1.1 Hintergründe und Problemstellung

Eine der Hauptanforderungen an die Bildung im 21. Jahrhundert besteht darin, Menschen auf die Teilhabe an einer wissensbasierten Wirtschaft vorzubereiten, einschließlich ihrer sozialen und kulturellen Dimensionen (UNESCO 2010, S. 31). Footnote 1

Politischen Sonntagsreden zufolge stellt in der Informationsgesellschaft (in der wir angeblich längst leben) das durch Bildung akkumulierte Wissen den wichtigsten Rohstoff, die zentrale ökonomische Ressource dar. Nur allzu gerne würden wir, Pädagog/innen, den Regierenden in diesem Punkt Glauben schenken. Schließlich mühen wir uns ein Leben lang ab, um ein solches Kapital zu lukrieren und ihn an die nächsten Generationen weiter zu reichen. Ein wenig Anerkennung tut da gut. Doch unsere Alltagserfahrungen belehren uns eines Besseren. Wenn das, was wir machen, tatsächlich – rein wirtschaftlich betrachtet – so viel Wert sein soll, warum sind dann unsere soziale Stellung, die Rahmenbedingungen unserer Arbeit und (um einmal beim Thema zu bleiben) unsere Bezahlung so, wie sie sind? Wir wollen ja nicht klagen – alleine schon weil wir wissen, dass das nichts bringt –, aber die Diskrepanz lässt sich beim besten Willen nicht sonntags-weg-reden.

Folglich schütteln wir die Versuchung einer materialistischen Begründung ab und halten anderweitig nach Gelegenheiten Ausschau, dem enormen Legitimationsdruck, dem unser Wirken zunehmend ausgesetzt ist, zu begegnen. Hier rasch fündig zu werden, fällt nicht schwer. Ob Kognitionspsychologie und Lerntheorie, oder Bildungsphilosophie und Ethik, ja sogar die Neurobiologie eröffnet uns neben mehreren weiteren Nachbardisziplinen zahlreiche Möglichkeiten, um die Bedeutung unseres Tuns zu belegen und bietet uns vielfältige Anknüpfungspunkte zur theoretischen Untermauerung unserer praktischen Anstrengungen. Und wir nutzen sie ausgiebig.

Doch auch da holt uns die Realität früher oder später ein. Denn irgendwann müssen sich sogar die größten Idealist/innen unter uns eingestehen, dass diesbezügliche Arbeits- und Forschungsergebnisse den Personenkreis, der für die Vergabe der Mittel zuständig ist, welche unsere Arbeit und Forschung ermöglichen, herzlich wenig interessieren. Das Einzige, was für sie – also für Politiker/innen im Allgemeinen und für Bildungspolitiker/innen im Besonderen – zählt, ist, ob die von ihnen im Bereich des Lehrens und Lernens ausgegebenen (Steuer-) Gelder dazu beitragen, die „Beschäftigungsfähigkeit“ der Adressat/innen entsprechender Maßnahmen sicherzustellen. Ausgehend davon wird die Qualität unserer Leistungen im Endeffekt nach einem einzigen Kriterium bemessen – danach, ob wir es schaffen, unseren Schüler/innen sowie Studierenden zu einem Berufseinstieg (bzw. -wiedereinstieg) und zu einem erfolgreichen Arbeitsleben zu verhelfen.

