Zusammenfassung
Gegensätzlicher hätte die Entwicklung nicht sein können: Während im 20. Jahrhundert die Naturwissenschaften und insbesondere die Biowissenschaften einen enormen Erkenntnisgewinn erlebten, hat sich die – vor allem deutschsprachige – Kriminologie von diesen Wissenschaften in einem Befreiungsakt bewusst abgesondert. In der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts bis in die 1950er Jahre war Kriminologie vor allem Kriminalbiologie. Dann fand die konsequente Loslösung von den Biowissenschaften statt. Gerade zu dieser Zeit, in der Mitte des Jahrhunderts, begann aber eine rasante Entwicklung der Biowissenschaften; viele der neu gewonnenen Erkenntnisse können auch ein neues Licht auf das Verhalten des Menschen werfen, auch auf sein abweichendes Verhalten: die Synthese zwischen Evolutionsbiologie und Populationsgenetik, die Entdeckung der DNA als Träger der biologischen Information, die enormen Fortschritte der Molekularbiologie und der Entwicklungsbiologie und die Aufschlüsselung des menschlichen Genoms. Technischer Fortschritt hat neue Verfahren ermöglicht, die die Vorgänge im Innern des lebenden Organismus beobachtbar machen und so einen Eindruck vermitteln zum Beispiel von der Arbeitsweise des Gehirns als der Schaltzentrale für alles menschliche Verhalten. Die Diskussion um die Willens- und Handlungsfreiheit des Menschen ist dadurch neu entflammt. Evolutionsbiologie, Paläoanthropologie sowie Soziobiologie und zuletzt Evolutionspsychologie stellen den Menschen in den großen Zusammenhang der Evolution aller Organismen und versuchen, Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung menschlichen Verhaltens zu formulieren.
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- 1.
Siehe bereits Beeman, 1947.
- 2.
Siehe dazu unten Kap. 2.2.
- 3.
Die Notwendigkeit der Rezeption moderner biokriminologischer Erkenntnisse ergibt sich bereits daraus, dass mutmaßliche und später möglicherweise belegte Zusammenhänge zwischen körperlichen Merkmalen und einer (kriminellen) Verhaltensdisposition zu bestimmten kriminalpolitischen Präventions- und Kontrollmaßnahmen verlocken: Es liegt nahe, Menschen mit als kriminogen erkannten körperlichen Merkmalen unter verstärkte Beobachtung zu stellen. So wurde zum Beispiel in den 1960er Jahren vermutet, dass ein zusätzliches Y-Chromosom bei Männern zu einer erhöhten Gewaltneigung führe, siehe Jarvik et al. 1973, S. 679 ff. Dieser heute als falsch erkannte Zusammenhang brachte in den 1970er Jahren Bostoner Ärzte dazu, neugeborene Jungen auf das Vorliegen dieser Chromosomenaberration zu untersuchen und ihre Entwicklung in einer Längsschnittstudie zu verfolgen. Diese Stigmatisierung dürfte durch den Mechanismus der sich selbst erfüllenden Prophezeiung wohl tatsächlich zu Verhaltensauffälligkeiten der erfassten Jungen geführt haben, siehe Gould, 1988, S. 153 f.
- 4.
Siehe zum Beispiel die bisher einzige deutschsprachige Gesamtdarstellung von Hohlfeld, 2002, bzw. die englischsprachigen Rowe, 2002, und Raine, 1993.
- 5.
Siehe dazu Mayr, 1961.
- 6.
Diese Prämisse wird in der modernen Kriminologie gerade – zum Teil vehement – abgelehnt, s. etwa Kunz, 2004, § 18 Rn. 23 f., Albrecht, 2005, § 7C.I sowie auch Kap. 2.1.
- 7.
Siehe etwa Fetchenhauer, 2006; Ellis u. Walsh, 1997; Daly u. Wilson, 1997.
- 8.
Siehe Thornhill u. Palmer, 2000, S. 164 ff., 180 f.
- 9.
Exemplarisch Mezger, 1942, S. 78, 115 f., 240.
- 10.
So etwa Sack, 1978, S. 267 ff.; Albrecht, 2005, § 3 III § 7.
- 11.
Siehe nur Kaiser, 1996, § 1 Rn. 1.
- 12.
Gilgenmann u. Schweitzer, 2006, S. 350.
- 13.
Siehe für die Kriminologie z. B. Albrecht, 2005, § 7 C.I; Kunz, 2004, § 18 Rn. 23 f.; Sack, 1978, S. 207.
- 14.
So, wenn betont wird, dass z. B. die frühkindliche neuronale Verschaltung des Gehirns von den Lebens- und Erfahrungsumständen einer jeden Person abhängig und damit kulturell geprägt ist. Dies bezeichnet die „Soziologisierung des Biologischen“, siehe dazu Kreissl, 2005, S. 308 ff.
- 15.
Dies bedeutet nicht, dass Evolutionsforscher oder Naturwissenschaftler Atheisten sein müssen. Ein Beispiel für die Synthese von Evolution und christlichem Glauben bietet der Paläontologe und Evolutionsforscher Simon Conway Morris, der sich gegen das Regieren des Zufalls in der Evolution und insbesondere bei der Entwicklung des Menschen richtet, siehe Conway Morris, DIE ZEIT 2004, http://www.zeit.de/2004/35/Morris-Interview?page=all. Nach seiner Vorstellung ist die darwinistische Evolution der Mechanismus, mit dem eine schon im Urknall angelegte, planvolle Entwicklung des Lebens abläuft. Grundlegend anders freilich Dawkins, 2007. Zum Verhältnis von christlichem Glauben und Evolutionstheorie siehe Kutschera, 2006, S. 262 ff.
