Zusammenfassung
H Bevor wir uns auf Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831)1 im einzelnen einlassen, scheint es mir sinnvoll, vorab einige Aspekte zu klären, die ein Verständnis des Hegeischen Denkens erleichtern können. Zum ersten ist Hegel durch und durch ein Philosoph der Sozialität, was auch bedeutet, daß er sich gründlich mit der Geschichte auseinandersetzt, denn in der Geschichte zeigen sich die sozialen und politischen Ordnungsformen, die von der Menschheit hervorgebracht wurden. Hegel ist insofern ein eminent historischer Denker. Überhaupt nimmt er seinen Ausgangspunkt nicht in der Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften, sondern in der Beschäftigung mit Fragen der politischen Verfassung und des historisch gewachsenen sittlichen Lebens der Menschen.
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Notes
Hegel wird nach der leicht zugänglichen Ausgabe seiner Werke im Suhrkamp-Verlag (1970 u. ö.) zitiert und zwar unter Nennung des Titels bzw. einer Titelabkürzung und/oder Angabe der Bandnummer. Abgekürzt zitiert werden folgende Werke: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse (1821) = Rph bzw. Rechtsphilosophie (der Text der Rechtsphilosophie gliedert sich in Paragraphen, Anmerkungen—Anm. —und von Hegels Schüler Eduard Gans vorgenommene Zusätze—Zus., = Werke, Band 7); Phänomenologie des Geistes (1807) = Phän. (= Werke, Band 3). Als allgemeine Einführung in die Philosophie Hegels sei auf M. Gessmann, Hegel, 1999 sowie H. Schnädelbach, Hegel zur Einführung, 1999, verwiesen. Ausführliche Darstellungen und Interpretationen der Hegel-schen Philosophie aus jüngerer Zeit sind V. Hösle, Hegels System. Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität, zwei Bände, 1988, zur Rechts-und Staatsphilosophie Hegels Band II, 412 ff. und C. Taylor, Hegel, 1978. Taylor hat ein zweites, weniger umfangreiches Werk vorgelegt, das sich vornehmlich mit Hegels sozialphilosophischem und politischem Denken auseinandersetzt: Hegel and modern Society, 1979. Auch die kurzweilige, leicht lesbare englische Einführung von P. Singer, Hegel, 1983 behandelt vor allem Hegels sozialphilosophisches und politisches Denken. Eine gründliche Darstellung von Leben und Werk Hegels gibt H. Althaus, Hegel und Die heroischen Jahre der Philosophie. Eine Biographie, 1992. Eine wichtige Interpretation des politischen Denkens Hegels ist die Studie von S. Avineri, Hegels Theorie des modernen Staates, 1976. Die vorliegende Darstellung orientiert sich in vielen prinzipiellen Aussagen an Avineris Studie. Von Avineri stammt auch der vorzügliche Artikel über Hegel in der Blackwell Encyclopaedia of Political Thought, hg. von D. Miller, 1987, 196 ff. Ein gutes Hilfsmittel für die Auseinandersetzung mit Hegels Begrifflichkeit ist M. Inwood, A Hegel Dictionary, 41996, dessen Wert für den deutschen Leser gerade darin besteht, daß es in englischer Sprache verfaßt ist. In den Beiträgen des Sammelbandes von L. Siep (Hg.), G.W.F. Hegel. Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1997, werden einzelne Abschnitte der Hegeischen Rechtsphilosophie interpretiert. Als wichtige Studien zu Einzelfragen seien aus der unübersehbaren Literatur genannt: H.-G. Gadamer, Hegels Dialektik. Sechs hermeneutische Studien, 21980; N. Hartmann, Aristoteles und Hegel, in: ders., Kleinere Schriften II, 1957, 214 ff.; O. Marquard, Hegel und das Sollen, in: Philosophisches Jahrbuch 72 (1964), 103 ff.; A. T. Peperzak, Hegels praktische Philosophie. Ein Kommentar zur enzyklopädischen Darstellung der menschlichen Freiheit und ihrer objektiven Verwirklichung, 1991; T. Petersen, Subjektivität und Politik. Hegels „Grundlinien der Philosophie des Rechts” als Reformulierung des „Contrat Social” Rousseaus, 1992; M. Riedel, Bürgerliche Gesellschaft und Staat bei Hegel. Grundprobleme und Struktur der Hegeischen Rechtsphilosophie, 1970; G. Rohrmoser, Hegels Lehre vom Staat und das Problem der Freiheit in der modernen Gesellschaft, in: Der Staat, 3 (1964), 391 ff.
