Kraft und Rheologie

Zusammenfassung

Die Abschätzung der in der Lithosphäre auftretenden Kräfte ist eine der wichtigsten Aufgaben eines jeden Geologen, der ein dynamisches Modell für seine Beobachtungen entwerfen will. Nur so läßt sich überschlägig berechnen, ob ein hypothetisches Modell im Bereich des Möglichen liegt. Hierfür sei ein Beispiel genannt: Ein Geologe findet in einem präkambrischen Schild Falten und Überschiebungen, die er als Ergebnis der Einengungstektonik während einer unbekannten Orogenese interpretiert. Aus einer Verformungsanalyse schließt er, daß während dieser Deformationsphase eine 70% ige Verkürzung stattfand und die Krustenmächtigkeit um das Dreifache zunahm. Daraufhin zeichnet er eine Serie kinematischer Profile der Krustenverdickung, und stellt fest, daß die Kurven des letzten Profils so aussehen wie die im Gelände beobachteten geologischen Strukturen. Aus der interpretierten Krustenmächtigkeit zieht er den Schluß, daß damals ein Gebirge mit einer kaum glaubhaften Höhe von 15 km aufgebaut wurde. Jetzt fehlt ihm nur der Beweis, daß plattentektonische Kräfte überhaupt in der Lage sind, Gebirge dieser Höhe aufzufalten! In diesem Fall können wir zwar intuitiv argumentieren, daß es nirgendwo auf der Erde ein 15 km hohes Gebirge gibt und die Geländedaten anders interpretiert werden müssen. In vielen anderen, nicht so offensichtlichen Fällen bedarf es aber einer Abschätzung der tektonischen Kräftekonstellation, um zu prüfen, ob das (mit den Geländebeobachtungen übereinstimmende) Modell geologisch überhaupt möglich ist. In diesem Kapitel werden solche Abschätzungen durchgeführt. Dazu ist eine kurze Wiederholung der physikalischen Grundlagen der Themen Spannung und Verformung notwendig.