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Sozialkonstruktivistische Wissenssoziologie

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Das Interpretative Paradigma
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Zusammenfassung

Etwa zur gleichen Zeit, als sich die von der Chicago School kommende Generation der „jungen Rebellen“ aufmachte, eine symbolisch-interaktionistische Soziologie des Konkreten zu entwickeln, arbeitete in den USA an der New School for Social Research der österreichische Sozialphänomenologe Alfred Schütz an seiner Grundlegung der Soziologie. Schütz, der aus Wien kam, hatte dort zunächst begonnen, die theoretischen Grundlagen der sinnverstehenden Soziologie Max Webers im Rekurs auf die philosophischen Phänomenologien von Edmund Husserl und Henri Bergson genauer auszuarbeiten. Wegen der Bedrohung durch die nationalsozialistische Judenverfolgung war er zur Auswanderung gezwungen. In den USA kam er u. a. in Kontakt mit der Philosophie des Pragmatismus und der Parsonschen Handlungstheorie. Zunächst versuchte er, mit Talcott Parsons, der an einer „allgemeinen Theorie des Handlungssystems“ arbeitete (vgl. Junge 2007) in eine Diskussion über soziologische Handlungsbegriffe einzutreten, doch dieses Unterfangen scheiterte an der großen Diskrepanz der beiden Ansätze. Zunehmend beschäftigte sich Schütz mit dem Verhältnis zwischen der Konstitution der Welterfahrung im individuellen Bewusstsein einerseits und den sozialen Bedingungen dieses Konstitutionsprozesses in Form gesellschaftlich erzeugter und individuell angeeigneter bzw. verfügbarer Wissens- und Zeichenvorräte andererseits. In gewissem Sinne handelt es sich um eine Ausarbeitung der Seite der Bewusstseinsprozesse, die bei Mead zugunsten der Theorie der interaktiven Erzeugung signifikanter Symbole in den Hintergrund getreten war. Schütz spricht dabei von „Zeichen“, von „Auslegungsrelevanzen“ und von „Wissen“, nicht im allgemeinen Sinne von Symbolen, wie Mead.

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Notes

  1. 1.

    Es gibt einen Streit darüber, ob sich die Positionen von Mead und Schütz ergänzen oder widersprechen. Hier wird ersteres vertreten. Vgl. z. B. das Interview von Jo Reichertz (2004) mit Hans Georg Soeffner.

  2. 2.

    Eine Diskussion des Verhältnisses von Mead zu verschiedenen phänomenologischen Ansätzen findet sich bei Bergmann und Hoffmann (1985); die pragmatistischen Grundlagen der Schützschen Lebenswelttheorie werden bei Srubar (1988, 2007) erläutert.

  3. 3.

    Schütz (1971c, S. 331 ff. [1955]) setzt sich hier mit den Theorien von Alfred Whitehead, William James, Charles Morris, Ernst Cassirer, Susanne Langer u. a. auseinander. Leitend für seine Diskussion und die weiter unten noch zu diskutierende von ihm vorgeschlagene Zeichentheorie ist die Orientierung am „pragmatischen Motiv“ der „natürlichen Einstellung im Alltag“ und insgesamt die Rezeption der pragmatistischen Theorien von James, John Dewey oder George Herbert Mead (vgl. Schütz 1971b, c). Neben den erwähnten Autoren ist auch seine Auseinandersetzung mit Positionen von Gottfried Wilhelm Leibniz, Max Scheler und Jean Paul Sartre für die Ausarbeitung seiner eigenen phänomenologischen Position bedeutsam (Schütz 1971, S. 113 ff.).

  4. 4.

    Vgl. zur Erläuterung dieser phänomenologischen Methode der „eidetischen Reduktion“ Eberle (1984, 1999) sowie insgesamt zu „Menschenbild und Methode der Sozialphänomenologie“ auch Kurt (2002).

  5. 5.

    Zu solchen Fragen sehr grundsätzliche Überlegungen hat Friedrich Nietzsche in seinem 1887 erschienenen Text „Genealogie der Moral“ angestellt (Nietzsche 2004 [1887]). Charles W. Mills erklärte die Untersuchung des Zusammenhangs von situiertem Handeln und „Motivvokabularien“ zur zentralen Aufgabe der Wissenssoziologie (Mills 1940).

  6. 6.

    Max Scheler (1874–1928) brachte sehr früh in der wissenssoziologischen Tradition die Idee der „relativ-natürlichen Weltanschauung“ ein. Vgl. Scheler (1980 [1926]).