Auch auf die Gefahr hin, an dieser Stelle zahlreiche Leser/innen zu vergraulen, muss angemerkt werden, dass eine solche Herangehensweise – im Gegensatz zu den meisten anderen bildungspolitischen Zugängen – vom Autor des vorliegenden Buches vom Prinzip her größtenteils übernommen und mitgetragen wird. Der Begriff der „Beschäftigungsfähigkeit“ mag zwar hässlich sein, die dahinter stehende Zielsetzung ist das aber nicht unbedingt. Dagegen würde eine in diesem Punkt indifferente Pädagogik, aus deren Blickwinkel es austauschbar wäre, ob die von ihr Ausgebildeten später einer Arbeit nachgehen können, die sie im wahrsten Sinne des Wortes „erfüllt“ – d. h. sowohl ihren Lebensunterhalt deckt, als auch Ihren Interessen entspricht –, ein im höchsten Maße selbstreferenzielles sowie kurzsichtiges, wenn nicht sogar zynisches Unterfangen darstellen. Dabei geht es nicht nur um die bereits antike Weisheit, dass wir nicht für die Schule, sondern fürs Leben lernen sollten. Denn selbstverständlich darf die menschliche Existenz niemals auf ihre ökonomischen Aspekte verengt werden. Footnote 2 Jedoch ist es genauso wenig zielführend, bei allem Hochhalten geistiger Werte zu vergessen, dass eine gewisse finanzielle Sicherheit oder zumindest das Fehlen materieller Not auf Basis einer als sinnvoll erlebten beruflichen Tätigkeit die Grundvoraussetzung für jegliche Entfaltung intellektueller und schöpferischer Fähigkeiten darstellt. Jeder Bildungsansatz, der Letzteres fördern will, muss sich folglich ebenso um das Erstere bemühen.

1.2 Forschungsinteresse und zentrale Zielsetzungen

Hiermit scheint die Forschungsfrage, die in diesem Buch zu behandeln wäre, auf der Hand zu liegen: Es sollte um die Untersuchung der konkreten für die „Beschäftigungsfähigkeit“ in der Wirtschaft der unmittelbaren und ebenfalls ferneren Zukunft benötigten und deswegen in der Gegenwart pädagogisch zu fördernden Kompetenzen gehen. Oder anders ausgedrückt um die Analyse dessen, wie der Bildungssektor der eingangs zitierten Forderung der UNESCO nachkommen kann, Menschen – und hier in erster Linie Heranwachsende – auf die Teilhabe an der wissensbasierten Ökonomie vorzubereiten. So schön es auch wäre, solche Fragen eindeutig beantworten zu können, stellt sich ein derartiger Plan bei näherer Betrachtung jedoch von Anfang an als unrealisierbar heraus.

Erstens, weil die Fragen bereits eine unhaltbare Hypothese implizieren – und zwar jene der Voraussagbarkeit bzw. (ausgehend von irgendwelchen Daten, Statistiken etc.) der Berechenbarkeit ökonomischer Prozesse. In Wirklichkeit stellt jedoch „Wirtschaft“ einen Oberbegriff für im höchsten Maße vielschichtige, lebendige und interdependente gesellschaftliche Vorgänge dar, deren Reduktion auf einfache Kausalzusammenhänge von Ursachen und Wirkungen nicht nur unmöglich sondern in den meisten Fällen ebenso unzulässig ist. Individuen die behaupteten, sie könnten die Kursentwicklung der Aktienwerte auch nur einiger weniger an der Börse notierter Unternehmen lediglich um ein paar Tage im Voraus genau bestimmen, werden zu Recht als Scharlatane betrachtet. Wie ist es dann aber möglich, von Wissenschaftler/innen zu verlangen, sie sollen Jahre wenn nicht sogar Jahrzehnte in die Zukunft blicken und sagen, welche Kompetenzen die heutigen Schüler/innen und/oder Studierenden benötigen werden, um für die Ökonomien der nächsten Generationen gewappnet zu sein? Dass es immer wieder „Expert/innen“ gibt, die erklären, dieses hellseherische Talent zu besitzen, zeugt lediglich von ihrer Unfähigkeit bzw. ihrer Weigerung, die einzige unumstößliche und allzeit gültige Grundregel der Wirtschaft zu akzeptieren – nämlich jene, dass solche Regeln nicht existieren.

