Zusammenfassung
Die Beschäftigung mit Katastrophen ist auch für die Scheiternsforschung hoch plausibel; können Katastrophen doch als dramatische Form gescheiterter Leistungserstellung verstanden werden.
Für instruktive Nachfragen und Kommentare zu früheren Fassungen dieses Textes danke ich Tobias Kohl und Christof Wehrsig sowie den Teilnehmern an einem Autorenworkshop zur Vorbereitung dieses Bandes.
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Notes
- 1.
Die hier verwendeten Bezeichnungen (Normalfall, Unfall, Naturkatastrophe, Katastrophaler Unfall) decken sich nichtzwi.ngend mit dem alltagsweidich üblichen Gebrauch entsprechender Bezeichnungen. Sie dienen aber auch lediglich als Kurzformen der jeweils erläuterten Voraussetzungen und Beobachtungskonstcllationen. Sie wären also ebenso gut durch andere zu ersetzen.
- 2.
Die Tatsache, dass es Feuerversicherungen gibt, kann dies verdeutlichen: Einerseits wird Bränden weiterhin – in zeitlicher und sozialer Hinsicht – ein Ausnahmecharakter zugeschrieben, der es überhaupt erst ermöglicht, durch den Verkauf von entsprechenden Versicherungspolicen Geld zu verdienen und damit dieses spezielle Angebot sichert. Andererseits kommen Brände aber regelmäßig genug vor, um die Möglichkeit eines Brandes – in sachlicher Hinsicht – antizipieren und sich mittels einer entsprechenden Versicherung darauf einstellen zu können.
- 3.
Zu den Unterscheidungen Risiko/ Gefahr und Entscheider/ Betroffene siehe Luhmann (1991, S. 111-134) sowie unten die Ausführungen zu Unfällen des Typ-4.
- 4.
Es ist wichtig zu sehen, dass eine ursächliche Zurechnung des konkreten Katastrophenereignisses auf konkrete Organisationen nicht möglich ist. Die Folgen können aber in gewissem Umfang durchaus auf Organisationen zugerechnet werden. So etwa, wenn Rettungsorganisationen vermeintlich nicht schnell genug gehandelt haben, wenn mit der Evakuierung betraute Organisationen ‚versagen‘ oder wenn für die Prävention zuständige Organisationen keine effektive Prävention sicherstellen. Man erinnere sich an den Hurrikan.Katrina‘, der am 29. August 2005 über New Orleans hinweg zog. Weite Teile der Stadt wurden überschwemmt und angesichts der offensichtlichen Überforderung der staatlichen Rettungs- und Hilfsorganisationen gerieten die verantwortlichen Stellen in die Kritik, obwohl sie das Unwetter gar nicht ausgelöst hatten (vgl. dazu Derthick (2007) und Farazmand (2007)).
- 5.
Im Anschluss an unsere Ausführungen zum Typ-1 können wir auch formulieren, dass Katastrophale Unfälle von der Gesellschaft nicht normalisiert sind, weil sie auch in sachlicher Hinsicht überraschen.
- 6.
Ein wesentlicher Vorwurf war z. B., dass in Deutschland entsprechende Auffangbecken bereits installiert waren und das Problem somit hätte bekannt sein müssen.
- 7.
Empirisch lässt sich zeigen, dass häufig mehrere Organisationen am Zustandekommen Katastrophaler Unfälle beteiligt sind (siehe nochmals Clarke (1989)). Nur aufgrund dieser Multikausalität stellt sich überhaupt die Frage der (divergierenden) Zurechnung, in deren Folge entsprechende Verantwortungszurechnungen schließlich auch umstritten sein können. Dass in diesem Beitrag dennoch Einzelorganisationen fokussiert werden, ist insofern unproblematisch, als es hier allein auf die spezifische Sozialposition ankommt – die in jedem Fall auch mehrfach besetzt sein kann.
- 8.
Im Kontext westlich geprägter Demokratien finden Diskussionen um die Legitimität von Personen mit Verweis auf die verfassungsmäßig garantierten Menschenrechte schnell ein Ende. Historisch besehen ist dieser menschenbezogene Legitimitätsschutz jedoch auch für Hochkulturen keine Selbstverständlichkeit. Im Römischen Reich etwa verloren römischeBürger, welche durch Verrat die Sicherheit Roms gefährdeten, jeden Rechtsstatus. Sie konnten somit straffrei ausgeraubt oder getötet werden. Siehe hierzu Agamben (2004, S. 94 f.).
- 9.
Typisch ist die Konzeptualisierung von Organisationen als korporative Akteure auch im Ansatz des Akteurszentrierten Institutionalismus. Siehe hierzu etwa Mayntz und Scharpf (1995).
- 10.
Hans Geser (1990) schlägt vor, Organisationen als „sekundäre Akteure“ zu beschreiben. Worauf es uns ankommt, ist vor allem, dass Organisationen von ihrer Umwelt beobachtet werden, als ob sie Akteure seien. Ein Aspekt, der in seinen Folgen vom ‚objektiven Status‘ organisierter Sozialsysteme unabhängig ist.
