Zusammenfassung
Peter Schallberger und Alfred Schwendener nehmen eine vergleichende Analyse der Organisationsverordnungen zweier kantonaler Jugendheime in der Schweiz vor und prüfen, welche Haltung des Gesetzgebers sich darin jeweils ausdrückt und inwiefern dem sozialpädagogischen Handeln eine professionelle Autonomie zugestanden wird. Die Autoren gelangen zu dem Ergebnis, dass sich die beiden Gesetzestexte in Bezug auf die genannten Fragen grundlegend unterscheiden.
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Notes
- 1.
Die Begriffe „Professionalität“ und „professionelles Handeln“ werden im vorliegenden Beitrag spezifisch im Sinne der soziologischen Professionsforschung in der Tradition von Weber, Parsons und Oevermann verwendet. Das Konzept der Professionalisierungsbedürftigkeit bestimmter beruflicher Tätigkeiten nimmt in Oevermanns Strukturmodell von Professionalität eine zentrale Stellung ein (vgl. Oevermann 1996, 2002, 2009).
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Die Organisationsverordnungen der beiden Einrichtungen schliessen deren Nutzung für den Vollzug jugendstrafrechtlich verfügter Strafen nicht gänzlich aus. Diese Möglichkeit wird indes aus Gründen, die hier nicht weiter erörtert werden sollen, in Einrichtung B nicht und in Einrichtung A nur in seltenen Ausnahmefällen genutzt.
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Eine differenziertere Position in dieser Frage vertritt Becker-Lenz (2010). Die von ihm vorgelegte Analyse wirft die Frage auf, ob Konfusionen zwischen Strafe und Pädagogik erst in der professionellen Praxis entstehen oder ob sie, wie Becker-Lenz argumentiert, in den Bestimmungen des Jugendstrafrechts bereits angelegt sind.
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Auf die vieldiskutierte Frage, ob im Rahmen eines Zwangssettings professionelles Handeln überhaupt möglich ist respektive ob ein „professionalisierungsbedürftiges“ Handeln im Rahmen eines Zwangssettings auch „professionalisierungsfähig“ ist, kann hier nicht eingegangen werden. Eine pointierte Position vertritt Oevermann (1996), dessen Rekonstruktion der Struktur pädagogischen Handelns in die Forderung mündet, die allgemeine Schulpflicht aufzuheben. Die Soziale Arbeit erachtet Oevermann nur unter der Bedingung einer systematischen Entkoppelung von Hilfe- und Kontrollfunktionen für professionalisierungsfähig (vgl. Oevermann 2000b).
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Charakteristisch für professionelle Beziehungen in der Sozialen Arbeit ist in der Regel nicht, wie des Öfteren simplifizierend unterstellt wird, ein Machtgefälle, sondern ein Mündigkeits- oder Autonomiegefälle zwischen Professionellen und Klienten. Diese Unterscheidung macht es überhaupt erst möglich, etwa den sexuellen Missbrauch oder die Misshandlung von Kindern systematisch in anderen Kategorien zu thematisieren, als Mobbing oder sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz.
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Die entsprechende Bestimmung lautet: „Der Direktor oder die Direktorin entscheidet über den Erlass, die Änderung und die Aufhebung der Hausordnungen, Konzepte und Reglemente und legt sie der Aufsichtsbehörde zur Genehmigung vor.“
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Der analoge Artikel im Reglement für das Jugendheim [A] lautet: „Die Mitarbeitenden sorgen für die Einhaltung der Heimregeln, sind interessiert an der Entwicklung der Jugendlichen und tragen im Rahmen ihrer Aufgabenbereiche zur Erreichung der Entwicklungsziele bei. Die Beziehungsgestaltung mit den Jugendlichen beruht auf einer fordernden, klaren und konsequenten Haltung“. Bei der Sequenzanalyse zeigt sich, dass der Gesetzgeber nicht die ganze Person der Jugendlichen respektive deren Mündigkeitsentwicklung im Kopf hat, wenn er von der „Entwicklung der Jugendlichen“ spricht, sondern schlicht deren buchhalterisch registrierbaren Fortschritte bei der Einhaltung der Heimregeln. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang insbesondere der Plural der „Entwicklungsziele“.
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- 9.
Einrichtung B war Teil des Samples von Schweizer Heimeinrichtungen, die wir im Rahmen eines vom Schweizerischen Nationalfonds (NFP 58) geförderten Forschungsprojekts untersuchten, das auf die Rekonstruktion unterschiedlicher Ausgestaltungsformen professionellen Handelns in der Heimerziehung abzielte. Die Befunde, die sich auf unterschiedliche organisationale Selbstverständnisse beziehen, werden in Schallberger (2011) zur Darstellung gebracht. Einrichtung A untersuchten wir im Rahmen einer durch die Jugendanwaltschaften des Kantons A angeregten und durch das Jugendheim selbst in Auftrag gegebenen Forschungsarbeit. Zusätzliche Interviews mit Jugendlichen in den beiden Einrichtungen führte Alfred Schwendener im Rahmen seines Dissertationsprojekts, das sich mit der Genese und Struktur von Jugendgewalt befasst.
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Schallberger, P., Schwendener, A. (2015). Gesetzgeberisch eingebremste Professionalität?. In: Becker Lenz, R., Busse, S., Ehlert, G., Müller-Hermann, S. (eds) Bedrohte Professionalität. Edition Professions- und Professionalisierungsforschung, vol 3. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-00352-4_7
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