Zusammenfassung
Die im ersten Kapitel dargestellten gewissenstheoretischen Positionen enthalten diverse explizite oder implizite Aussagen zur Gewissensbildung. Gewissen als Topos der menschlichen Psyche entfaltet sich nach Ansicht der Strukturpsychologie auf der Basis rational-transitiver Strebungen der primären charakterlichen Anlage. Dabei steht dieser Vorgang für die Strukturpsychologie – wie wir zeigten – in einem engen Verhältnis zur Gemütsbildung als dem Erwerb des natürlichen Selbstgefühls im Gange der individuellen Entwicklung. Die Gestaltpsychologie weist ihrerseits dem Gewissen eine Funktion im Rahmen des seelischen Prägnanzdranges und einen Entstehungsgrund in der Bewusstwerdung unprägnanter bzw. ungeschlossener Gestalten menschlichen Lebens zu. Dort, wo das Gewissen als Epiphänomen der triebgesteuerten Psyche erscheint (Psychodynamik), wird seine Entwicklung und Funktion mit spezifischen Grundkonflikten (etwa dem ödipalen Konflikt) oder lebensgeschichtlich relevanten Kompensationsstrategien in Verbindung gebracht. Die theologisch-ethische Gewissenstheorie (sofern diese als Einheit überhaupt zu beschreiben ist!) begründet dagegen das Gewissen vorab im geschöpflichen Zusammenhalt von Gott und Mensch und sieht darin das konkrete menschliche Wissen um den göttlichen Anspruch und denjenigen des Nächsten. Die Philosophie der Aufklärung rückt die menschliche Vernunft definitiv an die Stelle des göttlichen Gegenübers und unterstellt das Gewissen dem Maße der selbstregulativen (praktischen) Vernunft (Kant). Die Existenzphilosophie Heideggers vernimmt im Gewissensphänomen den unhinterfragbaren Ruf des Seins aus der Verlorenheit in das Man. Als primäres Phänomen der Existenz bedarf es in der Folge keiner eigentlichen Bildung – es (das Gewissen) ist immer schon als Ruf gegenwärtig und unverfügbar. Frankl deutet diesen Ruf des Gewissens bekanntlich als Ruf der Transzendenz, als tiefgründiges Wissen des Geistes um die geschöpfliche Verdanktheit des Lebens. Daraus erschließt sich für ihn im Gewissen immer wieder der entsprechend der konkreten Situation mögliche Sinn des Daseins für das sich entscheidende menschliche Individuum.
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© 2009 VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH
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Mahler, R. (2009). Gewissensbildung. In: Gewissen und Gewissensbildung in der Psychotherapie. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-91667-5_4
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-531-91667-5_4
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften
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