- 11.
- 12.
Diese Entgrenzung der Zurechnungsfähigkeit und Verantwortlichkeit bedeutet nicht, dass entsprechende Zurechnungen auf Organisationen zwangsläufig erfolgen müssen. Im Gegenteil: Unten wird deutlich werden, dass sie sogar zum Thema von Konflikten avancieren können. Es zeigt sich aber nicht mehr und nicht weniger, als dass entsprechende Zurechnungen strukturell nicht blockiert oder begrenzt werden.
- 13.
Technologie meint hier nicht allein technische Großanlagen mit ihrem Potential physischer Schäden, sondern verweist allgemein auf Mechanismen der organisationalen Leistungserstellung. So wäre z. B. auch der Einsatz derivativer Finanzgeschäfte als Technologie zu verstehen, deren ‚Scheitern‘ zum organisationalen Leistungsausfall führen kann.
- 14.
Ein anderer Aspekt der Kompetenzerwartung betrifft die Erwartung Organisationen könnten die Leistungserstellung für ihre Umwelt sicherstellen. Auch in der Unterbrechung dieser Leistungserbringung kann sich die Enttäuschung der Kompetenzerwartung manifestieren.
- 15.
Im Anschluss an Johan Galtung (1959) unterscheidet Niklas Luhmann (1971; 1972, S. 40 ff.) zwischen normativem und kognitivem Erwartungsmodus. Der zentrale Unterschied zwischen beiden Erwartungsmodi liegt im Umgang mit der Enttäuschung jeweiliger Erwartungen. Kognitiver und normativer Erwartungsmodus entsprechen den beiden prinzipiellen Möglichkeiten auf die Enttäuschung einer Erwartung zu reagieren: „Man kann dies durch Anpassung der Erwartung an die Enttäuschungslage (Lernen) tun oder genau gegenteilig durch Festhalten der Erwartung trotz Enttäuschung und Insistieren auf erwartungsgemäßem Verhalten“ (Luhmann 1984, S. 397).
- 16.
Zu dem komplexen Verhältnis von Experten und Laien siehe Wynne (1996).
- 17.
Der regelmäßig zu findende Verweis von Organisationen auf menschliches Versagen kommt vermutlich auch deswegen so häufig vor, weil die Toleranz für menschliche Fehler vergleichsweise hoch ist und sie als nicht ausschaltbar gelten.
- 18.
Bekanntermaßen hat vor allem das Programm des Neo-Institutionalismus herausgestellt, dass Organisationen auf Akzeptanzzuschreibungen durch ihre Umwelt angewiesen sind. Diese Legitimität wird Organisationen demnach zugesprochen, wenn sie Konformität mit gesellschaftlichen Erwartungen demonstrieren können, was angesichts heterogener Umwelten und widersprüchlicher Erwartungen erst durch Ent- bzw. loser Kopplung von organisationaler Formal- und Aktivitätsstruktur ermöglicht wird (Meyer und Rowan 1977; DiMaggio und Powell 1983). Legitimität wird hier zur Bezeichnung eines Problems verwendet, um dessen Entfaltung es im Folgenden geht.
- 19.
Mark C. Suchman (1995, S. 579 f.) spricht mit Blick auf Fragen, die die Folgen des Organisationshandelns betreffen von „moral legitimacy“.
- 20.
Damit unterscheidet sich dieser Fall auch sichtlich vom Kontext politisch-rechtlicher Regulierung, in dem das Legitimitätsproblem in erster Linie darin besteht, bei der Umstrukturierung von Umwelterwartungen – also der Adressierung von Lernzumutungen an die Umwelt – mit Akzeptanz rechnen zu können. Siehe dazu Luhmann (1972, S. 261).
- 21.
Man vergleiche nur die Dokumentation von BP als Reaktion auf die Verschmutzung des Golf von Mexiko im Zuge des Deepwater-Horizon-Desasteis (http://www.bp.com/extendedsec- tiongenericarticle.do?categoryld = 40&contentld = 7061813; letzter Abruf: 20.10.2010)
- 22.
Zur Differenz von Verantwortung als Unsicherheitsabsorption und Verantwortlichkeit als Zurechnungsprinzip siehe Luhmann (1964, S. 172-190).
- 23.
Zu diesem Authentizitätsproblem siehe auch Japp (2010).
- 24.
Skandalisierbar sind allenfalls die Folgen, sei es aufgrund mangelnder Prävention oder defizitärer Reaktion. Beides verweist aber auf Organisationen. Siehe dazu auch oben die Fußnote 4 sowie die Beiträge in Hartman und Squires (2006).
- 25.
So kann z. B. BP für das Desaster der Deepwater Horizon verantwortlich gemacht und gleichzeitig neue Genehmigungen für Tiefseebohrungen vergeben werden. Siehe dazu SZ vom 20. Oktober 2010, S. 16.
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