Ein zweiter Grund dafür, warum die Auseinandersetzung mit diesen Fragen keinen besonderen Erkenntnisgewinn verspricht, besteht in der in ihrem Rahmen transportierten bedeutenden Perspektivenverkürzung. Denn in ihrer Formulierung schwingt die Überzeugung mit, die Ökonomie würde den pädagogischen Sektor direkt, ohne Zwischenschaltung weiterer sozialer Bereiche beeinflussen. Das trifft insofern keineswegs zu, als gerade im Bildungsdiskurs zahlreiche gesellschaftliche Akteur/innen einiges mitzureden haben, bzw. mitzureden zu haben glauben. Deswegen werden die Anforderungen der Wirtschaft niemals unmittelbar sondern über verschiedenste (Ver-) Mittler/innen an Pädagog/innen herangetragen, zu denen für mannigfaltige Medien tätige Journalist/innen genauso gehören, wie Kolleg/innen aus anderen wissenschaftlichen Disziplinen und mancherorts auch Eltern von Schüler/innen an Lehranstalten tätiger Personen.

Das mit Abstand wichtigste Relais zwischen der Ökonomie sowie der Pädagogik stellt jedoch die Politik dar, da die Ansprüche der Ersteren die Letztere in erster Linie über den Umweg staatlicher Initiativen erreichen. Dabei mischen sich Regierende neuerdings mit ständig steigender Intensität auf diesem Gebiet ein und verlangen immer radikalere Reformen. Das geschieht hauptsächlich deswegen, weil sie in der Förderung des durch Schulungsmaßnahmen akkumulierten „Humankapitals“ zunehmend eine der wenigen, wenn nicht sogar die einzige verbliebene Möglichkeit der Verteidigung ihnen unterstehender Wirtschaftsstandorte im globalen Konkurrenzkrieg sehen. Daraus, dass der Bildungssektor folglich zu einer politisch außerordentlich heiß umkämpften Zone avanciert, resultiert, dass hier dem Staatshandeln (auf Grund der Notwendigkeit der Bedienung der Interessen unterschiedlichster sozialer Gruppierungen) ohnehin prinzipiell anhaftende Diskrepanzen besonders massiv zum Tragen kommen. Und zwar jene zwischen implizierten Motiven, explizierten Zielvorgaben, den tatsächlich gesetzten Aktionen sowie schließlich deren konkreten Auswirkungen.

Das in Kombination mit all den öffentlichen Zu- und Zwischenrufen ergibt eine erhebliche Verzerrung der gesamten Materie, sowie damit einhergehend eine enorme Erhöhung ihrer Komplexität. Denn wenn es bereits Pädagog/innen auf Basis eigener Erfahrungen sowie ihres Wissens bezüglich der Ökonomie kaum möglich ist, zu entscheiden, wie sie im Zuge der Gestaltung von Lehrprozessen auf bestimmte entsprechende Herausforderungen zu reagieren haben, wird ihnen diese Aufgabe durch die Notwendigkeit der Berücksichtigung einer schier unüberschaubaren Menge weiterer sich zum Teil widersprechender Tatsacheninterpretationen sowie daraus folgender nicht selten divergierender Handlungsanweisungen beträchtlich erschwert.

Jedoch bedeutet das keinesfalls, der anvisierte Themenbereich würde sich auf Grund seines hohen Komplexitätsgrades grundsätzlich einer Untersuchung entziehen, die konkrete Ergebnisse versprechen könnte. Das Einzige, was bisher – im Sinne einer forschungsleitenden Annahme – postuliert wurde, ist, dass sowohl die Wirtschaft als auch die Pädagogik keine fixen Größen, sondern fluktuierende Zustände darstellen, die nicht zuletzt auf sozialen Aushandlungsprozessen basieren und kaum direkt, zumeist aber gerade über diese sowie hier v. a. in Gestalt der (Bildungs-) Politik mit einander in Austausch treten. Eine solche Grundthese bringt uns der Eingrenzung und Präzisierung des Forschungsinteresses der vorliegenden Arbeit um einiges näher. Denn aus ihr resultiert, dass der Fokus nicht auf die Wirtschaft und die Pädagogik an sich, sondern auf die dazwischengeschalteten gesellschaftlichen Vorgänge zu lenken ist. D. h., dass es in diesem Buch um die Analyse der sozialen Kontexte des pädagogischen Wirkens in Theorie und Praxis gehen wird, wobei eine Schwerpunktlegung auf politökonomische Hintergründe der aktuelleren Entwicklungen im Bildungsbereich erfolgt.