- 16.
Das Konzept der Emergenz geht nach Mayr, 2000, S. 42 ff., davon aus, dass „in einem strukturierten System auf höheren Integrationsebenen neue Eigenschaften entstehen, die sich nicht aus der Kenntnis der Bestandteile niedrigerer Ebenen ableiten lassen.“ Dieses Konzept spielt in zahlreichen Wissenschaften eine wichtige Rolle und ist am leichtesten zugänglich in der Chemie: Wasser, das als H2O aus den Atomen Wasserstoff und Sauerstoff besteht, hat ganz andere Eigenschaften als die beiden Ausgangsstoffe und auch andere, als sich aus der Kombination der beiden Stoffe vorhersagen ließe. Das System entwickelt eine Eigendynamik. Dies gilt auch für Systembildungen in der Soziologie, bei der die Addition der Eigenschaften der Mikroebene (Individuum) nicht identisch ist mit den Eigenschaften der Makroebene (Gesellschaft). Für die Kultur bedeutet dies, dass sie andere Eigenschaften und Entwicklungsrichtungen generiert als sich aus den Eigenschaften der die Kultur bildenden Individuen voraussagen ließe.
- 17.
Gilgenmann u. Schweitzer, 2006, S. 350.
- 18.
Siehe dazu Güth u. Kliemt, 2006, S. 71 ff. Die Übertragung eines der biologischen Evolution nachgebildeten Selektionsmechanismus auf die Konkurrenz von Wirtschaftsunternehmen geht zurück auf Alchian, 1950, S. 213 ff. Dabei setzen sich nur die Unternehmen durch, die sich optimal verhalten.
- 19.
Gilgenmann u. Schweitzer, 2006, S. 350.
- 20.
Siehe etwa die Typisierung und Definition bei Kaiser, 1996, § 64 Rn. 2, wonach sich Vergewaltigung und sexuelle Nötigung in die Grundform der Sexualdelikte des „unangepassten Handlungsmodus“ fassen lassen: „Hierher gehören die Vergewaltigung und die sexuelle Nötigung, bei denen weder im Triebziel noch im Triebobjekt von sozial anerkannten Verhaltensmustern abgewichen wird, bei welchen vielmehr die gesellschaftlich normierten Grenzen der Zielverfolgung überschritten werden.“
- 21.
Thornhill u. Palmer, 2000, S. 165 f.: „Rape, like any other behavior of living things, is biological.“
- 22.
Siehe auch Dennett, 1997, S. 683 ff.
- 23.
Dobzhansky, 1973.
- 24.
Siehe dazu Dennett, 1997, S. 635 ff.
- 25.
Kutschera, 2006, S. 265.
- 26.
Siehe Mayr, 2000, S. 321 ff., 331 ff.
- 27.
Dies erinnert an Lombrosos Auffassung vom Rückfall des geborenen Verbrechers auf frühere Stufen der Evolution, siehe Lombroso, 1876, S. 2, 10, 96. Nach dieser Sicht wäre Kriminalität ein Durchbruch der biologischen Seite des Menschen und damit ein Versagen der die Natur des Menschen klein haltenden Kultur. Siehe dazu Kap. 5.5.2.
- 28.
Dies entspricht der herrschenden Grundauffassung der modernen Darwinisten, die davon ausgehen, dass die Entwicklung aller Arten und ihrer Merkmale, und damit auch das Erreichen der menschlichen Kultur, sich kontinuierlich, das heißt ohne größere und damit unerklärbare Sprünge, vollzogen hat. Es herrscht Gradualismus, kein Saltationismus, siehe Mayr, 2000, S. 321 f. Es gibt keine, vom amerikanischen Philosophen Daniel Dennett so genannten, „Himmelshaken“ (sky hooks), an denen sich die Entwicklung hoch oder weiterziehen kann, siehe Dennett, 1997, S. 108.
- 29.
Es bleibt nur der Bereich des pathologischen Verhaltens, der etwa durch die §§ 20, 21 StGB abgesteckt wird, und in dem organisch bedingte Abweichungen von der Norm durch Mediziner und Psychiater zu analysieren und zu behandeln sind.
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Diese Sichtweise wurde begründet von Tooby u. Cosmides, 1992.
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Das bekannteste Beispiel: Vor einigen Hunderttausend Jahren sei es sinnvoll gewesen, möglichst viel Fett zu sich zu nehmen, um den Nährstoffbedarf angesichts knapper Ressourcen zu decken. Heute hätten wir immer noch ein evolviertes und daher schwer zu bändigendes Verlangen nach fettreicher Nahrung, das uns angesichts des Überangebots an Nahrungsmitteln mit Übergewicht und Herzproblemen zu schaffen macht.
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Siehe jeweils nur Ellis u. Walsh, 1997, und Jones, 1999.
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Laue, C. (2010). Einleitung. In: Evolution, Kultur und Kriminalität. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-12689-5_1
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