  7. 7.

    Vgl. zu diesen Punkten auch die Ausführungen von Mead zum Prozess der Rollen- oder Perspektivenübernahme (s. o. Kap. 3.1).

  8. 8.

    „Diese Leistung der Sprache beruht auf der Festlegung der Darstellungsfunktion der Zeichen, ihrer semantisch-taxonomischen Erstarrung im System.“ (Schütz und Luckmann 1984, S. 208)

  9. 9.

    Dieser Symbolbegriff ist also eingeschränkt und unterscheidet sich von demjenigen, den Mead benutzt. Meads „signifikante Symbole“ umfassen alle vier Zeichentypen, sofern ihre Bedeutung gesellschaftlich stabilisiert ist (auf Zeit). Mead betont damit die soziale Formung und Voraussetzung des Zeichengebrauchs; Schütz geht es hier um den Verweisungszusammenhang, den ein Zeichennutzer/-interpret mit dem Zeichen in Verbindung bringt. Das setzt die soziale Konventionalisierung im Sinne von Mead voraus.

  10. 10.

    Vgl. etwa Schütz (1973a, S. 110; 1973b, S. 250, 256; 1973c, S. 323). In der deutschen Übersetzung werden verschiedene Begriffe zur Übertragung von „universe of discourse“ („gemeinsame Sprache“, „Welt des Dialogs“ u. a.) benutzt. In keinem Fall taucht das Konzept selbst auf.

  11. 11.

    Die sehr unglückliche deutsche Übersetzung der Passage lautet: „(…) Sobald der Wissenschaftler sich aber entschieden hat, betritt er die bereits vorkonstituierte Welt wissenschaftlichen Denkens, die ihm von der historischen Tradition seiner Wissenschaft überliefert worden ist. Von nun an wird er an einer Welt des Dialogs teilnehmen. Diese umfaßt die Ergebnisse, die von anderen erarbeitet, Probleme, die von anderen gestellt wurden, Lösungen, die andere vorgeschlagen und Methoden, die andere entwickelt haben. (…).“ (Schütz 1971b, S. 288; Herv. d. Verf.)

  12. 12.

    Auch hier wählt die deutsche Übersetzung einen anderen Begriff. So lautet die entsprechende Passage: „(…) Theoriebildung (ist) erstens nur innerhalb einer Welt wissenschaftlichen Dialogs möglich, die dem Wissenschaftler als Ergebnis fremder theoretischer Handlungen vorgegeben ist.“ (Schütz 1971b, S. 294)

  13. 13.

    Als Beispiel für ein „Höchstmaß an Übereinstimmung“ gelten ihm „hochformalisierte und standardisierte Fachsprachen“. In der deutschen Übersetzung lautet die oben zitierte Passage so: „Je größer der Unterschied zwischen ihren Relevanzsystemen, je geringer die Möglichkeiten für eine erfolgreiche Kommunikation. Bei gänzlich verschiedenen Relevanzsystemen kann es nicht mehr gelingen, eine ‚gemeinsame Sprache‘ zu finden.“ (Schütz 1971c, S. 373)

  14. 14.

    Schütz erwähnt auch die Saussuresche Sprachtheorie und verweist auf den Gedanken der Arbitrarität des Zeichens. Insgesamt bezieht er sich jedoch stärker auf den schon bei Aristoteles formulierten Gedanken der sozialen Konventionalisierung von Zeichen: „Wir folgen der Feststellung des Aristoteles, daß ‚ein Name ein durch Konvention signifikanter Laut ist (…)‘ (‚De Interpretatione,‘ 16a 19) (…) Nach Aristoteles ist demnach die Sprache, und künstliche Zeichen im allgemeinen, eine Sache der Konvention. Der Begriff der Konvention aber setzt das Vorhandensein der Gesellschaft voraus wie auch schon die Möglichkeit einer gewissen Verständigung, vermittels welcher ‚Konventionen‘ festgelegt werden können.“ (Schütz 1971c, S. 336)

  15. 15.

    Vgl. die Zusammenfassung der Zeichentheorie von Schütz bei Hanke (2002, S. 57 ff).

  16. 16.

    Dies wird auch deutlich in seiner Diskussion der Studien von Marcel Granet über chinesische Klassifikationssysteme (vgl. Schütz 1971c, S. 385 ff).

  17. 17.

    Vgl. dazu die Überblicke zur Wissenssoziologie bei Knoblauch (2005) oder Dimbath und Keller (2013).

  18. 18.