Ein derartiger Zugang ist mitnichten mit einer „Verwässerung“ der Materie im Vergleich zur Auseinandersetzung mit der Frage nach Steigerungsmöglichkeiten der „Beschäftigungsfähigkeit“ verbunden, da er nur oberflächlich betrachtet eine Erhöhung des Abstraktionsgrades beinhaltet. Tatsächlich ergibt sich daraus jedoch die Chance, all den angesprochenen Verworrenheiten und Undurchschaubarkeiten des hier untersuchten Themas zum Trotz, zu erkennen, warum sich der auf das Lernen und Lehren bezogene Sektor in der derzeit bestehenden Art und Weise entfaltet hat. Letzteres wiederum erlaubt, Ansätze (wieder-) zu entdecken, die dazu verhelfen können, einen gesamtgesellschaftlich betrachtet sinnvollen Fortschritt im Bildungsbereich in Hinblick auf das Verhältnis zwischen Pädagogik und Ökonomiezu befördern. Beide letztgenannten Ansinnen stellen auch die zwei zentralen Zielsetzungen der Arbeit dar, wobei der Realisierung der Ersteren bei weitem mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird.

1.3 Zielgruppe und spezifische Zielsetzungen

Das vorliegende Buch richtet sich an alle, die sich für Bildungsfragen im Allgemeinen und für Wechselwirkungen zwischen Pädagogik und Politökonomie im Besonderen interessieren, wobei es in erster Linie an Leser/innen adressiert ist, die selbst in Lehrberufen unterschiedlichster Art tätig sind. Damit hängen bereits einige methodische Entscheidungen zusammen, wie z. B. jene, Grundbegriffe des pädagogischen Diskurses sowie Eckpunkte der Geschichte dieser Disziplin und v. a. ihre aktuellen (Alltags-) Probleme größtenteils als bekannt vorauszusetzen, dagegen wirtschaftliche und damit zusammenhängende politische Prozesse ausführlicher darzustellen, als es für Expert/innen auf entsprechendem Gebiet notwendig wäre. Gleichfalls resultiert daraus die Bemühung, den Text sprachlich so zu gestalten, dass er von Menschen mit Interesse verfolgt werden kann, die in der Auseinandersetzung mit rein akademischer Literatur nicht besonders geübt sind.

Auf der anderen Seite ist die Abhandlung auch so verfasst, dass sie höchsten Ansprüchen an wissenschaftliche Forschung genügen soll. Für die Hauptzielgruppe hat das im Gegensatz zu „populärwissenschaftlichen“ Sachbüchern nicht zuletzt den Vorteil der Transparenz sämtlicher Quellen, die den Autor zu seinen Aussagen bewogen haben. Damit erhalten Leser/innen die Option, Berichte und zitierte Ansichten zu überprüfen bzw. sich dazu eine eigene Meinung zu bilden sowie sich in Inhalte zu vertiefen, die ihr besonderes Interesse erregen. Gleichzeitig erlaubt eine derartige Vorgehensweise eine Rezeption und folglich Diskussion des Dargelegten in Fachkreisen, was die Chance eröffnet, die behandelten Themen stärker im pädagogischen Diskurs zu verankern und damit ebenso einen Beitrag zu seiner Weiterentwicklung zu leisten.

