Auszug
Wie sieht es mit der Türkei aus? Ist sie ein konstituierendes Anderes Europas, das zu dessen Identitätskonstitution genutzt wird? In vielen Studien wird die Türkei genau als dieses Andere für die europäische (Selbst-) Wahrnehmung angesetzt (vgl. Rumelili 2004: 44ff; Diez 2004: 328; Yurdusev 1998; Onis 1999; Buzan/Diez 1999). Und in der Tat lassen sich Prozesse der sich abgrenzenden europäischen Identitätsbildung gegenüber den Turken bis weit in die Zeit des Osmanischen Reiches hineinverfolgen – wie das weiter oben ja bereits dargestellt wurde (Kap. 2.5.1.) — doch auch für die jüngste europäische Vergangenheit und Gegenwart werden die Türken bzw. die Türkei (wieder?) als das maßgebliche Andere Europas angesehen.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Preview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Literatur
Seufert und Kubaseck bringen die allgemein geteilte Auffassung zum türkischen Vorgehen wie folgt auf den Punkt: „Nicht Nationen bauen sich ihre Staaten, sondern Staaten schaffen sich ihre Nation“ (Seufert/Kubaseck 2006: 87). Gleichwohl sollte betont werden, dass sich bereits im Osmanischen Reich Reformen nach westlichem Vorbild finden lassen, dass also die von Atatürk vorangetriebenen Reformen historische Vorläufer hatten und auch ansonsten „in der Luft lagen“ (Kreiser/Neumann 2003: 410; Lewis 2002: 40–128).
Deswegen ist eine einfache Trennung von Europa und EU auch nicht so einfach, wie dies manchmal gefordert wird (vgl. Muschg 2005: 12). Wenn der europäische Charakter eines Beitrittskandidaten zur EU Bedingung eines erwünschten Beitrittes ist, dann verschwimmen in der Diskussion zwangsläufig die Grenzen zwischen beiden Einheiten.
Begründet wird diese Beschränkung oftmals damit, dass erst seit den späten 1990er Jahren die Frage nach der Europäizität der Türkei breit und öffentlich diskutiert worden wäre (vgl. Kramer 2003: 7; Carnevale/Ihrig/Weiß 2005: 20).
Neben den Debatten in den etablierten EU-Staaten (Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Niederlande, Belgien, österreich, Schweden Griechenland, Großbritannien) werden außerdem die Diskussionen in einigen neuen EU-Mitgliedsstaaten (Polen, Tschechien, Ungarn), auf der Ebene der EU und in der Türkei gesichtet, systematisiert und abschließend miteinander verglichen.
Siehe zur breit geführten Debatte zum Vorhandensein bzw. zu Bedingungen einer europäischen öffentlichkeit nur Eder (2003), Trenz (2004).
Wimmel spricht in einem ähnlichen Zusammenhang von verschiedenen Visionen der Finalität Europas, also von dem, was Europa in der Zukunft einmal sein solle (vgl. Wimmel 2006: 211).
Beziehen sich die Argumente ausschließlich auf die Erfüllung oder Nicht-Erfüllung der politischen Beitrittskriterien, sprechen Carnevale, Ihrig und Weiß zusätzlich noch von einer „politischen“ Argumentationslinie (vgl. Carnevale/Ihrig/Weiß 2005: 21).
So stellen etwa Carnevale, Ihrig und Weiß die Behauptung auf, dass erst heute „Faktoren wie die Religion der Bevölkerung [...] wieder eine Rolle [spielen würden], was während der ideologischen Auseinandersetzung zwischen Ost und West undenkbar gewesen“ (Carnevale/ Ihrig/Weiß 2005: 21) sei. Wie plausibel das zunächst auch immer scheinen mag, überprüft oder belegt wird diese Aussage nicht und wie später zu sehen sein wird, ist sie auch nicht zutreffend.
