Zusammenfassung
Folgt aus der bloßen Tatsache, am Leben zu sein, dass man ‚wirklich‘ lebt? Von Platon über die Stoa bis hin zur modernen existenziellen Reflexion Kierkegaards, Pessoas oder Canettis und zur gegenwärtigen Apologetik einer zeitgemäßen Lebenskunst zeigt sich eine tiefgreifende Beunruhigung, die sich an dieser Differenz entzündet: Am Leben zu sein und ‚wirklich‘ zu leben ist zweierlei. Wer keinen Begriff davon hat, was letzteres eigentlich besagt, riskiert womöglich eine Art Tod, von dem äußerlich aber nichts zu erkennen ist, gab Pessoa zu bedenken (vgl. Pessoa 2006: S. 474; Liebsch 2011a). Um Begriffe ist die Philosophie freilich nicht verlegen. Platon demonstrierte, dass nur die Gerechtigkeit als Telos oder als immanenter Sinn (wie wir heute sagen würden) eines wirklich gelebten Lebens in Betracht kommen kann – eine Gerechtigkeit, über die jenseits des Todes ein endgültiges Urteil gefällt werden wird (vgl. Liebsch 2010). Hobbes und Spinoza gingen von der Selbsterhaltung aus, von der sie glaubten, sie allein liege im Geschehen nicht nur menschlichen, sondern allen Lebens als dessen einziges teleologisches Moment begründet. Im 20. Jahrhundert schließlich, etwa bei Sigmund Freud und Carl Schmitt, stoßen wir auf einen Intensitätsbegriff des Lebens. Wenn das Leben anders nicht ungeschmälert zu leben ist, suche dir einen Feind, der dich ‚seinsmäßig‘ zu negieren scheint und daher den intensivsten Konflikt heraufbeschwört, empfahl Schmitt seinen Lesern. Einig war man sich aber weitgehend darin, dass es in einem wirklich gelebten Leben ‚um Leben und Tod‘ gehen muss, sei es umwillen der schieren Selbsterhaltung, der Gerechtigkeit oder der Intensität eines Lebens, das, wenn es sich nicht tödlich bedroht weiß oder bewusst riskiert wird, am Ende schal werden muss wie ein amerikanischer Flirt, bei dem ‚nichts vorfallen darf‘, wie Freud meinte.
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Liebsch, B. (2012). Grenzen der Lebbarkeit eines sozialen Lebens. In: Ricken, N., Balzer, N. (eds) Judith Butler: Pädagogische Lektüren. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-94368-8_12
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