In Bezug auf beide solchermaßen festgelegten Adressat/innen-Gruppen lässt sich auch eine Ausdifferenzierung sowie nähere Bestimmung der gerade angegebenen zentralen Zielsetzungen vornehmen: Den „Praktiker/innen“ (d. h. Lehrer/innen) soll dieses Buch dazu dienen, ein besseres Verständnis der politökonomischen Rahmenbedingungen ihrer Tätigkeit zu erlangen. Auf Grundlage dessen ist die Beförderung ihres Erkennens jener Möglichkeiten angestrebt, die ihnen bei ihrer täglichen Berufsausübung in Hinblick auf die Vorbereitung ihrer Schüler/innen auf eine vollwertige gesellschaftliche Partizipation zur Verfügung stehen, zu welcher die ökonomische Teilhabe untrennbar dazu gehört.

Der Mehrwert für „Theoretiker/innen“ (d. h. Erziehungswissenschaftler/innen) sollte im Liefern von Anregungen liegen, mit deren Unterstützung sie den Fachbereich aus seiner heutzutage zumeist defensiven Rolle herausführen könnten, die sich aus dem politischen Zwang zu immer radikaleren Umwandlungen vor dem Hintergrund ständig steigender Anforderungen der Ökonomie an das Bildungssystem ergibt. Im Optimalfall würde ihnen das vorliegende Werk dazu verhelfen, ausgehend von u.a. darauf aufbauenden vertiefenden Untersuchungen Wege zu einer Reform dieses Sektors aufzuzeigen, die einen solchen Namen tatsächlich verdient und damit die Pädagogik (wieder) als eine bedeutende gestaltende Kraft innerhalb der Gesellschaft zu positionieren.

Die letztgenannte Aufgabe kann selbstverständlich weder im Zuge der Verfassung einer einzigen Publikation bewältigt werden, noch ist sie von Wissenschaftler/innen ohne engste Kooperation mit jenen Menschen zu bewerkstelligen, welche täglich „an der Front“ stehen und folglich dafür gewonnen werden müssen, sich an der Erarbeitung entsprechender Konzepte zu beteiligen und sie umzusetzen. Das bildet den wichtigsten Grund dafür, warum hier gerade dieser Personenkreis so intensiv angesprochen wird.

1.4 Disziplinäre Zuordnung und Forschungsmethoden

Das Buch ist am ehesten jenem Sektor der Erziehungswissenschaft zuzurechnen, welcher die Bezeichnung „Allgemeine Pädagogik“ trägt. Dabei wird eine solche Strömung hier weder als ein Leit- noch eines Subbereich des akademischen Bildungsdiskurses definiert, sondern als eine „Querdisziplin“ betrachtet, deren Hauptaufgabe darin besteht, den inzwischen unzähligen auf feinst ausdifferenzierte Themenstellungen und Handlungsfelder fokussierten pädagogischen Fachgebieten Orientierungshilfen in Bezug auf prinzipielle Fragen im Kontext des Lehrens und Lernens zu bieten (vgl. sinngemäß Bernhard 2011, S. 13). So eine Ausrichtung „kümmert sich um die Konstitutionsprobleme der Pädagogik selbst, um ihre Grundlegungsfragen (Breinbauer 1996, S. 24– Hervorhebung im Original). Im Zuge dessen fungiert sie „aufklärend, erhellend, enttäuschend. Sie macht den Blick frei für jene Voraussetzungen, unter denen pädagogische Rede Anspruch auf Geltung erhebt, die aber in der Regel nicht zugleich mitbedacht und mitartikuliert werden“ (ebd.). Anders ausgedrückt geht es ihr um die „Aufdeckung pädagogischer Grundsachverhalte auf der Basis der Reflexion der Grundstrukturen der Gesellschaft (…)“ (Bernhard 2011, S. 16).

