Zusammenfassung
Gäbe es nicht seit mehreren Jahrzehnten eine Forschungsrichtung, die politische Mythen und den Einfluss der Rollenbilder auf die internationalen Beziehungen wie in dem Fall des berühmten und stets wirkungsvollen „Rapallo-Mythos“ (Fritsch-Bournazel 1974) erforscht, so könnte der Titel unseres Beitrags als Provokation aufgefasst werden. Allerdings nicht, weil hier Betrachtungen vorge schlagen werden – denn eine Infragestellung und ein Bewertungsversuch können nur willkommen sein – sondern weil hier die deutsch-französische Effizienz für Europa als „Mythos“ bezeichnet wird. Der Begriff Mythos hat zwei Bedeutungen, so dass es sich anbietet, unseren Gegenstand nach zweierlei Ansatzpunkten zu untersuchen. Die erste ist eindeutig provozierend, da die negative Konnotation des Worts impliziert, dass diese Leistung gar nicht existiert: Der Mythos bezeichnet einen Irrglauben. Oder anders gesagt: Wer behauptet, dass Franzosen und Deutsche gemeinsam in Europa etwas geleistet haben und dies noch tun, lügt. Die zweite Bedeutung ist anthropologisch: Der Mythos hat eine erklärende Funktion und kommt in dieser zum Einsatz. Er dient der Gesellschaft, die ihn erschafft und einsetzt, er begründet eine soziale Praktik und muss wiedergegeben werden, um weiterhin wirksam zu sein. Der Begriff Mythos zur Bezeichnung der Rolle Frankreichs und Deutschlands in Europa wurde im Hinblick auf die zweite Bedeutung gewählt, die hier zutreffend ist. Der Mythos beruht auf mündlicher Überlieferung, aber unterscheidet sich von der Legende, die sich auf Wunder beruft. Der Mythos gibt ein tatsächliches Ereignis verzerrt wider, es handelt sich um eine sagenhafte Erzählung, die üblicherweise eine Moral enthält (Girard 1972). Somit wird die Realität allegorisch inszeniert, was Riten und Einweihung, aber auch und vor allem die Mobilisierung von Einzelnen und Gruppen, wie in den sozialen politischen Mythen der Gegenwart (Reszler 1981; Girardet 1986) ermöglicht. Von Ernst Cassirer stammt die Herausstellung der Zweideutigkeit des Mythos mit einer einerseits analysierenden, die Realität rationell erklärenden Funktion und einer andererseits stark vereinfachenden Form, bei der die Analyse der Emotion weicht (Cassirer 1949). Inwiefern dieser Ansatz auf die deutsch-französische Zusammenarbeit in Europa zutrifft, soll Gegenstand der nach folgenden Untersuchung sein.
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Literatur
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Miard-Delacroix, H. (2010). Betrachtungen zum Mythos der deutsch-französischen Effizienz in Europa. In: Vogel, W. (eds) Frankreich Jahrbuch 2009. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-92259-1_8
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