Dies gilt namentlich für Popper und seine Kritik Hegels in: K. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 2., Falsche Propheten: Hegel, Marx und die Folgen, 71992 und in anderer Weise für E. Topitsch (s. unten Anmerkung 25).
Zu Hegels kritischer Auseinandersetzung mit Kant als einer der Grundlagen seines Denkens noch immer lesenswert der entsprechende Abschnitt in G. Lukäcs 1948 erstmals veröffentlichter Arbeit: Der junge Hegel. Über die Beziehungen von Dialektik und Ökonomie, 1973, Bd. 1, 239 ff. S. auch Bd. 2, 445 ff.
Siehe Kant, Zum ewigen Frieden, B 92, A 87.
Siehe Taylor, Hegel and modern Society, 11 ff. und T. Z. Lavine, From Socrates to Sartre: the Philosophie Quest, 1984, 202 ff. Das Hegel-Kapitel in Lavines Buch (185 ff.) stellt eine klare Einführung in Hegels Denken dar.
Zur Romantik etwa das einschlägige Stichwort im Hist. Wb. Philos., Bd. 8, Sp. 1076 ff.
Man kann sich dann darauf verlassen, daß „Hegel... Hegeische Begriffe... meist im Hegel-schen Sinne zu gebrauchen [pflegt]”, wie H.-G. Gadamer einmal bemerkt (H.-G. Gadamer, Hegels Dialektik, 61, Fn. 8).
G.W.F. Hegel, Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Wissenschaften (1802/1803), in: ders., Werke, Band 2, 1986, 434 ff., hier 435.
G.W.F. Hegel, Wer denkt abstrakt? (1807), in: ders., Werke, Band 2, 575 ff.
Das Beispiel findet sich mehrfach in Hegels Schriften, so etwa auch in: G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik (1812 ff), Werke, Band 5, 146.
G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (postum 1837/1840 u. ö. veröffentlicht), Werke, Band 12, 32.
Dazu ausführlich G.W.F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse I (1830), Werke, Band 8, 169 ff.
Zu Hegels Freiheitsbegriff etwa Hösle, Hegels System, Bd. 2, 468 ff., R. Pippin, Hegel, Freedom, The Will. The Philosophy of Right: §§ 1-33, in: L. Siep (Hg.), G.W.F. Hegel, 31 ff.
G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 30.
Einen ausgezeichneten Einblick in die entsprechenden Theorien Meads vermitteln die beiden Aufsatzbände G. H. Mead, Philosophie der Sozialität. Aufsätze zur Erkenntnisanthropologie, 1969; ders., Sozialpsychologie, eingel. und hg. v. A. Strauss, 1969; einige der dort abgedruckten Arbeiten sind leichter zugänglich in den von H. Joas edierten Bänden: G. H. Mead, Gesammelte Aufsätze, 2. Bde., 1987. Zu Piaget seien genannt: J. Piaget, Jean Piaget—Werk und Wirkung, 1976; ders., Nachahmung, Spiel und Traum. Die Entwicklung der Symbolfunktion beim Kinde (= Gesammelte Werke, Studienausgabe, Bd. 5), 31993.
Zur entsprechenden „Dialogik eines freiheitsphilosophisch aufgeklärten Eheverhältnisses” R. Gröschner, in: H. Dreier, Grundgesetz, Bd. 1, 1996, Art. 6, Rn. 25.
S. etwa Rph§ 133, Zus.
Zur Interdependenz von Gesinnungsethik und Zweckethik bei Kant C. Dierksmeier, Das Noumenon Religion. Eine Untersuchung zur Stellung der Religion im System der praktischen Philosophie Kants, 1998, 52 ff.
So den Hegeischen Gedanken knapp zusammenfassend A.T. Peperzak, Hegels Pflichten-und Tugendlehre. Eine Analyse und Interpretation der Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 142-156, in: Siep (Hg.), G.W.F. Hegel, 167 ff., hier 171.
Siehe B. Priddat, Hegel als Ökonom, 1990.
