Auszug
Die moderne Soziologie in Deutschland ist nicht denkbar ohne das grundlegende Werk von Tönnies. Zwar hatten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts bereits andere auf die soziologische Spur begeben — etwa Marx und Schäffle —, dabei aber die soziologische mit einer geschichtsphilosophischen Fragestellung verquickt. Tönnies’ besondere Leistung ist es, die Soziologie aus dieser Verbindung befreit und sie als eine eigenständige Sozialwissenschaft begründet zu haben. Ein Zeichen der Anerkennung für die Sonderstellung seines Werkes erhielt er erst wenige Tage vor seinem Tod, als ihm anlässlich seines 80. Geburtstages ein Buch überreicht wurde,1 zu dem Wissenschaftler aus aller Welt — aus Griechenland, Japan, Italien, den Niederlanden, England, der Schweiz ebenso wie aus Deutschland — Texte beigesteuert hatten. Dass seinem Werk auch in den Vereinigten Staaten große Bedeutung beigemessen wird, belegen Beiträge von Boas und Sorokin. Zudem weisen Texte von Historikern, etwa von Meinecke, oder von Philosophen wie Löwith und Schmalenbach, den die Grenzen der Soziologie überschreitenden philosophischen Gehalt seines Denkens aus. Aber all dieser Wertschätzung zum Trotz sollte man sich nicht über den tatsächlichen Einfluss von Tönnies’ Werk täuschen. Denn zwar haben es weder Max Weber noch Vierkandt oder die jüngere Generation versäumt, die von ihm eingeführten soziologischen Begriffe zu rezipieren — Schmalenbachs Ergänzung von Tönnies’ Kategorien Gemeinschaft und Gesellschaft durch das Konzept des Bundes belegt dies am nachdrücklichsten2 –, aber weder die formale noch die historische Soziologie haben sich in die Richtung entwickelt, die er mit seinem Werk vorgegeben hatte.
Albert Salomon, „In memoriam Ferdinand Tönnies“. In: Social Research 3, 1936, S. 348–363. Übersetzt von Peter Gostmann.
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Literatur
o. Hg., Reine und angewandte Soziologie. Eine Festgabe für Ferdinand Tönnies zu seinem achtzigsten Geburtstage am 26. Juli 1935. Leipzig: Buske 1936.
Herman Schmalenbach, „Über die Kategorie des Bundes“. In: Die Dioskuren. Jahrbuch für Geisteswissenschaften 1, 1922, S. 35–105.
Heinrich von Treitschke, Die Gesellschaftswissenschaft. Ein kritischer Versuch. Leipzig: Hirzel 1859.
Otto von Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 1: Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft. Berlin: Weidmann 1868; Otto von Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 2: Geschichte des deutschen Körperschaftsbegriffs. Berlin: Weidmann 1873.
Emile Durkheim, „Ferdinand Tönnies. Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen“. In: Revue Philosophique de la France et de l’etranger 27, 1889, S. 416–422.
Emile Durkheim, De la division du travail social: Étude sur l’organisation des sociétés supérieures. Paris: Alcan 1893.
Pitirim A. Sorokin, Contemporary Sociological Theories. New York, Evanston: Harper & Row 1928, S. 491. [In der deutschen Ausgabe wurde diese Stelle gekürzt.]
Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. Achte verbesserte Auflage. Leipzig: Buske 1935, S. 85–168.
‘Wille und Verstand sind ein und dasselbe’. Vgl. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, S. 85.
Ferdinand Tönnies, Geist der Neuzeit. Leipzig: Buske 1935.
Ferdinand Tönnies, Einführung in die Soziologie. Stuttgart: Enke 1931, S. 313–327.
Ferdinand Tönnies, Kritik der öffentlichen Meinung. Berlin: Springer 1922; Ferdinand Tönnies, Soziologische Studien und Kritiken. Erste Sammlung. Jena: Fischer 1924; Ferdinand Tönnies, Soziologische Studien und Kritiken. Zweite Sammlung. Jena: Fischer 1926; Ferdinand Tönnies, Fortschritt und soziale Entwicklung. Karlsruhe: Braun 1926; Ferdinand Tönnies, Soziologische Studien und Kritiken. Dritte Sammlung. Jena: Fischer 1929.
Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, 3 Bde. Herausgegeben von Friedrich Engels. Hamburg: Meissner 1867–1894.
Tönnies, Geist der Neuzeit, S. 206; Friedrich Schiller, „An Friedrich Christian von Augustenburg. Ludwigsburg, den 11. November 1793. Montag“. In: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 26: Schillers Briefe 1.3.1790–17.5.1794. Herausgegeben von Edith Nahler und Horst Nahler. Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1992, S. 295–313.