Diese Selbstzuordnung erfolgt durchaus im Bewusstsein dessen, dass die Allgemeine Pädagogik in den letzten Jahrzehnten innerhalb der Erziehungswissenschaft – gelinde gesagt – stark an Boden verloren hat (ausführlich siehe Kauder 2010). Ihr Bild ist größtenteils von der Vorstellung einer „systematisch und methodisch gescheiterten, wissenschaftspolitisch weitgehend abgeschriebenen und sich von der Erziehungswissenschaft isolierenden Teildisziplin“ geprägt (ebd., S. 10, vgl. Bernhard 2011, S. 11 ff). Eine derartige Entwicklung wird jedoch durchaus als eines der Resultate hier behandelter und angeprangerter Zu- bzw. Missstände gesehen, weil – wie es der Verfasser des aktuellsten, um die „Rekonsolidierung" der Allgemeinen Pädagogik bemühten Werkes, Armin Bernhard (2011, S. 12), formuliert – „der Spezialisierungsdruck die Erziehungswissenschaft in steigendem Maße zu einer Vollzugswissenschaft wirtschaftlich-politischer Interessen herabwürdigt.“ Der Zusammenhang zum in Folge untersuchten, als „Informationalismus“ benannten Gesellschaftssystem ist auch schon daran erkennbar, dass die „Dauerkrise“ der Allgemeinen Pädagogik gemeinsam mit seinem Aufstieg begann – Mitte der 1970er Jahre (vgl. Kauder 2010, S. 26) – und sich in seiner Hochphase – d. h. ab dem ersten Drittel der 1990er Jahre – zu einem vermeintlich endgültigen Niedergang auswuchs (ebd., S. 9).

Von dieser Allokation ausgehend und in Kombination mit der Intention, komplexe Zusammenhänge sowie Interdependenzen begreiflich zu machen, ist es naheliegend, auf Verfahren der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik zurückzugreifen, die als „Verstehen als Methode“ bzw. als „Kunstlehre des Verstehens“ (Gudjons 2003, S. 56) bezeichnet wird. Dabei ist es jedoch nicht zielführend, einzelne hermeneutische Modelle – wie z. B. jenes der „Objektiven Hermeneutik“ nach Ulrich Oevermann (siehe u.a. 1993) – zur Gänze zu übernehmen. Denn im Kern sind sie alle darauf ausgerichtet, Verfasser/innen akademischer Abhandlungen dabei zu unterstützen, sich von ihrem jeweiligen, auf eigenen Erfahrungen und Gesinnungen basierenden Vorverständnis zu befreien, um zu einer von der Materie distanzierten sowie persönliche Meinungen hintanstellenden Sichtweise zu gelangen. Das Verfolgen eines solchen Planes hatte und hat noch immer in zahlreichen Situationen unbestreitbar seine Berechtigung. Im vorliegenden Kontext ist es jedoch insofern kontraproduktiv, als eines der zentralen Kennzeichen der hier analysierten und kritisierten sozialen Organisationsform gerade im Fehlen eindeutiger Positionierungen ihrer Hauptakteur/innen besteht – v. a. in Bezug auf Themen von „allgemeiner“ Relevanz, was auch einen Teil der Erklärung für den schlechten Stand der Allgemeinen Pädagogik heutzutage bildet. Footnote 3

