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Die Welt in Prozessen: Ausgehandelte Bedeutungen und Intersubjektive Welten

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Einführung in die interaktionistische Ethnografie
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Zusammenfassung

Jacques Attali (2003) bemerkt, die Grundidee eines Werkes sollte sich zunächst in einigen Sätzen, dann in einigen Absätzen, und letztlich als Text in Langform ausdrücken lassen. Wir möchten damit beginnen, die dieser Einführung zugrundeliegenden Ideen erst in einigen Absätzen explizieren, um dann zügig zu einem Beispiel zur Interpretationspraxis zu gelangen: Als Pragmatisten vertreten wir den Standpunkt, dass emulierte Praxis eine wesentlich bessere Einführung bietet als theoretische Exposition. In Folge werden wir dann wieder zu diesen Ideen zurückkehren und sie in einer ausführlicheren Schleife, an Interessefelder gebunden, darstellen.

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Notes

  1. 1.

    Eine Feldnotiz gibt eine im Forschungsfeld beobachtete Interaktion wieder. Ethnografie kann Berge solcher Notizen sammeln, siehe Kapitel 5 zu Feldnotizen und Analysen.

  2. 2.

    Jedoch wurde lange bemerkt, dass der Pragmatismus auf alten Grundfesten steht. Das reicht in kürzeren Linien zu Dilthey (Prus 1996: 35), in längeren Linien wurde die Denkrichtung bis in die Antike verfolgt und an Aristoteles angeschlossen.

  3. 3.

    Das operationale Wort ist dabei natürlich „abstrakt“. Jede Idee einer „abstrakten“ Unterscheidung will nicht ganz zu der pragmatistischen Idee von lokalen, aus pluralen Welten herausgeschnitztem, zielorientiertem und kontextualem Wissen passen. An abstrakten Theorievergleichen und -differenzierungen interessierte Vertreter soziologischer Theorie werden sich an einer solchen Vermengung stören, Vertreter des Pragmatismus, die sich nicht als Interaktionisten sehen (und umgekehrt) möglicherweise ebenso (auch wenn wir das weiterhin kurios fänden), aber die praktische Zielsetzung dieses Werkes führt uns dazu, dieser Irritation nicht zu folgen. Goffman hat Versuche, Theorievergleiche dieser Art zu schreiben, als „Scholastik“ abgewertet (Lofland 1984: 11). Die gegenwärtig real existierende interaktionistische Praxis nimmt sich den Wunsch Goffmans zu Herzen, nicht scholastisch über die abstrakten Grenzen zwischen ähnlichen Perspektiven zu reden oder „echte“ von „falschen“ Vertretern abzugrenzen: Fragen wie „ist das noch Interaktionismus oder schon Ethnomethodologie?“ oder „ist Goffman Interaktionist?“ gelten in gegenwärtigen Arbeiten von Interaktionisten (d. h. vielen Mitgliedern der SSSI) schlimmstenfalls als Verschwendung von Zeit, die mit Analysen der praktischen, niemals abstrakten Alltagswelt verbracht werden könnte (Lofland 1984: 11). Auch wenn Alex Dennis Unterscheidungen dieser Art erst kürzlich aufgegriffen hat (2011: er nennt beide „radikal unterschiedliche Perspektiven“) folgen wir dem nicht. Wir halten sie für abstrakte Diskussionen, die ohne konkrete „Chips im Spiel“ sinnlos bleiben. In konkreten Settings kann eine Unterscheidung praktischen Nutzen bringen, aber ohne konkrete Situation bleibt es eine Sesseltheoretisierungsaktivität (Best 1993). Ethnografen teilen hier häufig Goffmans „große Abscheu für Theoriereden, aber große Liebe zur Theorie: Dazu nämlich, sich Gedanken zu machen, wie die Welt funktioniert“ (Lofland 1984: 12). Debatten über Theorievergleiche und -abgrenzungen gehören nicht zu diesen Gedanken und reißen vor allem Gräben zwischen heute tief verwobenen, „befreundeten“ Wissenschaftlerinnen, für die wir gegenwärtig keinen Sinn sehen.

  4. 4.

    „Plausibel“ ist derweil nicht dasselbe wie „richtig“: Auch andere plausible Erklärungen können gefunden werden, die genauso gut funktionieren.

  5. 5.

    Erfahrenes Dienstleistungspersonal ist in der Lage, offen eine solche untergeordnete Rolle einzunehmen und währenddessen die Situation dennoch weiträumig zu kontrollieren (Prus 1992, 1994).

  6. 6.

    Es ist hierbei wichtig, festzuhalten, dass die Erkenntnis des ersten Abschnitts – Bedeutungen sind soziale Leistungen – auch für die Bedeutung „Zugehörige/r einer Gruppe“ gilt. Exakt sollte nicht von Zugehörigkeiten gesprochen werden, sondern von sozial vermittelten und ausgehandelten Zugehörigkeitsunterstellungen (Dellwing 2008a).

  7. 7.

    Das ist tatsächlich, so wird übereinstimmend berichtet, die Art, mit der man Goffman begegnen musste, um von ihm in seine Gruppe inkludiert zu werden. Goffman ist routiniert neuen Bekanntschaften (vor allem jenen im niedrigeren Status) mit verletzenden Angriffen begegnet. Wer sich verletzt gezeigt hat, hatte damit die Chance auf Goffmans Respekt verspielt: Er erwartete Widerstand, einen Gegenangriff, der mindestens so frech war wie der Angriff, den Goffman zunächst gewagt hatte.

