Zusammenfassung
Käte Meyer-Drawe konstatiert zu Beginn ihres Beitrags, dass Blumenberg eine undidaktische Schreibkultur gepflegt habe, die seine Texte voraussetzungsreich und herausfordernd mache, damit aber zugleich das grundsätzliche Problem sprachlicher Äquivalenz bewusst halte, das sich gerade angesichts umgreifender Technisierung nicht umgehen lasse. Denn die von Blumenberg herausgearbeitete neuzeitliche Technisierung der Lebenswelt – in der Theorien nicht weiter zur Erklärung, sondern als entwerfende Vorwegnahme zur potentiellen Veränderung der Wirklichkeit dienen – betreffe auch das Feld der Erziehung. Pädagogisches Handeln trage eine neuzeitlich-technische Signatur, weil es sich hierbei um einen Vorgriff auf das handle, was aus dem Menschen zu machen sei. Eine Dämonisierung der Technik, der Blumenberg stets argwöhnisch gegenüberstand, muss sich hieran keineswegs anschließen. Problematisch erscheine aber, so Meyer-Drawe, die zunehmende Naturalisierung des Technischen, die gegenwätig in der Päagogik durch eine breite unkritische Rezeption neurowissenschaftlicher Literatur zum Ausdruck komme.
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Notes
- 1.
Zur Bedeutung von Blumenbergs Anthropologie vgl. Müller 2005 und 2011.
- 2.
- 3.
Frank Wistuba verdanke ich den Hinweis, dass der Ahornsamen in der Sicht der Bionik ein natürliches Vorbild für Propeller abgibt. Der Ahornsamen nutzt die Dynamik jedoch als Auf- und nicht als Abtrieb. Es bedarf allerdings eines Perspektivwechsels, um nicht länger Vögel als fliegende Vorbilder nachahmen zu wollen.
- 4.
Am Beispiel der Klingel veranschaulicht Blumenberg den Verbergungsprozess der Bedingungen sowie der Komplexität des Technischen. Die mechanische Klingel ermöglichte uns noch die Erfahrung des Zusammenhangs mit der eigenen Handlung, etwa im Ziehen der Schnur oder dem Drehen des Schalters. Die elektrische Klingel lässt unser Tun unspezifisch werden (man kann mit dem Finger, bei vollen Händen aber auch mit dem Ellenbogen oder sogar der Nase zudrücken) und verbirgt den menschlichen Funktionsanteil. Einsicht wird im wortwörtlichen Sinne unmöglich. Die Funktion dominiert (Blumenberg 1996a, S. 36 f.).
- 5.
Blumenberg zitiert hier Nietzsche: „Man geht zu Grunde, wenn man immer zu den Gründen geht.“ (Blumenberg 2006, S. 639).
- 6.
In den vorliegenden Erörterungen werden Sokrates und Platon in ihrem gemeinsamen Anliegen, einen reichen Bildungsbegriff zu entfalten, betrachtet. Es geht also nicht darum, ihre Differenzen zu bestimmen. Neben der Tatsache, dass die Literatur, die sich mit dieser Frage befasst, kaum noch zu überschauen ist, sollen Platons Bedenken ernst genommen werden, dass das Geschriebene „überall umher schweift“ und wohl nicht immer auf den Schutz des Vaters zählen kann. (Platon 1990, 275 d) Schließlich kann noch erwähnt werden, dass die für Platons Denken typische Ideenlehre, wie man sie auch immer deuten mag, im Höhlengleichnis keine entscheidende Rolle spielt. Zur Kritik an Blumenbergs Auslegung des Höhlengleichnisses vgl. Niehues-Pröbsting 1999; darauf Bezug nehmend Meyer-Drawe 2008; Niehues-Pröbsting 2012.
- 7.
Zu der herausragenden Bedeutung der Biopolitik in Maria Montessoris Reformkonzept vgl. Reiß 2012.
- 8.
Es ist hier nicht der geeignete Ort, um die wichtige Auseinandersetzung Blumenbergs mit dem Anfang wiederzugeben. Abermals ist Husserl ein wichtiger Herausforderer, weil er mit der transzendentalen Reduktion an einen Anfang des Erkennens gelangen will, und zwar nach Descartes‘ Vorbild. Es zeigt sich jedoch, dass es einen voraussetzungslosen Anfang nicht geben kann. Immer liegt ihm etwas voraus, so etwa die Lebenswelt dem Erkennen. Wie an anderen Stellen auch stößt man hier auf eine bemerkenswerte Ähnlichkeit zu Foucaults Kritik an der Anthropologie.
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Meyer-Drawe, K. (2016). Die Veränderung pädagogischen Denkens durch die Erfahrung mit Technik. In: Ragutt, F., Zumhof, T. (eds) Hans Blumenberg: Pädagogische Lektüren. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-03477-1_11
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