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Foucault als Hermeneut?

Lassen sich Diskursanalyse und Hermeneutik gewinnbringend miteinander verbinden?

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Auszug

Erst schlug Pierre seiner Mutter mit der scharfen Hippe ins Gesicht. Immer wieder. Mit großer Wucht. Schließlich versuchte er durch mehrere Schläge den Kopf der Mutter vom Rumpf zu trennen. Mit der Mutter starb auch das ungeborene Kind, mit dem sie im siebten Monat schwanger war. Dann erschlug der gerade erst 20 Jahre alte Pierre Riviére seinen 8-jährigen Bruder Jules: Mehrere Hiebe trafen den Knaben im Nacken und an den Schultern, ein Teil der Hirnschale wurde dadurch fast gänzlich abgelöst. Dann griff Pierre sich seine 18-jährige Schwester Victoire, die sich heftig wehrte und laut schrie. Ohne auf die herbeigeeilte Nachbarin zu achten, zerrte Pierre seine Schwester an den Haaren zur Tür und schlug mit der Hippe auf sie ein. „Mehrere Hiebe desselben Instruments waren tief in ihre Kehle gedrungen; das Gesicht war desgleichen von tiefen Wunden zerschnitten“ (Foucault 1975: 57). Nach den Morden verließ Pierre ohne sichtliche Aufregung den Tatort. All das ereignete sich am 3. Juni 1835 in der Bretagne, in einem kleinen Dorf in der Nähe von Caen.

Die hier vorgelegte Auseinandersetzung mit der Foucaultschen Diskursanalyse greift auf die projektinterne Diskussion über die Angemessenheit des methodischen Vorgehens, nämlich der geplanten Kopplung von Diskursanalyse und hermeneutischer Wissenssoziologie, zurück. In diesen Diskussionen ging es uns nicht darum, Diskursanalyse und Hermeneutische Wissenssoziologie zu einer homogenen Methodologie zu integrieren. Wichtig war uns vielmehr die wechselseitige Verständigung über die Anschlussfähigkeit der beiden Konzepte (siehe hierzu auch Niehaus / Schröer 2004, 2005). Ein Auszug dieses Verständigungsprozesses wird in diesem Beitrag aus der Sicht der Hermeneutischen Wissenssoziologie vorgestellt. Die dokumentierte Auseinandersetzung mit einer frühen Form der Foucaultschen Diskursanalyse, das sei hier ausdrücklich erwähnt, führte dann zu der Einsicht, dass insbesondere die in den späten Arbeiten Foucaults zur Ausdifferenzierung seines Subjektivierungskonzepts auffindbare Vorgehensweise in Verbindung mit einer hermeneutisch arbeitenden Wissenssoziologie fruchtbarer ist. Insofern markiert dieser Artikel — aus Sicht einer Hermeneutischen Wissenssoziologie — die Kippstelle unserer Debatte. Die hier vorgetragenen Überlegungen sind zudem Teil einer vor einiger Zeit begonnenen, kritischen, eher unsystematischen Auseinandersetzung mit den Grundlagen der qualitativen Sozialforschung (vgl. Reichertz. 1997, 1999 und 2003). Umfassender sind diese Gedanken in Reichertz 2005 vorgelegt worden.

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References

  1. Summarische Interpretation deshalb, weil hier (a.) noch nicht einmal in Ansätzen der Prozess des Interpretierens wiedergegeben wird, sondern allein die Ergebnisse, weil (b.) keine Gründe für die Deutung vorgestellt werden, sondern allein eine generalisierte Deutung der Ereignisse. In der Sekundärliteratur wird das Verfahren Foucaults in der ‚Archäologiephase’ so beschrieben: „Der Archäologe des Wissens nennt seine Verfahrensweise ‚konkrete Untersuchungen‘. Er analysiert die verbalen Performanzen an Hand bestimmter Angriffslinien, welche, wie im Fall Rivière aus medizinischen Gutachten, Gerichtsakten und dem Memoire des Angeklagten bestehen. Fern vom Prestige des Geschriebenen will er einzig und allein die Formation und das Spiel eines Wissens in seinen Beziehungen zu den Institutionen analysieren und die Herrschaftsverhältnis dechiffrieren, welche im Inneren eines Diskurses angelegt sind. Auf diesen Verhältnissen basiert und fungiert der Diskurs, auch seinen gesellschaftlichen Status erhält er von ihnen“ (Kremer-Marietti 1976: 5f).

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  2. Nach Keller entwarf Foucault die Diskursanalyse in der Zeit der ‚Archäologie’ „als fotografischen Schnappschuss zu einer bestimmten historischen Zeit“ (Keller 2005:169).

