Zusammenfassung
Der Versuch, die gegenwärtige Lage mit Colin Crouch als „postdemokratisch“ zu beschreiben, wirft vor allem drei Probleme auf, über die auch der große Erfolg von Crouchs Entwurf nicht hinweghilft.
Auf das erste Problem wurde in der politikwissenschaftlichen Kritik fast zeitgleich mit dem Erscheinen des Essays vehement hingewiesen. Die Beschreibung der aktuellen Situation als „post“ – demokratisch setzt, so der Tenor dieser Kritik, voraus, dass irgendwann vorher eine konkrete gesellschaftliche Lage als „demokratisch“ zu bezeichnen ist, vor deren Hintergrund die „postdemokratische“ Situation normativ abfallen muss. Crouch sieht diese Lage tatsächlich „ungefähr in der Mitte des 20. Jahrhunderts“ in Erscheinung treten. Auch wenn Crouch schwankt, ob er den Status dieser Situation nun als idealtypisch oder utopisch verstanden oder doch konkret an die Organisation fordistischer Wohlfahrtsstaaten gebunden wissen will, hat die Kritik an Crouch zeigen können, dass mit der Postdemokratiethese fast unweigerlich eine fast nostalgisch zu nennende Überhöhung der westlichen Wohlfahrtsstaaten eintritt, mit der einige Faktoren, wie etwa das der bürgerschaftlichen Partizipation, in zu rosiges Licht getaucht und andere, wie etwa die ausbleibende Gleichberechtigung der Frauen, ganz ausgeblendet würden.
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Notes
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Dieses begriffliche Schwanken Crouchs arbeiten sehr genau heraus Eberl und Salomon (2013, S. 418, FN 2).
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Zu einer positiven Einschätzung der Postdemokratie-These vgl. aber immerhin den Beitrag von Jörke (2006). Jörke möchte die Postdemokratie-These als Folie verstanden wissen, vor der sich die ohnehin schon düstere Diagnose Schumpeters gegen heutige Verhältnisse absetzten lässt.
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Zudem scheuten die Politker*innen in der Krise des Fordismus den Schritt hin zu sinkenden Sozialausgaben und gingen in diese Richtung nur „halbherzig und zögerlich“ (Crouch 2011, S. 35).
- 5.
Das zeigt sich auch daran, dass Crouchs Therapievorschläge am Ende der Bücher zur Postdemokratie und zum Nicht-Sterben-Wollen des Neoliberalismus, in denen es um moralischen Druck auf Unternehmen und um Reformen in der Partizipation geht, blass bleiben. Sie sind sicher mehr als nichts, und dennoch bleibt die Demokratie so schon im Buch in der Defensive.
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- 7.
Vgl. zum Zusammenhang von Postdemokratiethese bei Rancière und Crouch und der räumlichen Reorganisation staatlicher Herrschaft: Wissen 2011.
- 8.
Vgl. die immer noch beeindruckende Studie von Fröbel et al. (1983).
- 9.
So entstünde ja bei einer zu schlichten Herangehensweise an diese Unterscheidung das Problem, dass eine kolonialisierte Weltordnung nach dem „all-subjected“-Prinzip zu befragen wäre, während der Erfolg postkolonialer Befreiungsbewegungen normative Ansprüche auf das – zumindest in Frasers Augen weniger aussagekräftige – „all affected“ – Prinzip reduzieren würden. Genau hier zeigt sich die Notwendigkeit, durch Periodisierung auch Geltungsansprüche in den Kontext anderer Kriterien zu stellen.
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Man könnte daraufhin meinen, wenn schon „Postdemokratie“ dann die von Ranciere …
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Prien, T. (2017). Probleme mit der Postdemokratie. In: Eberl, O., Salomon, D. (eds) Perspektiven sozialer Demokratie in der Postdemokratie. Staat - Souveränität - Nation. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-02724-7_4
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