Auszug
Systematische Studien zur horizontalen Verbreitung von schulpolitischen Ideen zwischen den Ländern der Bundesrepublik Deutschland fehlen bislang in der deutschen Bildungspolitikforschung (s. Abschnitt 1.3). Bedeutet dies aber auch, dass geeignete Vorbilder in anderen Forschungsbereichen und Disziplinen, an die sich entsprechende Studien anlehnen könnten, ebenso nicht existieren?
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Literatur
Auch die gegenwärtige Konjunktur des Innovationsbegriffs in der Erziehungswissenschaft ist von normativen Bezügen geprägt. Einmal indem der gesellschaftliche Wandel als Herausforderung zu verstärkter individueller Flexibilität, Mobilität und Innovativität gelesen wird, dem sich auch das Bildungssystem zu stellen habe (Innovation als Lernaufgabe, s. Gogolin 2003). Zum anderen wird Innovation ein Leitbegriff für die Neubetrachtung und Neugestaltung der schulischen Praxis herangezogen, bei der der Blick weg von der Schulsystemebene hin zu einer Betrachtung der Einzelschule gelenkt wurde — als sehr variabler und bewusst änderbarer organisatorischer, institutioneller und kultureller Kontext verbesserter Schulpraxis (s. z.B. Fend 1986, Rolff 1993, Steffens/Bönisch 1996, Huber 2000a und 2000b, allgemein Baumert/Cortina/Leschinsky 2003, 137). Dem korrespondiert eine neue steuerungsstrategische Ausrichtung in Bildungspolitik und Schulverwaltung. Erneuerungsbereitschaft und Erneuerungsfähigkeit in den einzelnen Schulen werden verstärkt als Eigenwert und Motor der Schulsystementwicklung hervorgehoben (s. Holtappels 1996, Bertelsmann Stiftung 1996, 1998, Stern 2000, Scheunpflug 2000, Sliwka 2004, Dubs 2005). Die Stärkung von Innovativität erscheint so als das zentrale Instrument der Verwirklichung und Bearbeitung aktueller gesellschafts-und schulpolitischer Visionen und Handlungsherausforderungen. Innovation ist Ideologie. „Indem aber Innovation als Motor wirtschaftlicher Prosperität und gesellschaftlicher Entwicklung gilt, wird der Innovationsbegriff zugleich normativ aufgeladen: Für das politische System in westlichen Demokratien, dessen Akzeptanz in der Bevölkerung auch wesentlich von den gewährten materiellen Unterstützungsleistungen abhängt, avanciert „Innovation“ zum zentralen Imperativ der Gesellschaftsentwicklung.“ (Martinssen 2001, 128).
Neben seiner normativen Verwendung finden sich in der Erziehungswissenschaft durchaus auch Versuche der analytischen Inanspruchnahme des Innovationsbegriffs. Hierbei verfügt insbesondere die anglo-amerikanische Forschung über eine lange Tradition (s. z.B. Mort 1953, 1957, Ross 1958, Miles 1964, Carlson 1965, Berman/Pauly 1975, Berman/McLaughin 1974 und 1978). Eine vergleichbare deutsche Forschungslinie hat sich nach ersten Adaptionen in den 1970er Jahren allerdings nicht entwickelt (s. Husén 1971 und 1972, Scholand 1971, umfassend Areeger 1976, im Überblick Theuring 1986). Aktuell bemerkenswert sind Versuche einer Neukonzipierung erziehungswissenschaftlicher Transferforschung, die sich in den begrifflich-systematischen Grundlagen aber gerade an Everett M. Rogers und der kommunikationswissenschaftlichen Diffusionsforschung orientieren (s. Wiechmann 2002, Jäger 2004, Gräsel/Jäger/Willke 2006).
Eine ähnliche Differenzierung findet sich in der Policy-Research mit der Unterscheidung von Ansätzen distributiver, redistributiver und regulativer Politik (Lowi 1964, 688ff.). „Distributive Politik bezeichnet alle diejenigen kurzfristigen und unzusammenhängenden Entscheidungen, die einzelne Interessen bzw. Akteursgruppen auszeichnen und fördern, ohne andere Interessen dadurch zu benachteiligen. (...) Regulative Maßnahmen berühren demgegenüber aufgrund der Berücksichtigung spezifischer Interessen die Verwirklichungschancen anderer Interessen; sie erhöhen die Kosten für andere Betroffene oder schränken deren Handlungsalternativen ein. (...) Redistributive Politik wiederum gleicht der regulativen Politik darin, daß diese politische Programmvorschläge und Entscheidungen einen hohen Koordinationsbedarf besitzen. Allerdings ist die Reichweite umverteilender Maßnahmen eine noch viel umfassendere. Redistributive Politik berührt die strukturellen Grundsätze, Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten einer Gesellschaft.“ (Janning 1998, 257–258).
