Zusammenfassung
Schreiben Frauen anders? – So oder ganz ähnlich war eine Reihe von Studien in den 1980er Jahren aus dem Bereich der feministischen Literaturwissenschaft betitelt, die sich mit der in diesen Jahren kontrovers diskutierten Frage nach einer weiblichen Ästhetik beschäftigten. Die aktuelle Diskussion über eine Poetik der Migration erinnert in vielem an die damaligen Argumente und Positionen: Beide Male geht es um eine marginalisierte AutorInnengruppe, es geht um Fragen des literarischen Kanons und literarischer Normen, um die Differenz zwischen ideologiekritischen Zugriffen und formalistischen Ansätzen der Literaturbeschreibung, damit auch um die Frage der Relevanz von lebensrealer Erfahrung bei der Betrachtung von Literatur. Letztlich spitzen sich die Debatten zu auf die zentrale Auseinandersetzung, ob eine weibliche bzw. eine migratorische Schreibweise jenseits von Inhalten und Themen auf der Ebene der Ästhetik festgemacht werden kann oder nicht.
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Notes
- 1.
In der Studie Poetik der Migration: Transnationale Schreibweisen in der zeitgenössischen russischen Literatur (2009) hat Eva Hausbacher einen ähnlich offen gehaltenen Merkmalkatalog migratorischer Schreibweisen erstellt, der die untersuchten Texte in ihrer Vielfältigkeit und Unterschiedlichkeit nicht auf bestimmte Gemeinsamkeiten hin nivelliert, sondern ihre Orientierung an spezifischen Diskursen fasst. Dabei werden nicht die literarischen Verfahren an sich als Kennzeichen der transkulturellen Migrationsliteratur festgemacht, denn viele davon finden sich auch in anderen, häufig postmodernen Schreibweisen jenseits migratorischer Kontexte. Vielmehr geht es dabei um die Beschreibung bzw. Erfassung des Wirkungspotentials, das diese Verfahren in Bezug auf die für die Poetik der Migration zentralen Schlüsselkategorien der Identität, Alterität und Hybridität ausstrahlen. Eigentliches „Alleinstellungsmerkmal“ der Migrationsliteratur ist die Verbindung von bestimmten Erzählformen mit der inter- bzw. transkulturellen Konstellation auf der thematisch-inhaltlichen Ebene der Texte und der lebensweltlichen Erfahrung der AutorInnen. Insofern tritt Eva Hausbacher bei ihrer Beschreibung einer Poetik der Migration für eine Verbindung von formal-ästhetischen mit inhaltlich-thematischen Analyseaspekten ein, wohingegen die Auseinandersetzung mit Migrationsliteratur lange Zeit stark von thematischen Fragestellungen dominiert wurde.
- 2.
Ausführlich zu Julia Kissinas Schreiben siehe Eva Hausbacher (2009).
- 3.
Einen Hinweis auf das Groteske als Schlüsselkategorie für das Verständnis der Texte gibt bereits die Umschlaggestaltung des Erzählbandes. Es handelt sich dabei um eine Fotoarbeit Julia Kissinas aus der Serie „Toys“ (1998–2000). Das groteske Moment stellt sich durch die Dreibeinigkeit dieser Figur ein, zwischen den beiden Beinen hat sich ein drittes, auf den ersten Blick identisches, beim genaueren Hinsehen allerdings nur ausgestopftes Puppenbein eingeschlichen. Dieses dritte Bein transformiert den eigentlich traditionellen Bildcode (im Sitzen lesendes Mädchen in heimeliger Natur deutscher Waldeinsamkeit), so dass sich die Irritation (ganz zum Schluss) ins Groteske wendet.
- 4.
Telefongespräch mit der Autorin im März 2007.
- 5.
Ausführlich zu Marija Rybakovas Schreiben siehe Eva Hausbacher (2009).
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Gürtler, C., Hausbacher, E. (2012). Fremde Stimmen. Zur Migrationsliteratur zeitgenössischer Autorinnen. In: Hausbacher, E., Klaus, E., Poole, R., Brandl, U., Schmutzhart, I. (eds) Migration und Geschlechterverhältnisse. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-93189-0_7
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