Zusammenfassung
In diesem Beitrag argumentiere ich, dass sich die Beziehung zwischen Diskursanalyse und Kritik als eine äußerliche oder als eine integrierte Beziehung beschreiben lässt. In einer äußerlichen Beziehung liegt zuerst eine Kritik an bestimmten gesellschaftlichen oder politischen Verhältnissen vor, die dann durch eine Diskursanalyse gestützt wird. Doch solange die Beziehung äußerlich bleibt, ist schwer nachzuvollziehen, worin das spezifische kritische Potenzial einer Diskursanalyse bestehen soll, gerade weil die Kritik ja vor und unabhängig von der Diskursanalyse besteht. Erst wenn die Kritik durch die Diskursanalyse selbst zum Vorschein kommt, kann man von einer integrierten Beziehung sprechen: nicht mehr nur von Diskursanalyse und Kritik, sondern von Diskursanalyse als Kritik. Ich argumentiere, dass eine solchermaßen integrierte Beziehung dann sichtbar wird, wenn wir Diskursanalyse selbst als diskursive Formation denken und danach fragen, welche Erschütterungseffekte diese Formation auf ihre Forschungsgegenstände, auf Subjektformationen und auf die akademischen Produktionsverhältnisse hat.
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Notes
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Einen Eindruck hiervon vermitteln z. B. noch viele Beiträge in Konrad Ehlichs Band Diskursanalyse in Europa (Ehlich 1994), insbesondere der Beitrag zur Diskursanalyse in „der alten BRD“ (Becker-Mrotzek 1994). Siehe aber auch die Kritik von Emanuel Schegloff (1997, S. 184) an der Critical Discourse Analysis, in der Schegloff genauere formale Analyse einfordert.
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Ergänzen ließe sich noch, dass auch die theoretische Perspektive nicht in der Analyse selbst entsteht, sondern aus den Vorratsbeständen der Sozialtheorie oder anderer Disziplinen importiert wird. Allerdings ist dies gewiss die schwächste Aussage zur Vorgängigkeit der Kritik, weil die Bezugnahme auf bestehende theoretische Kategorien für jedes empirische Unterfangen – und Diskursanalysen sind ja zuallererst empirische Untersuchungen – zwangsläufig erfolgt, wenn man nicht in einen naiven induktiven Empirismus verfallen will.
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Man könnte dies aber auch ohne größere Probleme an anderen diskursanalytischen Ansätzen zeigen, z. B. an solchen, die sich stärker als die Kritische Diskursanalyse an Michel Foucault (Vogelmann 2014), an der Tradition der Wissenssoziologie (Keller 2005) oder an der hegemonietheoretischen Diskurstheorie Ernesto Laclaus (Nonhoff 2006) orientieren.
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Somit unterscheidet sich hier die frühe Kritische Theorie Horkheimers – aber Ähnliches könnte man auch von Adorno oder Marcuse sagen – von der optimistischeren (und präskriptiveren) Variante, die wir später in Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns (Habermas 1982[1981]) oder in Honneths Theorie der Anerkennung (Honneth 1992) finden.
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Diese Einschränkung der Sinnproduktion auf sprachliche Sinnproduktion wird nicht von allen Diskursanalysen geteilt. Insbesondere Analysen, die einen laclauschen Diskursbegriff zugrunde legen, verstehen alle Akte der Relationierung – also z. B. auch Anordnungen in der gegenständlichen Welt – als sinngebend und damit diskursiv, nicht nur sprachliche (Laclau und Mouffe 1985, S. 108). Die Sagbarkeit einer solchen Position ist aber umstritten, wie wiederholte Diskussionen um die Reichweite des Diskursiven zeigen (vgl. Dyk et al. 2014).
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Eine radikale Form der Kritik der Ungleichheit in verschiedenen Formen der kritischen Theorie und der kritischen Sozialwissenschaft hat Jacques Rancière vorgelegt; letztere folgen demnach einer „method of inequality, reasserting continuously the division between the learned ones and the ignorant ones“ (Rancière 2016, S. 135).
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Der vor einigen Jahren an der Universität Augsburg eingerichtete Master-Studiengang „Sozialwissenschaftliche Diskursforschung“ wurde mittlerweile in einen MA „Sozialwissenschaften: Konflikte in Politik und Gesellschaft“ überführt, in dem allerdings weiterhin die sozialwissenschaftliche Diskursforschung eine zentrale Rolle spielt.
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- 10.
Die Tagung fand 2008 in Oldenburg statt. Das Programm lässt sich hier finden: www.msw.uni-oldenburg.de/download/Programm_Diskursanalyse-1.pdf (Zugriff am 01.03.2018).
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Tatsächlich ist es so, dass jede wissenschaftliche Methode ihren Gegenstand nicht einfach vorfindet, sondern auf bestimmte Weise hervorbringen muss. Nur fällt diese Erkenntnis bei vielen anderen Methoden nicht in den Bereich der Sagbarkeit.
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Wir sind als DiskursanalytikerInnen natürlich nicht nur Teil der diskursiven Formation der Diskursanalyse, sondern der größere Formation der Wissenschaft mit all ihren Machteffekten. Wenn die diskursanalytische Kritik wirksam sein finden soll, dann muss sie bei aller Heterogenität nachvollziehbar bleiben, weshalb die methodologisch-methodische Stringenz einzelner Analysen durchaus erstrebenswert ist.
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Nonhoff, M. (2019). Diskursanalyse und/als Kritik. In: Langer, A., Nonhoff, M., Reisigl, M. (eds) Diskursanalyse und Kritik. Interdisziplinäre Diskursforschung. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-02180-1_2
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