Auszug
Anfang der 50er Jahre besteht in der bundesdeutschen politischen Gemeinschaft kaum Gewissheit darüber, was ihre grundlegenden Werte sind und welche moralische Qualität den einzelnen Wertangeboten zukommt. Im März 1952 sind 52% der jungen Männer der Auffassung, dass es nichts — weder Deutschland, die Familie, die Freiheit, der Glaube noch andere Ideale — gibt, wofür sich der Einsatz des Lebens lohne.1 Das Grundgesetz erlangt unter diesen Bedingungen vor allem deshalb eine überparteiliche Zustimmung, weil es von den meisten nur als ein Provisorium angesehen wird.2 40% der Deutschen ist das zukünftige Grundgesetz 1949 gleichgültig, 33% interessiert es mäßig, und nur 21% sind sehr an dieser Verfassung interessiert.3 Noch 1955 kennt mehr als die Hälfte der Deutschen ihre Verfassung nicht (51%). Immerhin 30% halten das Grundgesetz für gut, 14% sind unentschieden, und nur 5% finden das Grundgesetz nicht gut.4 Einigkeit ist seinerzeit darauf reduziert, was man nicht sein will: kommunistisch wie die DDR.5 Indes blieb die politische Ordnung „umlauert von Tabus und verdrängten Problemen“.6 Auch in der Rechtswissenschaft bestand zunächst nur Einigkeit darüber, was man nicht wollte: den Rechtspositivismus. Er wurde für das Versagen der Richterschaft während des Nazi-Regimes verantwortlich gemacht. Statt dessen begab man sich zwar zunächst auf den „Rückweg zum Naturrecht“.7 Methodologisch erschien jedoch in den 50er Jahren vor allem die Topik vielversprechend, derzufolge die „Hoffnungen [der Juristen, AB] auf Systematik vergebens seien, da es sich bei der Jurisprudenz letztlich um eine problemerörtende Kunst handele. […] Die den Fachvertretern hinreichend bekannte unzulängliche Determiniertheit der juristischen Entscheidung durch das Gesetz schien nicht nur theoretisch erklärt, sondern auch unvermeidlich.“8
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Literatur
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© 2006 VS Verlag für Sozialwissenschaften/GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden
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Brodocz, A. (2006). Balancen der Macht. In: Vorländer, H. (eds) Die Deutungsmacht der Verfassungsgerichtsbarkeit. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-90350-7_8
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