Thomas Hobbes, The Elements of Law Natural and Politic. Herausgegeben und eingeleitet von Ferdinand Tönnies. London: Simpkin, Marshall and Co 1889; Thomas Hobbes, Behemoth, or the Long Parliament. Herausgegeben von Ferdinand Tönnies. Plymouth, London: Frank Cass & Co 1889; Thomas Hobbes, Naturrecht und allgemeines Staatsrecht in den Anfangsgründen. Herausgegeben und eingeleitet von Ferdinand Tönnies. Essen: Hobbing 1926; Ferdinand Tönnies, „Siebzehn Briefe des Thomas Hobbes an Samuel Sorbière, nebst Briefen Sorbière’s, Mersenne’s u. Aa.“. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 3, 1890, S. 58–71 u. 192–232.
Ferdinand Tönnies, Hobbes, Leben und Lehre. Stuttgart: Frommann 1896; Ferdinand Tönnies, „Hobbes-Analekten“. In: Archiv für Geschichte der Philosophie N.F. 17, 1904, S. 291–317; Ferdinand Tönnies, „Hobbes-Analekten II“. In: Archiv für Geschichte der Philosophie N.F. 19, 1906, S. 153–175; Ferdinand Tönnies, „Hobbes’ Naturrecht“. In: Archiv für Rechts-und Wirtschaftsphilosophie 4, 1910/1911, S. 395–410; Ferdinand Tönnies, „Hobbes’ Naturrecht“. In: Archiv für Rechts-und Wirtschaftsphilosophie 5, 1910/1911, S. 129–136; Ferdinand Tönnies, „Hobbes’ Naturrecht“. In: Archiv für Rechts-und Wirtschaftsphilosophie 5, 1910/1911, S. 283–293; Ferdinand Tönnies, Hobbes, Leben und Lehre. Dritte, vermehrte Auflage. Stuttgart: Frommann 1925; Ferdinand Tönnies, „Die Lehre von den Volksversammlungen und die Urversammlung in Hobbes’ Leviathan“. In: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 89, 1930, S. 1–22.
Raymond Aron, La sociologie allemande contemporaine. Paris: Presses Universitaires de France 1936, S. 20–25. [Deutsche Ausgabe: Raymond Aron, Die deutsche Soziologie der Gegenwart. Systematische Einführung in das soziologische Denken. Übersetzt und bearbeitet von Iring Fetcher. Stuttgart: Kröner 1965, S. 16–21.]
Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, S. XV–XXV, hier S. XXIII–XXIV.
Johann Jakob Bachofen, Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur. Zweite unveränderte Auflage. Basel: Schwabe 1897.
Johann Jakob Bachofen, Das lykische Volk und seine Bedeutung für die Entwicklung des Alterthums. Freiburg im Breisgau: Herder 1862.
Johann Jakob Bachofen, Versuch über die Gräbersymbolik der Alten. Basel: Bahnmaier’s Buchhandlung (Detloff) 1859.
Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. [nicht nachgewiesen]
Adam Heinrich Müller, Schriften zur Staatsphilosophie. München: Theatiner-Verlag 1923.
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Zweite, vermehrte Auflage. Herausgegeben von Marianne Weber. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1925, S. 122–176.
Ferdinand Tönnies, Die Sitte. Frankfurt: Rütten & Loening 1909; Tönnies, Fortschritt und soziale Entwicklung; Ferdinand Tönnies, „Sitte und Gedächtnis“. In: Heinz Sauermann (Hg.), Probleme Deutscher Soziologie. Gedächtnisgabe für Karl Dunkmann, Berlin: Junker und Dünnhaupt 1933, S. 7–17.
Gabriel Marcel, Etre et Avoir. Paris: Éditions Montaigne 1935, S. 352. [Deutsche Ausgabe: Gabriel Marcel. Sein und Haben. Übersetzt von Ernst Bleher. Paderborn: Schöningh 1954, S. 255.]
Schmalenbach, „Über die Kategorie des Bundes“.
Gerhard Colm, „Masse“. In: Alfred Vierkandt (Hg.), Handwörterbuch der Soziologie. Stuttgart: Enke 1931, S. 353–359.
Christian Janentzky verwendete als Erster den Begriff „trans-rational“. Vgl. Christian Janentzky, Mystik und Rationalismus, München, Leipzig: Duncker & Humblot 1922, S. 11.
Tönnies, Die Sitte, S. 92.
Ebd., S. 94.
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(2008). In memoriam Ferdinand Tönnies (1855–1936). In: Gostmann, P., Wagner, G. (eds) Albert Salomon Werke. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-91106-9_6
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