Auszug
Für Fraenkel ist die Kritik an Schmitt und der Rückgriff auf Kelsen bei der Entwicklung seiner Pluralismustheorie bestimmend. Aufgrund des zur Weimarer Zeit noch dominanten Analyserasters der Klassenspaltung73 gelingt es ihm jedoch zunächst einmal nicht, die Kritik an der „relativistischen Demokratie“ Kelsens gegenüber Schmitts „Freund-Feind-Konzept“ der Volkseinheit argumentativ zu nutzen. Er erkennt zwar von diesem Standpunkt aus, dass der Kelsensche Formalismus und Relativismus Ausdruck pluralistischer Demokratie ist, Kelsens Reduktion des „Staats“ auf die positive Rechtsordnung also die Voraussetzung darstellt, um das „Gemeinwohl“ überhaupt im Sinne einer „Resultierenden“ des politischen Machtkampfes autonomer Gruppen begreifen zu können. Schon 1927 führt er in seinem Aufsatz zur „Klassenjustiz“ daher hinsichtlich des Wechsels vom „überparteilichen“ Obrigkeitsstaat zur parteienpluralistischen Weimarer Republik in direktem Bezug zu Kelsen aus:
„Mit Fortfall der monarchischen Staatsspitze, die in der Vorstellung des Richtertums durch die Sanktion den Gesetzentwurf aus dem Interessenkampf und Parteienhader in eine parteilose, klassenfreie Sphäre erhoben hatte, sieht der Richter das Recht als Spielball der gesellschaftlichen Kräfte... das Recht, das ihm als absolute Größe erschienen war, offenbart sich ihm jetzt in seiner ganzen Relativität. Relativismus ist aber auch das Kennzeichen einer Demokratie, die ihrem Wesen nach die Berechtigung einer Vielheit von Ansichten zugibt, der jeder Gesetzgebungsakt sich als Sieg einer parteipolitischen Majorität über die Minorität darstellt mit der Möglichkeit, daß sich die Minorität von heute zur Majorität von morgen auswächst“74.
Vgl. hierzu van Ooyen, Der Staat der Moderne, Kap. „Klassenkampf nicht Pluralismus: Fraenkels Weimarer Schriften“, S. 245 ff.
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Literatur
Fraenkel, Zur Soziologie der Klassenjustiz, S. 183; hier Bezug nehmend auf Kelsen, Das Problem des Parlamentarismus.
Heller, Die Krisis der Staatslehre, S. 301.
Fraenkel, Chronik (April 1932), S. 572; die „Chronik“ verfasste Fraenkel im Rahmen seiner Tätigkeit bei „Die Justiz“, der Zeitschrift des Republikanischen Richterbunds.
Fraenkel, Chronik (Februar/März 1932), in der Besprechung der erweiterten Neuauflage; ebd., S. 569.
„Sozialist, aber kein Revolutionär“, Göhler, Vom Sozialismus zum Pluralismus, S. 10.
Insoweit ist die Einschätzung bei Göhler schief, Fraenkels späteres Pluralismuskonzept sei eigentlich „nur“ „dialektische Demokratie minus klassenlose Gesellschaft“, ebd., S. 11.
Fraenkel, Der Urdoppelstaat, S. 389.
Fraenkel, Der Urdoppelstaat, S. 328; hier jedoch aus Fraenkels Sicht der „Klassenlage“ akzentuiert bzgl. des Zusammenhangs von totalem Staat und Privateigentum; vgl. auch S. 363.
Vgl. Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens.
Vgl. Fraenkel, Der Urdoppelstaat, z. B. S. 412 f. in der Kritik des „konkreten Ordnungsdenkens“; S. 465.
Vgl. Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, hier S. 24–26.
Fraenkel, Der Urdoppelstaat, S. 471 f.
Ebd., S. 472.
Zu diesem „Kreuzzug“ gegen die Moderne und zu der auf dieser Folie sich vollziehenden Kontroverse mit Kelsen vgl. van Ooyen, Der Staat der Moderne, § 12.
So auch schon von Brünneck: „Sein Ansatz wurde durch Max Weber geprägt und durch die kämpferische Auseinandersetzung mit Carl Schmitt an dessen Seminar er im Sommer 1931 teilgenommen hatte“; Ernst Fraenkel (1898–1975), S. 363.
Vgl. z. B. Fraenkel, Auseinandersetzung mit Carl Schmitt (Rezension 1957), S. 595 ff; Fraenkel, Parlament und öffentliche Meinung, S. 226 ff; Fraenkel, Die Wissenschaft von der Politik und die Gesellschaft, S. 343.