  8. 8.

    Weite Teile der interaktionistischen Soziologie und auch der Ethnomethodologie haben sich mit diesen Versuchen befasst, und sie bieten exzellente Thematiken für Ethnografien. In der Ethnomethodologie ist die Praxis des Krisenexperiments die Methode, um eine Situation zu einer von den Teilnehmern unstrukturierten zu machen und in der Folge ihre heftigen Reaktionen abzuwarten. Im Interaktionismus wurden aligning actions (Stokes/Hewitt 1976) Anpassungshandlungen, als Formen untersucht, verlorene strukturierende Fassung wiederherzustellen, zum Beispiel durch die Entwicklung von Motivreden, das seltsame Handlungen wieder „normal“ machen kann (Mills 1940, Blum/McHugh 1971, Albas/Albas 2003). Für das Einfangen langfristiger und schwerwiegender Unordnung durch strukturierendes Reden ist die Zuschreibung einer psychisch gestörten Identität eine wesentliche Methode (Scheff 1973, Goffman 2007 [1974]). Kleine Unordnung oder Fehl-Ordnung dagegen wird in kleinen Gesten eingefangen (Goffman 1967, Dellwing 2012a).

  9. 9.

    Handlung kann tatsächlich nicht nicht weitergehen: Wir handeln, solange wir leben. Was das also praktisch heißt ist, dass eine Form der Handlung im Konflikt gegen die Wand gefahren und durch eine andere Art der Handlung ersetzt wird, bei der jetzt als Objekt der gemeinsamen Bezugnahme nicht mehr dasselbe wie zuvor ist, sondern gerade die Tatsache des Konflikts zum gemeinsamen Bezugsobjekt wird: Jetzt wird diskutiert, gestritten, oder geschmollt.

  10. 10.

    Das heißt nicht, dass Geschlecht, Aussehen etc. die Räume ihrer Handlungen in einem strikten Sinne begrenzen: nur, dass einige Unterstellungen ihnen gegenüber sehr schnell und stark geschehen, so dass Versuche, sie zu ändern, sehr weit hergeholt scheinen werden (hergeholt zu sein scheinen) und damit schwierig sein können. Mit anderen Worten: Sie sind in der Regel sehr viel arbeitsaufwändiger auszuhandeln. Aber nur in der Regel, nicht immer: Man trifft auf Menschen, deren Unterstellungen doch ganz unerwartete sein können. Es bleibt immer ein offenes Spiel.

  11. 11.

    In der amerikanischen Alltagsinteraktion existiert hierzu die Abgrenzungs-Vergemeinschaftungs-Hybridform des „I love you, but …“ (Abermet 2011). Auch wenn diese Abgrenzung bei gleichzeitiger Vergemeinschaftung erlaubt ist, ist sie in Konfliktsituationen weiterhin prekär: Vor Publikum, mit dem sich stattdessen ohne solche Janusspiele (vgl. Dellwing 2012a) vergemeinschaftet würde, wäre „I love you, but“ immer noch eine öffentliche Parteinahme gegen die geliebten, aber nicht unterstützen Personen.

  12. 12.

    Das geschieht im Rahmen einer Abgrenzung von Habermas, dem Shalin (während er die Pluralität des Pragmatismus und den Platz für unterschiedliche Konzeptionen konzediert) letztlich vorhält, keinen Sinn für Kontingenz und Chaos zu haben und zu sehr von der Idee der Angleichung, der rationalen Ausgänge, der Überwindung von Streit und Konflikt beseelt zu sein.

  13. 13.

    Das ist politisch oft der Fall. Kandidaten der republikanischen Partei in den USA sind beispielsweise gegenwärtig verpflichtet, „Abtreibung“ als „verwerflich“ zu definieren; jedenfalls ist das die Begrenzung, die von der Gruppe der Wähler, zumindest ihrer medialen Sprachrohre, mit Hilfe massiver Skandalisierung von Abweichlern durchgesetzt wird.

  14. 14.

    Damit ist der „historische Situationalismus“ des Pragmatismus mit der Evolutionstheorie verwoben: Auch in dieser geht es nicht um „Weiterentwicklung zum höher Stehenden“ oder um lineare, vorgeplante Entwicklungslinien, sondern um die ganz zufällige Veränderung, die sich in einem Kontext als nützlicher erweist und ebenso zufällig überlebt.

  15. 15.

    Hier sind auch in Ethnografien Gespräche sinnvoll, in denen solche Bedeutungszuschreibungen aufgedeckt werden können, s. u.

  16. 16.

    Michael Borer unterrichtet an UNLV in Las Vegas, und es ist Las Vegas, in dem „peoplewatching“ als Aktivität untersucht wurde. Las Vegas besitzt eine Strahlkraft für Soziologen: Goffman war zugelassener Casino-Dealer in Las Vegas und hat dort lange Feldbeobachtungen durchgeführt.

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© 2012 VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden

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Dellwing, M., Prus, R. (2012). Die Welt in Prozessen: Ausgehandelte Bedeutungen und Intersubjektive Welten. In: Einführung in die interaktionistische Ethnografie. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-94265-0_2

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-531-94265-0_2

  • Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden

  • Print ISBN: 978-3-531-18268-1

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