    Vgl. für einen Überlick über Konstruktivismen und eine wohlwollend-kritische Diskussion Hacking (1999), für eine sprachwissenschaftliche Positionierung, die allerdings die Argumentation von Berger und Luckmann erstaunlicherweise nicht vor Augen hat, vgl. Searle (1997).

  19. 19.

    Eine zum Verständnis sehr gut lesbare, auf Literaturverweise und Fachbezüge weitgehend verzichtende knappe Zusammenfassung der Kernargumentation findet sich in Berger und Luckmann (1995, S. 9–19).

  20. 20.

    Zur Verortung der Programmatik der „Gesellschaftlichen Konstruktion“ in der Marxschen Anthropologie vgl. insbesondere Luckmann (2002a).

  21. 21.

    Mit „Aushandlungen“ sind nicht Argumentationsprozesse gemeint, sondern im Anschluss an das Thomas-Theorem mehr oder weniger unbewusst und permanent ablaufende Prozesse wechselseitigen Anzeigens und Interpretierens dessen, um was es sich in einer Situation handelt. Dass solche Aushandlungsprozesse explizit werden und reflexive Zuwendung erfahren, ist ein empirischer Sonderfall. Vgl. zu den Parallelen zwischen den Positionen von William I. Thomas und der Wissenssoziologie von Berger und Luckmann den Vergleich bei Hitzler (1999). Erving Goffmans „Rahmen-Analyse“, die ebenfalls an Alfred Schütz und auch an den Pragmatismus von William James anschließt, lässt sich als weitere Variation über das Thema der „Definition der Situation“ lesen (Goffman 1980; s. u. Kap. 6).

  22. 22.

    Diesem Postulat muss man nicht unbedingt folgen, auch dann nicht, wenn man die Grundlagentheorie von Berger und Luckmann übernimmt (vgl. Keller 2005).

  23. 23.

    Vgl. Schütz und Luckmann (1979, S. 363 ff; 1984).

  24. 24.

    Berger und Luckmann schließen umfassend an die sozialisationstheoretischen Überlegungen von Cooley und Mead an, die hier nicht noch einmal wiederholt werden sollen.

  25. 25.

    Sowohl Schütz und Luckmann (1979, 1985) wie auch Berger und Luckmann (1980 [1966]) betonen die sozialstrukturellen Einflüsse auf die Verteilung des Wissens und die Ausbildung subjektiver Wissensvorräte. In der englischsprachigen Ausgabe der „Gesellschaftlichen Konstruktion“ wird dies in einigen Fußnoten verstärkt, die nicht in die deutsche Übersetzung aufgenommen wurden.

  26. 26.

    Diese Überlegungen von Berger aus dem Jahre 1979 skizzieren die Grundzüge dessen, was später von Ulrich Beck als „Individualisierungsthese“ (Beck 1986) und, bezogen auf Religion, als „eigener Gott“ (Beck 2008) ausbuchstabiert wurde; ein deutlicher Anschluss daran findet sich auch in der Diagnose der „Multioptionsgesellschaft“ von Peter Gross (2005).

  27. 27.

    Eine explizite Verortung des Neo-Institutionalismus in der wissenssoziologischen Tradition, wie sie Meyer vornimmt, ist jedoch selten. Vgl. zur ausführlicheren Diskussion der Grundlegung des Neo-Institutionalismus in der Wissenssoziologie von Berger und Luckmann Dobbin (1994); vgl. auch Thomas u. a. (1987) sowie Powell und DiMaggio (1991).

  28. 28.

    Das ist insgesamt ein Kernthema der Diskussion über qualitative Methoden der Soziologie. Im Kontext des Symbolischen Interaktionismus hat die Grounded Theory darauf die weitreichendsten Antworten gegeben – die ihrerseits unterschiedlich ausfallen.

  29. 29.

    Vgl. dazu die programmatischen Elemente der Arbeiten von Hitzler (1988), Knoblauch (1995) und Eberle (2000).

  30. 30.

    Vgl. dazu jetzt auch den Überblicksband von Keller, Knoblauch und Reichertz (2012).

  31. 31.

    Zahlreiche weitere Literaturhinweise sind zu finden auf der Webseite der Sektion Wissenssoziologie der DGS(www.wissenssoziologie.de).

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© 2012 VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden

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Keller, R. (2012). Sozialkonstruktivistische Wissenssoziologie. In: Das Interpretative Paradigma. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-94080-9_4

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-531-94080-9_4

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  • Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden

  • Print ISBN: 978-3-531-15546-3

  • Online ISBN: 978-3-531-94080-9

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