Auszug
In den letzten Jahren hat das Konzept der sozialen Exklusion breite Beachtung in der soziologischen Theorie, der Sozialpolitikforschung und der empirischen Sozialforschung sowie in der politischen Arena gewonnen. Insbesondere die Europäische Union verlagerte in den 1990er Jahren den Fokus ihrer Sozialpolitikanalysen von der Erforschung von Armut hin zur Untersuchung der Mechanismen sozialer Exklusion und Inklusion (Room 1995). In Großbritannien machte Tony Blairs Labour-Regierung Social Exclusion zu einem ihrer zentralen gesellschaftspolitischen Themen- und Profilierungsfelder. In Deutschland wurde Ausgrenzung bisher vor allem im Rahmen der politikberatenden Diskussion über die Spaltung der Arbeitsmärkte in Insider und Outsider (vgl. Streeck 1996) thematisiert, der Begriff der sozialen Exklusion blieb weitgehend auf die akademische Debatte beschränkt. Auch hier hält jedoch in die politische Öffentlichkeit zunehmend ein Diskurs Einzug,1 der die Existenz einer Gruppe von ‚Überflüssigen‘ postuliert und die Reintegration in den ersten Arbeitsmarkt um beinahe jeden Preis als das zentrale Ziel der Überwindung von Ausgrenzung identifiziert.
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Literatur
Siehe die Feuilleton-Debatte deutscher Tages-und Wochenzeitungen im Frühjahr 2005 (hier exemplarisch Uchatius 2005) sowie die durch den SPD-Vorsitzenden Kurt Beck und die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung „Gesellschaft im Reformprozess“ (Müller-Hilmer 2006) im Herbst 2006 erneut angestoßene Diskussion zur ‚neuen Unterschicht‘.
Etwa gleichzeitig gewann der Begriff der ‚Underclass ‘einen starken Einfluss auf die US-amerikanische Armutsdiskussion. Er wurde später aber auch in Europa aufgegriffen. Für eine kontrastierende Diskussion des europäischen Exklusions-und des US-amerikanischen Underclass-Begriffs vgl. Kronauer 2002: 52–75.
In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff Wohlfahrtsstaat und nicht der Begriff Sozialstaat verwendet, da dieser international gebräuchlicher ist und neben der Einkommenssicherung im Fall des Ausfalls der Arbeitskraft auch andere Bereiche wohlfahrtsorientierter Staatstätigkeit wie Gesundheitspolitik, Wohnungs-und Bildungspolitik umfasst. Außerdem stellt der Begriff Sozialstaat laut Alber und Schölkopf (1996: 706) eine Kampfansage an den vermeintlich ausufernden und freiheitsgefährdenden ‚Wohlfahrtsstaat’ dar.
Vgl. auch Dahrendorf 1988, 1994a.
Vgl. exemplarisch die einflussreiche OECD Jobs Study (1994), das Jahresgutachten 2002/2003 des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Sachverständigenrat 2002/2003) sowie Haveman 1998 und Hemerijck 1999. Zur empirisch fundierten Kritik dieser Position vgl. Ganßmann 2000: 95–109.
Vgl. exemplarisch die Beiträge des in Deutschland wohl exponiertesten und politisch entschlossensten Vertreters dieser Position, Hans-Werner Sinn vom IFO-Institut (Sinn 2001, Sinn/Holzner/Meister u.a. 2002). Vgl. auch Sachverständigenrat 2002/2003: 268–271 und 276–277 sowie Zimmermann 2005.
Diese Argumentation wurde vor allem von zwei prominenten US-amerikanischen Politikberatern verfochten, denen es damit gelang, nicht nur intellektuellen Einfluss auf die US-amerikanische Underclass-Diskussion und die Reform der Sozialhilfe unter Clinton zu nehmen, sondern auch Debatten in Europa zu beeinflussen (vgl. Murray 1984, 1996, Mead 1996, 1998).
