Auszug
Gesellschaftliche Entsolidarisierung ist ein häufig, gleichwohl zumeist unscharf verwendeter Begriff zur Charakterisierung unterschiedlicher, in der Regel als problematisch erachteter Entwicklungen, die insbesondere im Kontext der Diskussionen zum Rückbau des Sozialstaates, zum Umbau der Sozialversicherungssysteme und zum Funktionswandel intermediärer Instanzen (Familie etc.) angesprochen werden. Eine jüngere Taxonomie von Kaufmann (1997) unterscheidet drei Betrachtungsebenen. Entsolidarisierung äußert sich hiernach
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1.
als individuelle Entsolidarisierung, indem Einzelpersonen unter zweckwidriger Ausnutzung von Rechtsregeln oder unter bewusster Inkaufnahme von Rechtsverstößen sich Vorteile verschaffen. Insbesondere werden Tatbestände der Subventionserschieichung oder der unberechtigten Inanspruchnahme von Sozialleistungen hierunter ebenso subsumiert wie Steuerflucht, Steuerverkürzung oder die illegale Beschäftigung von Arbeitnehmern und Schwarzarbeit.
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2.
als kollektive Entsolidarisierung, indem Verbands- oder Unternehmensmacht dazu benützt wird, die Bedingungen der Tarifpartnerschaft zu unterhöhlen und das in Jahrzehnten bewährte Verfahren begrenzter Konfliktaustragung und die dabei gewachsene Basis wechselseitigen Verständnisses und Vertrauens durch Radikalisierung der eigenen Mitglieder und durch unnötige Provokationen in Frage zu stellen. Als kollektive Entsolidarisierungsprozesse müssen jedoch auch solche Absprachen gelten, in denen Arbeitgeber und Gewerkschaften sowie ihre politischen Repräsentanten sich auf Gesetzesänderungen einigen, die zu Lasten der nicht bzw. nicht mehr am Erwerbsleben beteiligten Gruppen gehen.
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3.
als kulturelle Entsolidarisierung, indem die normativen Grundlagen der Sozialstaatlichkeit in Frage gestellt werden und ein Recht der Stärkeren bzw. Leistungsfähigeren postuliert wird, deren Durchsetzungschancen im Rahmen verschärfter Verteilungskonflikte sich ohnehin deutlich vergrößert haben.
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© 2006 VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden
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Anhut, R., Heitmeyer, W. (2006). Folgen gesellschaftlicher Entsolidarisierung. In: Bremer, H., Lange-Vester, A. (eds) Soziale Milieus und Wandel der Sozialstruktur. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-90281-4_6
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