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  3. „Das, was uns aus der Natur heraushebt, ist nämlich der einzige Sachverhalt, den wir seiner Natur nach erkennen können: die Sprache. Mit ihrer Struktur ist Mündigkeit für uns gesetzt. Mit dem ersten Satz ist die Intention eines allgemeinen und ungezwungenen Konsensus unmissverständlich ausgesprochen. Mündigkeit ist die einzige Idee, deren wir im Sinne der philosophischen Tradition mächtig sind“ (Habermas 1976: 163).

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  4. Aus Webers auch heute noch sehr lesenswerten Auseinandersetzung mit Knies und dem Irrationalitätsproblem hier nur ein kurzes Zitat: „Im gleichen Maße aber, wie die Deutbarkeit abnimmt […], pflegen wir […] dem Handelnden die ‚Willensfreiheit ‘(im Sinne der ‚Freiheit des Handelns‘) abzusprechen: es zeigt sich mit anderen Worten schon hier, daß ‚Freiheit ‘des Handelns […] und Irrationalität des historischen Geschehens, wenn überhaupt in irgendeiner allgemeinen Beziehung, dann jedenfalls nicht in einem solchen Verhältnis gegenseitiger Bedingtheit durch einander stehen, daß Vorhandensein oder Steigerung des einen auch Steigerung des andern bedeuten würde, sondern […] gerade umgekehrt“ (Weber 1973: 69).

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  5. Selbst wenn der Handelnde, so Alfred Schütz in seiner Auseinandersetzung mit Talcott Parsons, in seinem Handeln einhält und überlegt, „geht es ihm nicht darum, wissenschaftliche Wahrheit zu finden, sondern lediglich darum, seine privaten Erfolgschancen zu kontrollieren. Im konkreten Vollzug seiner Handlung kann der Handelnde nicht irren. Ist ein Entwurf realisiert, seine Handlung vollzogen, kann er natürlich sehr wohl erkennen, daß er einen Fehler gemacht hat, daß sein Plan falsch war […]. Aber der so genannte Handelnde ist kein Handelnder mehr, wenn er auf vollzogene (oder als vollzogen imaginierte) Handlungen zurückblickt“ (Schütz 1977:45).

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  6. Schütz bezieht sich in seiner Kritik auf Parsons ‚Structure of Social Action ‘(1937/1968). Zur Rezeption von Parsons Theorie sozialen Handelns siehe Schütz 1977: 29ff. Beispielhaft für Paretos (soziologische Erkenntnis grundlegende) Annahme nicht-logischer Handlungen ist folgendes Zitat: „Die Illusionen, die sich die Menschen hinsichtlich der Motive machen, die ihre Handlungen bestimmen, haben mannigfaltige Quellen. Eine der wichtigsten ist die Tatsache, daß sehr viele menschliche Handlungen nicht die Konsequenz rationalen Denkens sind. Diese Handlungen sind rein instinktiv, der sie vollziehende Mensch empfindet indes Vergnügen daran, wenn er ihnen — übrigens willkürlich — logische Ursachen zugrunde legt“ (Pareto 1975: 121).

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  7. Ronald Hitzler macht darauf aufmerksam, wie man in Kenntnis des Vorkommens nichtlogischer Handlungen dennoch sinnvoll Sozialwissenschaft betreiben kann: „Auf nicht-logisches Handeln uns zu besinnen, heißt demnach nicht, darauf zu verzichten, den Gegen-Stand rational zu diskutieren, wohl aber heißt es, zum einen, logische Konstruktionen (zweiten Grades) nicht mit der Sache selbst zu verwechseln, sondern uns ihrer — analytisch nützlichen — ‚Künstlichkeit ‘gewärtig zu bleiben, um zum anderen, ihre Adäquanz und subjektive Interpretierbarkeit zu sichern, sie als — zwangsläufig simplifizierende und entsinnlichende Re — Konstruktion des gelebten Lebens als einem stets komplexeren Erleben anzulegen und anzusehen“ (Hitzler 1988: 5). Ronald Hitzler thematisiert hier jedoch nicht das Problem der Sinnhaftigkeit von Handeln, sondern vor allem das Problem der Deutung von Handlungen als Konstruktion typischer Handlungen. Der Zusammenhang von Handeln und Deutung wird erst dann fiir den Hermenuten schwierig, wenn man wie Thomas Eberle zu recht darauf besteht, dass die Deutungen ‚sinnadäquat ‘zu sein haben. Je nach hermeneutischen Selbstverständnis werden dann die Deutungen ‚Konstruktionen‘, ‚(Re-)Konstruktionen ‘oder gar ‚Rekonstruktionen ‘genannt.

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  8. Zur Konzeption einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik siehe ausführlich Soeffner 1989: 66–139. Zur Geschichte der Hermeneutik aus wissenssoziologischer Sicht siehe Kurt 2004.

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© 2007 VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden

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Reichertz, J. (2007). Foucault als Hermeneut?. In: Reichertz, J., Schneider, M. (eds) Sozialgeschichte des Geständnisses. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-90700-0_10

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