Skip to main content

Der Input durch die Sozialraum- und Habitusforschung

  • Chapter
  • First Online:
Sozialisation und Ungleichheit

Part of the book series: Bildung und Gesellschaft ((BILDUNGUG))

  • 6953 Accesses

Zusammenfassung

Sozialisationsforschung der nach-schichtspezifischen Epoche scheitert an ihren selbst gesetzten Maßstäben. Mit der Kritik an einseitig objektivistischen oder integrationslastigen Ansätzen war ursprünglich der Anspruch verbunden, neben der Vergesellschaftungs- die Individuationsperspektive im Erkenntnis- und Forschungsprozess zu berücksichtigen. Hierdurch sollte ein Bezugsrahmen erstellt werden, der neben der Analyse äußerer Sozialisationseinflüsse offen genug ist, um die Entwicklung zu eigenständig handlungsfähigen Subjekten, mithin auch die entgegen gesetzte Einflussnahme der Heranwachsenden auf ihre Sozialisationsumwelt zu untersuchen. Das Interesse richtete sich darauf, nicht nur einen statischen Reproduktionsprozess, sondern individuellen und sozialen Wandel erklären zu können. Damit sollte schließlich ein Sozialisationsverständnis begründet werden, das die Möglichkeit autonomer und von den Strukturen der Sozialisationsumwelt emanzipierter Ich-Entwicklung einschließt. Das Programm der Mehrebenenanalyse sowie die richtungsweisende Forderung, das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft – analog Person-Umwelt, Vergesellschaftung-Individuation – als interaktives, obendrein sogar als dialektisches zu begreifen, ist unzweifelhaft die richtige Konsequenz aus den Defiziten einer ausschließlich auf die Vergesellschaftungsperspektive reduzierten Sozialisationsforschung. Unabhängig davon, ob diese im engeren Sinne mit so unterschiedlichen Traditionen wie dem Strukturfunktionalismus oder dem schichtspezifischen Paradigma verbunden wird. Ein Scheitern dieser Forschung lässt sich daher erst ex post, also aus heutiger Perspektive bemessen. Und dies vor allem auf Grundlage der maßgeblichen Befunde dieser Forschung.

This is a preview of subscription content, log in via an institution to check access.

Access this chapter

eBook
USD 19.95
Price excludes VAT (USA)
  • Available as EPUB and PDF
  • Read on any device
  • Instant download
  • Own it forever
Softcover Book
USD 29.99
Price excludes VAT (USA)
  • Compact, lightweight edition
  • Dispatched in 3 to 5 business days
  • Free shipping worldwide - see info

Tax calculation will be finalised at checkout

Purchases are for personal use only

Institutional subscriptions

Notes

  1. 1.

    Mit ethnologischem, philosophischem und soziologischem Gehalt. Es liegen bereits sehr früh eine Reihe von Darstellungen vor, die ausführlich und allgemein in Bourdieus Biographie, seine begrifflichen und theoretischen Grundlagen sowie die wichtigsten Forschungsarbeiten einführen (Schmeiser 1986; Liebau 1987; Schwingel 1993, Kap. 1–3, 1995; Herz 1996 sowie die Beiträge in den Sammelveröffentlichungen von Liebau und Müller-Rolli 1985; Eder 1989a; Gebauer und Wulf 1993; Mörth und Fröhlich 1994; Krais und Gebauer 2002). Hier wird also sehr bewusst etwas voraussetzungsreicher auf die Theorie Bourdieus zurückgegriffen.

  2. 2.

    Kaum ein Text Bourdieus entlässt den Leser aus dieser erkenntnistheoretischen Reflexion, welche die Grundlage des praxeologischen Ansatzes darstellt. Als kohärente, also zusammenfassende Darstellungen seiner erkenntnistheoretischen Überlegungen, auf die hier zurückgegriffen werden soll, gelten vor allem Entwurf einer Theorie der Praxis (Bourdieu 1976, Teil II) und Sozialer Sinn (Bourdieu 1987, Buch I; instruktiv zudem Bourdieu 1970a, 1992d; sekundär Wacquant 1996). Im Entwurf einer Theorie der Praxis wird angemerkt, dass die Ausführungen zur Praxeologie auf Grundlage von Aufzeichnungen der Jahre 1960 bis 1965 verfasst wurden. Der Zeitpunkt der Entstehung dieser Kernüberlegungen, die Bourdieus Werk die spezifische Dynamik verleihen, kann daher nicht früh genug vermutet werden.

  3. 3.

    Dabei darf nicht übersehen werden, dass Bourdieu die referierten Ansätze bewusst, zum Zwecke der Gegenüberstellung, auf vereinseitigende Aussagen reduziert. Mit dieser Methode wird von ihm oftmals grobschlächtig verfahren. Hier sei einerseits auf das Beispiel verwiesen, dass Bourdieu die erkenntnistheoretische Perspektive der Vertreter der älteren Frankfurter Schule zu Unrecht auf einen einseitig objektivistischen Standpunkt festlegt (Vgl. etwa Bourdieu 1991a, S. 270, ähnlich Bourdieu 1982, S. 602, 798; dagegen Bauer und Bittlingmayer 2000). Eine besonders fruchtbare Verknüpfung mit der interaktionistischen Tradition (s. o.), zumal dem von Bourdieu unbeachteten G. H. Mead, schlägt auf Grundlage des bei beiden Theoretikern zentralen Sinn-Begriffs äußerst überzeugend Wagner (1993) vor.