So meint etwa Popper, daß „die Staatsgewalt immer ein gefährliches, wenn auch notwendiges Übel bleiben” müsse. Popper, Die offene Gesellschaft, Bd. 2, 152. Eine im bezeichneten Sinne typisch liberale Position vertritt auch O. Höffe, z.B. in der Arbeit: Den Staat braucht selbst ein Volk von Teufeln: ein Dilemma der natürlichen Gerechtigkeit, in: ders., Den Staat braucht selbst ein Volk von Teufeln. Philosophische Versuche zur Rechts-und Staatsethik, 1988, 56 ff., bes. 57 ff.
Dazu etwa Rohrmoser, Hegels Lehre vom Staat, 395: „Die Hobbessche Theorie des Staates versteht Hegel als den Begriff des Staates, den er... den Not-und Verstandesstaat genannt hat”.
Dazu die von D. Henrich herausgegebene Nachschrift der Rechtsphilosophie-Vorlesung Hegels: G.W.F. Hegel, Philosophie des Rechts. Die Vorlesung von 1819/20 in einer Nachschrift, hg. v. D. Henrich, 1983, 147 ff.
Dies ist die überzeugend begründete These der Arbeit von Petersen, Subjektivität und Politik.
R. Heym, Hegel und seine Zeit. Vorlesungen über Entstehung und Entwicklung, Wesen und Werth der Hegel’schen Philosophie (1857), 1962; Popper, Die offene Gesellschaft, Bd. 2; E. Topitsch, Die Sozialphilosophie Hegels als Heilslehre und Herrschaftsideologie, 21981. An Topitschs Interpretationsmuster schließt sich die von ihm betreute Dissertation H. Kiesewetter, Von Hegel zu Hitler, 1974 an (erweiterte Ausgabe u.d.T. Von Hegel zu Hitler. Die politische Verwirklichung einer totalitären Machtstaatstheorie in Deutschland (1815-1945), 1995).
Zur Kritik der Hegel-Kritik siehe etwa Avineri, Hegels Theorie des modernen Staates, 141 ff. und passim sowie M. Theunissen, Die Verwirklichung der Vernunft. Zur Theorie-Praxis-Diskussion im Anschluß an Hegel, 1970, 2 ff.
Popper schreibt, er habe nicht die Absicht zu erklären, warum Hegels Denken von so großem Einfluß gewesen ist, sondern es gehe ihm darum, „dieses Phänomen […] zu bekämpfen” (Popper, Offene Gesellschaft, Bd. 2, 38). Die Weigerung, sich ernsthaft inhaltlich mit Hegel auseinanderzusetzen, findet eine Erklärung unter anderem wohl in Poppers Angst, sich „bei der Beschäftigung mit diesem skandalösen Gebilde [gemeint ist Hegels Werk, G] zu beschmutzen” (ebenda, 94).
E. R. Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, 31978, 77.
Näheres bei R. Gröschner, in: H. Dreier, Grundgesetz, Bd. 2, 1988, Art. 20 (Sozialstaat), Rn. 5.
L. von Stein, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, Band 3 (1850), 1959, 104.
Siehe dazu Avineri, Hegels Theorie des modernen Staates, 231 ff, H. Ottmann, Die Weltgeschichte (§§ 341-360), in: Siep (Hg.), G.W.F. Hegel, 267 ff., hier 268 ff.
Daß eine solche Gegenüberstellung von Hegel und Kant in bezug auf die Problematik von Krieg und Frieden nur bedingt rechenschaftsfähig ist, zeigt überzeugend H.-C. Lucas, „[…] eine Aufgabe, die nach und nach aufgelöst, ihrem Ziele beständig näher kommt”. Geschichte, Krieg und Frieden bei Kant und Hegel, in: D. Hüning/B. TuscMing (Hg.), Recht, Staat und Völkerrecht bei Immanuel Kant, 1998, 247 ff., hier 252 ff. Zum folgenden ebenda 259 ff. und ders., „Es giebt keinen Prätor zwischen Staaten”. Zu Hegels Kritik an Kants Konzeption, in: K.-M. Kodalle (Hg.), Der Vernunftfrieden. Kants Entwurf im Widerstreit. 1996. 53 ff.
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Gröschner, R., Dierksmeier, C., Henkel, M., Wiehart, A. (2000). Hegel und die Wirklichkeit der Freiheit. In: Rechts- und Staatsphilosophie. Springer-Lehrbuch. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-57214-2_12
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