Teilweise wird diese Argumentation mittlerweile auch von Experten vertreten, die der Sozialdemokratie nahe stehen, in Deutschland etwa von Streeck (1999). Vgl. auch Kapitel 7.2.
Goos und Schmid (1999) unterscheiden innerhalb dieser Position zwischen einer libertär-konservativen Politik der „Integration durch Not“ einerseits, bei der Kürzungen und Einschränkung von sozialen Leistungen den primären Ansatzpunkt darstellen, und einer autoritär-konservativen Politik der „Integration durch Zwang“ andererseits, die in staatlich administrierten Aktivierungsmaßnahmen das Instrument zur Überwindung von ‚Abhängigkeit’ sieht, und ordnen diese Charles Murray auf der einen, Lawrence Mead auf der anderen Seite zu. In der Praxis wohlfahrtsstaatlicher Reform treten diese Idealtypen jedoch nicht in Reinform, sondern in spezifischen Mischungsverhältnissen auf. Auch in die US-amerikanische Welfare Reform flossen beide Positionen mit ein (Goos/Schmid 1999: 21).
“ [T]he best safeguard against social exclusion is a job” (Europäischer Rat 2000: Ziffer 32, vgl. auch European Commission 1994, insbesondere Kapitel VI ‚Social Policy and Social Protection — An Active Society for All’ sowie European Commission 1992).
Zur Analyse und Kritik dieses reduzierten Exklusionsbegriffs vgl. Levitas 1996, 1998.
Der Ausschluss von Erwerbsarbeit muss nicht zwangsläufig zu sozialer Ausgrenzung führen. Entscheidend dafür, ob Erwerbslosigkeit tatsächlich als soziale Exklusion erfahren wird, ist angesichts der fortbestehenden Zentralität der Erwerbsarbeit in westlichen Wohlfahrtsstaaten, ob für Nichterwerbstätige gesellschaftlich anerkannte Alternativrollen bereit stehen, die soziale Anerkennung sowie Existenzsicherung gewähren und von den Individuen freiwillig angenommen werden. Allerdings werden Statusalternativen wie die Hausfrauenrolle oder der Vorruhestand im Wandel von der Hausfrauen-/Versorgerehe zu anderen Formen der Arbeitsteilung in der Familie sowie im Zuge der Rücknahme der Frühverrentungspolitik zunehmend problematisch und/oder delegitimiert (Kronauer 2002: 157).
Die Ursachen ökonomischer Ausgrenzung sowie die Priorität der sozialstaatlichen Kompensationsinstanzen können sich im historischen Verlauf verändern. So war z.B. Armut in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit vor allem ein Problem des Alters und unzureichender Rentenansprüche speziell von Frauen, das Rentensystem daher die zentrale sozialstaatliche Kompensationsinstanz (Leibfried/ Leisering/ Buhr u.a. 1995: 211–216).
So etwa auf die geschlechtsspezifischen Implikationen bestimmter institutioneller Arrangements (Langan/ Ostner 1991, Lewis 1992, Ostner 1998, Sainsbury 1999), aber auch auf die Sicherungssysteme bei Erwerbslosigkeit (Gallie/Paugam 2000b).
Zur Methode des fallorientierten Vergleichs vgl. Ragin 1987. Zum Unterschied zwischen fallorientierter und variablenorientierter Methode vgl. auch Trampusch 2000: 64/65.
Ausnahmen bilden die Beiträge, die aus dem Centre for the Study of Social Exclusion (CASE) an der London School of Economics and Political Science hervorgegangen sind. Vgl. etwa Hills/ Le Grand/ Piachaud 2002, darin insbesondere die Beiträge von Hills 2002 und Agulnik/Burchardt/Evans 2002. Vgl. außerdem Evans 2001b.
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(2007). Einleitung. In: Soziale Exklusion im Wohlfahrtsstaat. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-90499-3_1
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