  4. 4.

    Ein Missverständnis mit zudem weit reichenden politischen Implikationen. Nicht bloß, dass die Ebene der konkreten Alltagspraktiken analytisch nur unzureichend erfasst wird. Giegel (1989) macht außerdem darauf aufmerksam, dass Bourdieu sich in die Antinomie verstrickt, jeden – auch den politisch-emanzipatorischen – Geltungsanspruch als verschleierten Herrschaftsanspruch zu enttarnen. Damit scheint jegliche Möglichkeit einer aufklärerischen, herrschaftsfreien oder anti-herrschaftlichen Praxis ausgeschlossen. Bourdieus relativistischer und nicht ausdrücklich normativer Ansatz würde damit aber auf eine kulturpessimistische, ausschließlich negative Sicht des Menschen (Anthropologie) festgelegt. Schließlich wären dadurch auch Bourdieus politische Einlassungen und Interventionsversuche gegen den Abbau des Sozialstaates seit Beginn der neunziger Jahre, die ihn öffentlich erst bekannt machten, als reine Distinktionsstrategien desavouiert. Das Werkzeug des Soziologen richtet sich dann als Waffe gegen ihn selbst. Der Gegensatz zwischen den theoretischen Einsichten und der politisch-normativen Praxis macht aber gerade auf das Spezifikum der „analytischen Werkzeuge“ aufmerksam. Sie bilden – wenn auch in häufig exaltierter Form, derer die Kritik der bestehenden Ordnung aber ebenso notwendig bedarf – die zur Zeit konkrete, jedoch historisch kontingente (also auch anders mögliche) Formation der Daseinsverhältnisse ab. Diese Formation ist zeitdiagnostisch als kompetitive Gesellschaft zu bezeichnen (Schnierer 1996). Nach dieser Diagnose erst richtet sich die Auswahl und Konstruktion des analytischen Instrumentariums. Es ist aber ebenso wenig wie die augenblickliche Gesellschaftsformation zu naturalisieren. Ich schlage hier wie oben vor, zwischen der empirischen Beschreibung gegenwärtiger Gesellschaften und individueller Handlungsmodi einerseits sowie der Eventualität und Potenzialität möglicher Entwicklung andererseits zu unterscheiden.

  5. 5.

    Damit ist explizit auf die wichtigen politischen Arbeiten Bourdieus in den 1990er Jahren verwiesen (als Auswahl Bourdieu 1998a, 1998g, 1999b, 2000). Noch früher, bereits in den 1980er Jahren skizziert Bourdieu die Aufgaben einer aufklärenden Soziologie, die das Bestehende durch Bewusstwerdung und Sozioanalyse zu verändern ermöglichen soll. Seine Erwartung, dass die Kenntnis der Handlungsmechanismen dazu dient, sich diesen zu entziehen, muss in diesem Zusammenhang als Ermahnung verstanden werden, gegenwärtige Erzeugungsmodi sozialer Praxisformen nicht als invariante (also unveränderbare) Konstanten misszuverstehen (Bourdieu 1985b).

  6. 6.

    Insbesondere in der Auseinandersetzung mit den Formen männlicher Herrschaft, dem Geschlechterverhältnis also, bezeichnet Bourdieu den Prozess der Einschreibung in den Körper als „Somatisierung“, also der „Verkörperlichung“ oder der Verinnerlichung in die körperliche Struktur (Bourdieu 1997d, S. 162, 167; Bourdieu und Wacquant 1996, S. 210).

  7. 7.

    Bei der Darstellung der Bildungssoziologie bezieht man sich ganz automatisch auf Untersuchungen, die werkgeschichtlich hinter Die feinen Unterschiede zurückweisen: So Die Illusion der Chancengleichheit (Bourdieu und Passeron 1971/1964) und eine Reihe von Aufsätzen, die in den Sammelveröffentlichungen Titel und Stelle (Bourdieu et al. 1981b/1971) sowie Grundlagen einer Theorie der symbolischen Gewalt (Bourdieu und Passeron 1973) enthalten sind. Der frühe Hinweis bei Egger et al. (1996) auf die enttäuschende Wirkungsgeschichte Bourdieus musste nicht – wie die Autoren meinen – auf sein Gesamtwerk bezogen, sondern vorrangig auf die bildungssoziologischen Arbeiten beschränkt werden (Wacquant 1996, S. 17 f., Fn. 3). Heute indes hat die Bildungssoziologie in der Rezeption mindestens gleichgezogen, vielleicht hat sie in der Bedeutung die übrigen Arbeiten Bourdieus zur Ungleichheitsforschung sogar noch überholt.

Author information

Authors and Affiliations

Authors

Corresponding author

Correspondence to Ullrich Bauer .

Rights and permissions

Reprints and permissions

Copyright information

© 2012 VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden

About this chapter

Cite this chapter

Bauer, U. (2012). Der Input durch die Sozialraum- und Habitusforschung. In: Sozialisation und Ungleichheit. Bildung und Gesellschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-93488-4_6

Download citation

  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-531-93488-4_6

  • Published:

  • Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden

  • Print ISBN: 978-3-531-18189-9

  • Online ISBN: 978-3-531-93488-4

  • eBook Packages: Humanities, Social Science (German Language)

Publish with us

Policies and ethics