 der RL wird auf die Erhöhung der Verkehrssicherheit abgestellt, sie fördere die Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit. Nach Erwägung 9 der RL soll ein Nachweis körperlicher und geistiger Tauglichkeit zum Führen eines Kraftfahrzeuges durchgeführt werden. Nach Ablauf dieser Frist erfolgt ein gebührenpflichtiger Umtausch. Ein Mandat zur Verkehrspolitik besitzt die EU aber nicht. Welche wettbewerblichen Elemente im Binnenmarkt wollen die EU damit tatsächlich fördern? Dient es zur Umsatzmaximierung gesundheitlicher Dienstleister oder zur Förderung finanzschwacher Kommunen?

  47. 47.

    KOM (2010) 608 endg. vom 27.10.2010: Auf dem Weg zu einer Binnenmarktakte. Für eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft. 50 Vorschläge, um gemeinsam besser zu arbeiten, zu unternehmen und Handel zu betreiben, S. 4, 8.

  48. 48.

    KOM (2011) 206 endg. vom 13.4.2011.

  49. 49.

    So im Nachruf auf Freislers Tod nach einem Bombenangriff auf Berlin, in: Deutsche Justiz, Rechtspflege und Rechtspolitik. Hrsg. vom Reichsminister der Justiz, Ausgabe A, Nr. 3 vom 16. Februar 1945, S. 33.

  50. 50.

    Einige Urteile des EuGH lösen mächtige Kritiken aus, die an das Aufeinanderprallen zweier Kontinentalplatten mit entsprechenden Erschütterungen und Zerstörungen erinnern. Wie nach allen Beben legt sich nach einer gewissen Weile jegliche Kritik, ohne die dramatischen Ursachen tektonischer Verschiebungen zu beheben.

  51. 51.

    Im nationalen Kontext gelten die gleichen Referenzgrößen wie auf der europäischen Ebene.

  52. 52.

    EuGH, Urteil vom 21. September 1999, Rs. Albany International BV vs. Stichting Betrijfspensioenfonds, C-67/96, Slg. 1999, I-5751; EuGH, Urteil vom 21.9.1999, Rs. Brentjens Handelsonderneming BV vs. Stichting Betrijfspensioenfonds voor de Handel in Bouwmaterialen, C-115/97 bis C-117/97, Slg. 1999, I-6025; EuGH, Urteil vom 21.9.1999, Rs. Maatschappij Drijvende Bokken BV vs. Stichting Pensioenfonds voor de Vervoer- en Havenbetrijven, C-219/97, Slg. 1999, I-6121).

  53. 53.

    Dass Deutschland in diesen Angelegenheiten einer Laissez-faire-Methode nachkommt, geht aus einem Bericht (Lorz 2010) hervor. Danach greifen deutsche Akteure kaum in rechtliche Verfahren während ihres Entstehungsprozesses ein. In der Regel enthalten sie sich gehorsamst ihrer Stimme. In Brüssel entstand deshalb ein sarkastisches Bonmot: „German Vote“.

  54. 54.

    Die Gründung der EWG unter einem Friedensaspekt galt in den frühen 1950er Jahren als wichtiges Agens. Die ständigen friedenspolitischen Beteuerungen, hier sogar vom BVerfG, implizieren offensichtlich immer noch imperialistische Bestrebungen von Staaten. So erscheint die Integration als Zwangsjacke zur Vermeidung von Kriegen. Mittlerweile aber ist mehr als ein halbes Jahrhundert seit ihrer Gründung vergangen. Deutschland als verantwortliche Nation zur Auslösung zweier Weltkriege ist mit seiner bescheidenen Militärmacht in der NATO eingebettet. Zum andern besteht ein anderer historischer Kontext, der zumindest in großen Teilen Europas nicht auf imperialistische Ziele gerichtet ist. Mit der im Jahr 2010 verabschiedeten Lissabon-Strategie, die EU als wettbewerbsfähigste Region der Welt zu weihen, besteht ein eher ökonomischer Imperialismus, der nicht zwingend friedliche Ziele verfolgt.

  55. 55.

    Im Vertrag von Lissabon (Art. 49a EUV) ist zum ersten Mal ein Austrittsrecht der Mitgliedstaaten verankert worden. Zu den möglichen ökonomischen Auswirkungen siehe Lechner 2009.

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Zapka, K. (2014). Richterliche Praxis, Paradigmen und Politische Justiz. In: Der Europäische Gerichtshof. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-03947-9_5

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