Mit dem Begriff rechtszensiert wird der Sachverhalt beschrieben, dass durch die Begrenzung von Untersuchungszeiträumen in empirischen Untersuchungen der Fall eintreten kann, dass nicht für alle untersuchten Individuen (z.B. krebskranke Patienten) innerhalb des Beobachtungszeitraums eines der in Frage stehenden Ereignisse (z.B. Heilung oder Tod) eindeutig eingetreten ist. Statistische Auswertungen, die lediglich Einzelzeitpunkte oder Veränderungen zwischen einem Anfangs-und einem Endzustand analysieren, haben damit das Problem, die Bedeutung des Nicht-Eintretens eines Ereignisses im Untersuchungszeitraum systematisch zu unter-oder zu überschätzen. Ein rechtszensierter Beobachtungsverlauf ist dabei prinzipiell dem Lesen eines Satzes von Links nach Rechts vergleichbar bei dem der Text auf der rechten Seite unvermittelt endet. Bei einer ausschließlichen Betrachtung des letzten lesbaren Wortes einer Zeile (des Endzustandes einer Entwicklung), ist die Gefahr von Fehlinterpretationen überaus wahrscheinlich. Anders ist dies bei einem kontinuierlichen Einbezug der Entwicklung im Zeitverlauf, die einem Wort-für-Wort-Lesen des Textes entspräche. Nicht nur ist die Text-interpretation prinzipiell fundierter; auch kann anhand der vorliegenden Textinformationen zu projizieren versucht werden, was wahrscheinlich Inhalt der nachfolgend verloren gegangenen Satzsequenz gewesen wäre. Kaum bis keine zusätzlichen Vorteile haben Zeitverlaufsanalysen bei linkszensierten Beobachtungen, d.h. wenn vor Beginn des Untersuchungszeitraums relevante Ereignisse stattgefunden haben. Der Einfluss solcher Informationsmängel kann erheblich sein, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Vorläufergeschehnisse einen deutlichen Einfluss auf die Ereignissequenzen im Beobachtungszeitraum nehmen. Hier kann nur eine entsprechende Anlage des Untersuchungsdesigns Abhilfe schaffen (s. Dieckmann/ Mitter 1984, 23).
So interpretiert Schein 1972 die Innovativität u.a. als Indikator für die Macht eines Individuums in einer Organisation, das soziale System zu ändern (s. a. Aregger 1975, 114).
Ein anderes — in seinen Analysemöglichkeiten allerdings sehr begrenztes Vorgehen — bietet der Zeitvergleich über unterschiedliche Policydiffusionen hinweg. Diesen Weg geht Walker (1969), der Policy-Diffusions in den Zeiträumen 1870 bis 1929 und 1930 bis 1966 miteinander verglich und eine deutliche Beschleunigung der Adaptionen beobachten konnte. Für die Bundesrepublik Deutschland, die eine weitaus kürzere Geschichte hat (Gründung 1949) und deren Gesamtgestalt sich mit der Wiedervereinigung im Jahr 1990 grundlegend verändert hat, ist eine Gegenüberstellung von Zeitphasen vergleichsweise schwierig. Für die Frage, ob sich mit dem Auseinanderbrechen des länderübergreifenden Reformkonsenses der ersten Bildungsreform ca. ab 1970 eine deutlichere parteibezogene Abhängigkeit der Diffusion von schulpolitischen Gestaltungsideen ergeben habe, ließe sich zumindest für die Länder der alten Bundesrepublik prüfen: Policy-Diffusions von 1950 bis 1969 und von 1970 bis 1989 wären gegenüberzustellen.
Generell ist von höchst ambivalenten Wirkungen des allgemeinen systemischen Innovationskontextes auszugehen. Kann einerseits erwartet werden, dass durch eine starke nationale kulturelle Integration der Gliedstaaten die Übertragbarkeit von Innovationen erleichtert wird, so kann diese andererseits als Ideal nationaler Einheitlichkeit auch Innovationen behindern, da einseitige Neuerungen und tiefgreifende Reformen in einzelnen Staaten vorwiegend als Abweichungen wahrgenommen und negativ sanktioniert werden (s. z.B. Rürup 2005).
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(2007). Forschungsansatz und Forschungsvorbilder. In: Innovationswege im deutschen Bildungssystem. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-90735-2_3
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Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften
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