In Großbritannien herrschen eher außereuropäische Minderheiten wie Inder und Pakistani vor.
Welche Probleme damit zusammenhängen soll ebenfalls im nächsten Kapitel erörtert werden.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung ist dabei sogar mehr als eine lediglich deutsche Zeitung. Vielmehr zeichnet sich die FAZ durch einen hohen Europäisierungsgrad ihrer (politischen) Berichterstattung aus, worauf in der jüngeren Vergangenheit insbesondere Hans-Jörg Trenz hingewiesen hat (vgl. Trenz 2004: 297; siehe auch: Judt 2006: 906).
Mit folgenden durchschnittlichen Auflagenzahlen: FAZ, 1960–63: 260.000, 1987–89: 365.000, 1999–2004: 512.000; Spiegel, 1960–63: 435.000, 1987–89: 980.000, 1999–2004: 1.080.000; BILD, 1960–63: 3.590.000, 1987–89: 4.310.000, 1999–2004: 4.100.000; Times, 1960–63: 470.000, 1987–89: 360.000, 1999–2004: 642.000; Economist, 1960–1963: 65.000, 1987–89: 85.000, 1999–2004: 155.000 (Großbritannien), 1.100.000 (weltweit); Daily Mirror, 1960–63: 4.950.000, 1987–89: 5.280.000, 1999–2004: 2.070.000.
Siegfried Jäger bezeichnet etwa die Bild-Zeitung — etwas polemisch — als „Diskursmaschine, eine Art ‘Großregulator’ “ (Jäger 2004: 329/30).
Für die Suche wurden sowohl die digitale Pressedatenbank LexisNexis als auch die Pressearchive in Münster, Dortmund, Berlin und Dresden genutzt.
Der erste analysierte Zeitraum beginnt jedoch erst 1960, da sich im unmittelbaren Nachgang des türkischen Antrags auf EWG-Assoziation nur äußerst wenige Reaktionen in der Presse finden lassen. Die Debatte setzt erst 1960 — mit dem türkischen Militärputsch — ein.
Waldenfels versteht unter „Schlüsselereignissen“ solche Ereignisse, „die überdeterminiert sind, die in ihrer polymorphen Vielschichtigkeit eine besondere Erschließungskraft entfalten und damit buchstäblich aus der Rolle fallen“ (Waldenfels 2004: 36) und meint damit zunächst einmal singuläre Weltereignisse wie die Terrorattacken des 11. September 2001. Ereignisse von „kleinerem Format“, wie sie in den verschiedenen untersuchten Zeiträumen in den Blick genommen werden, könnten in Anlehnung an Waldenfels’ Bestimmung als Schlüsselereignisse mittlerer Reichweite bezeichnet werden. Siehe auch das ähnlich gelagerte Konzept des „diskursiven Ereignisses“ bei Jäger (2004: 162) und Schwab-Trapp (2002: 61ff).
Gar nicht erwähnt werden an dieser Stelle die übergreifenden historischen Konstellationen, wie der Kalte Krieg oder die Nachwirkungen der iranischen Revolution. Siehe zu solch einer ausführlicheren historischen Kontextualisierung und Einbettung die den untersuchten Zeiträumen vorangestellten Teile in Kapitel 5.
Wie man bei den Studien von Carnevale, Ihrig und Weiß sowie Wimmel sehen konnte, erlaubt eine Studie, die lediglich ein Ereignis erfasst — bei beiden Studien ist dies das Kopenhagener EU-Gipfeltreffen — nur beschränkte Aussagen.
Rights and permissions
Copyright information
© 2008 VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden
About this chapter
Cite this chapter
(2008). Europa und die Türkei. In: Die Türkei — ‚Das Ding auf der Schwelle‘. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-91026-0_3
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-531-91026-0_3
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Print ISBN: 978-3-531-15931-7
Online ISBN: 978-3-531-91026-0
eBook Packages: Humanities, Social Science (German Language)