Fraenkel, Der Pluralismus als Strukturelement der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie, S. 287 ff.
Fraenkel, Korea — ein Wendepunkt im Völkerrecht?, S. 497.
Fraenkel, Der Pluralismus als Strukturelement der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie, S. 308.
Ebd., S. 311.
Ebd., S. 307; zur Kritik an Rousseau vgl, auch Fraenkel, Möglichkeiten und Grenzen politischer Mitarbeit der Bürger in einer modernen parlamentarischen Demokratie, S. 390 ff.
So auch in der Einschätzung bei Detjen, Neopluralismus und Naturrecht, S. 378. Auch Detjen hebt hier hervor, dass unter den „wertfreien“ positivistischen Ansätzen von Weber, Radbruch und Kelsen sich „Fraenkels Kritik insbesondere gegen Kelsen“ richtet.
Fraenkel, „Rule of Law“ in einer sich wandelnden Welt (1943/44), S. 59 bzw. S. 60.
Ebd., S. 60.
Vgl. Laski, A Grammar of Politics; vgl. auch Steffani, Pluralistische Demokratie, S. 41; mit a. A., wonach Laski sich zum Marxismus gewendet habe, ohne jedoch den Pluralismus aufzugeben („sozialistischer Pluralismus“) vgl. Eisfeld, Pluralistischer Sozialismus, S. 424 f; auch Nuscheier / Bernbach, Sozialistischer Pluralismus, Einleitung, S. 11, S. 49.
Fraenkel, Der Pluralismus als Strukturelement der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie, S. 307.
So schon Fraenkel, „Rule of Law“ in einer sich wandelnden Welt, S. 70.
So schon Fraenkel, Der Neuaufbau des Rechtsstaats im nach-Hitlerischen Deutschland, S. 78.
Vgl. z. B. Fraenkel, Der Pluralismus als Strukturelement der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie.
Vgl. Fraenkel, Strukturdefekte der Demokratie und deren Überwindung, S. 69 f; vgl. auch die aufzählende Darstellung in Fraenkel, Strukturanalyse der modernen Demokratie, S. 354.
Die Verbindung von Pluralismus und Naturrecht wird an dieser Stelle nicht weiter verfolgt; vgl. hierzu umfassend Detjen.
Fraenkel, Strukturanalyse der modernen Demokratie, S. 354.
Vgl. hierzu schon von Greiff, Pluralismustheorie und Status Quo, S. 1063 ff; Buchstein, Ernst Fraenkel als Klassiker?, S. 460.
Vgl. z. B. Fraenkel, Ursprung und politische Bedeutung der Parlamentsverdrossenheit, S. 17 ff; vgl. als Sekundärliteratur insgesamt auch die Arbeit von Erdmann, Neopluralismus und institutionelle Gewaltenteilung.
„In allen freiheitlichen rechtsstaatlichen Demokratien bilden heute die Interessengruppen — um einen Ausdruck Ferdinand Lassalles zu verwenden, ‚ein Stück Verfassung‘“; Fraenkel, Die Wissenschaft von der Politik und die Gesellschaft, S. 342; zur Rezeption Lassalles bei Kelsen vgl. van Ooyen, Der Staat der Moderne, S. 59 f.
Mit Bezug auf Fraenkel führt auch Peter Massing aus: „In Antithese zu Jean Jacques Rousseaus politischer Anthropologie-eines von Natur aus guten, durch die Gesellschaft aber vom Eigennutz verderbten Menschen-, gewinnt der Begriff des Interesses und der an seinen Interessen orientierte Mensch in der neopluralistischen Staatstheorie eine positiv kategoriale Bedeutung“; Interesse und Konsens, Kap. „Anthropologische Prämissen der neopluralistischen Theorie-Zum Menschenbild Ernst Fraenkels“, S. 64.
Fraenkel, Akademische Erziehung und politische Berufe, S. 319 bzw. S. 321.
Fraenkel, Möglichkeiten und Grenzen politischer Mitarbeit der Bürger in einer modernen parlamentarischen Demokratie, S. 398 (hier mit Bezug auf die Arbeiten von Talmon); diese Stelle mit kurzem Hinweis auf die politische Anthropologie Fraenkels auch bei Benzler, S. 332. Zu den politisch-anthropologischen Prämissen bei Kelsen vgl. hier Kap. IA 3.
Vgl. Steffani, Einleitung; in: Nuscheier / Steffani, S. 33.
Smend, Maßstäbe des parlamentarischen Wahlrechts in der deutschen Staatstheorie des 19. Jahrhunderts (1912; zugleich akademische Antrittsrede von 1911), S. 29; vgl. auch die ähnliche Formulierung in: Die Verschiebung der konstitutionellen Ordnung durch die Verhältniswahl (1919), S. 60 f.
Vgl. Smend, Maßstäbe des parlamentarischen Wahlrechts; ebd., S. 27.
Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, S. 479; ähnliche Formulierungen auch in Kelsen, Über Grenzen zwischen juristischer und soziologischer Methode, S. 28 f; kurze Hinweis über die auffallenden Übereinstimmungen zwischen Kelsen und Fraenkel auch schon bei: Bauer, Wertrelativismus und Wertbestimmtheit im Kampf um die Weimarer Demokratie, S. 124; Luthard, Politiktheoretische Aspekte im „Werk“ von Hans Kelsen, aber nur am Rande in der Fn 66 auf S. 166; auch Boldt („neopluralistisch“, ohne Nennung Fraenkels), Demokratietheorie zwischen Rousseau und Schumpeter, S. 222; zum Kontext vgl. auch Kap. I A.
Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl., S. 22.
Ebd., S. 23; vgl. auch S. 57 und nochmals, mit Bezug zum Parlamentarismus, S. 58: „Auf die Erzielung einer solchen mittleren Linie zwischen einander entgegengesetzten Interessen, einer Resultante der einander entgegenwirkenden sozialen Kräfte ist ja das ganze parlamentarische Verfahren gerichtet“.
Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, S. 64.
Fraenkel, Historische Vorbelastungen des deutschen Parlamentarismus; ebd., S. 34; vgl. auch später die Unterscheidung von Gemeinwohl „a priori“ und „a posteriori“; in: Fraenkel, Der Pluralismus als Strukturelement der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie, S. 297 ff.
Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl., S. 54.
Göhler, Vom Sozialismus zum Pluralismus, S. 12; zur Thematik vgl. aber allgemein: Söllner, Deutsche Politikwissenschaftler in der Emigration, hier einleitendes Kap. „Vom Staatsrecht zur ‚political science‘“, S. 5 ff.
Auf das Biografische bezogen-und daher nur am Rande bemerkt-lässt sich eine weitere Übereinstimmung beider Pluralismustheoretiker finden. Denn die pluralistisehe Demokratietheorie ist die Theorie der Demokratie, die diese von der Minderheit her konzipiert. Das Begreifen von Demokratie nicht über Homogenität und Identität, sondern über Heterogenität und Differenz hat ja bei Kelsen und Fraenkel einen anlogen persönlichen Erfahrungshintergrund. Um ein modisches Schlagwort zu erweitern: Es ist nicht nur jeder Mensch Ausländer fast überall, es ist jeder Mensch überhaupt Teil einer Minderheit immer und überall. Und manche realisieren das im besonderen Maße, nicht zuletzt, weil die Gesellschaft sie es umso deutlicher spüren lässt. So hatte weder Kelsen einfach in allgemein-abstrakter Weise den österreichischen „Vielvölkerstaat“ vor Augen (vgl. hierzu das Zitat in Teil I Abschnitt A 2), noch war für Fraenkel der Begriff der Minderheit ein Abstraktum: „Was immer an jüdischem Bewußtsein bei mir vorhanden gewesen sein mag, wurde durch den Ausbruch des Krieges in den Hintergrund gedrängt. Ich war zutiefst davon überzeugt, daß der Krieg das Ende deutschen Antisemitismus’ bedeute...... so absurd schien mir der Gedanke, es könnte gegen jüdische Kriegsteilnehmer jemals Diskriminierungen vorgenommen werden. Dies schloß nicht aus, daß ich mir stets bewußt war, einer ‚Minderheitsgruppe ‘anzugehören... Das Gruppenproblem, das so eng mit dem Phänomen des Pluralismus verknüpft ist, bildet mein politisches Ur-Erlebnis“; Fraenkel, Anstatt einer Vorrede, Reformismus und Pluralismus, S. 15 Richtig bemerkt daher Benzler, S. 334, dass für Fraenkel „der Klassengegensatz nicht die einzige Entfremdungs-und Differenzerfahrung“ sei, die den „Weg für die Erweiterung seiner Überlegungen... hin zur Theorie des (Neo-) Pluralismus“ bereitete.
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(2006). Neo-Pluralismus als Kritik an Kelsen und Schmitt: Ernst Fraenkel. In: Politik und Verfassung. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-90077-3_2
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