In einem unter das Motto des Endes der Ideologien sowie „Metaerzählungen“ gestellten Zeitalter erweist sich die von subjektiven Auffassungen entledigte Betrachtung von Fakten – welche bekanntlich in letzter Konsequenz in keinem Prozess und schon gar nicht in einem wissenschaftlichen Projekt jemals endgültig erreichbar ist Footnote 4 – nicht mehr als das erstrebenswerte (Fern-) Ziel, als welches es von den Begründer/innen der Wissenschaftstheorie gedacht war. Die Fähigkeit so zu tun, als wäre man dazu fähig, einen objektiven Blickwinkel einzunehmen, avanciert vielmehr zur Grundbedingung für die Karriere in fast allen verantwortungsvolleren Positionen. Das gilt für Angehörige sämtlicher Berufsgruppen, deren Ansichten für die folgenden Argumentationen von herausragender Bedeutung sind – also für Politiker/innen, Wirtschaftstreibende und Pädagog/innen. So unterschiedlich ihre Professionen auch sein mögen, gemeinsam haben sie, dass individuelle, „parteiische“ Haltungen, für die man einzustehen bereit ist, und erst recht Emotionen keinen Platz haben. Umso mehr trifft das auf Forscher/innen zu.

In einer derartigen Lage sind wissenschaftliches Arbeiten im Allgemeinen und die Anwendung hermeneutischer Verfahren im Besonderen in ihren strengen Ausprägungen und Auslegungen in Hinblick auf Inhalte, deren Relevanz die engen Grenzen einer spezialisierten Unterdisziplin überschreitet, kaum möglich. Denn wie soll man das eigene Vorverständnis zu übergeordneten Themen hinterfragen, wenn man gar keines vorzuweisen hat? Auf die hier behandelte Materie bezogen heißt es, dass erst die Formulierung eines eindeutigen persönlichen (und damit subjektiven) Standpunktes dazu, welche Entwicklungen im Bildungsbereich grundsätzlich (und nicht nur hinsichtlich einzelner spezifischer fachdidaktischer Vorgänge) als An- sowie Erstrebenswert zu betrachten sind, es uns sowohl als Praktiker/innen als auch als Theoretiker/innen ermöglicht, weitere konkrete Schritte zu unternehmen, um das gesamte System, in dem wir tätig sind, ein Stück weit zu verbessern.

Genau zu einer solchen individuellen Meinungsbildung und/oder -präzisierung soll das vorliegende Buch bei seinen Leser/innen beitragen. Um das zu erreichen, macht es durchaus Sinn, auf manche Methoden des hermeneutischen Verfahrens zurückzugreifen. So ist bei der Analyse wichtiger dargestellter Aussagen nach den (weltanschaulichen) Hintergründen ihrer Autor/innen, ihrer Entstehungssituation, ihren gesellschaftlichen und geschichtlichen Kontexten sowie danach zu fragen, was mit den eingesetzten Hauptbegriffen tatsächlich impliziert ist (vgl. Krüger 2009, S. 188f; Rittelmeyer; Parmentier 2001, S. 1). Dabei ist die hermeneutische Hoffnung, dass Forscher/innen aus der Perspektive des historischen Abstandes Äußerungen besser verstehen könnten, als jene, die sie selbst getätigt haben (vgl. Krüger 2009, S. 184), vielleicht zu hoch gesteckt. Durchaus möglich erscheint es jedoch, mit Unterstützung entsprechender Herangehensweisen das zu begreifen, was die Urheber/innen lediglich „zwischen den Zeilen“ durchklingen lassen wollten, oder auch gänzlich zu verschweigen bedacht waren. Bezüglich Letzterem ist es v. a. in Hinblick auf politische Statements sehr hilfreich, das Angekündigte mit dem faktisch Durchgeführten zu vergleichen, um auf das Beabsichtigte dahinterzukommen.

Der „hermeneutischen Zirkel“ kommt in einer abgewandelten Form und auch das lediglich am Beginn der Arbeit zum Einsatz: In den Kapiteln zwei und drei erfolgt die kaum kommentierte Vorstellung von Postulaten prominenter Theoretiker/innen zum Thema Gesellschaft, Ökonomie und Bildung, deren (zum Teil heftigste) Kritik anderer Analytiker/innen am Anfang des Kapitels vier präsentiert wird, jedoch nur, um gleich daraufhin eine Gegenkritik und damit eine Art „Apologie“ nachzureichen. Daraus resultiert jedoch keinesfalls ein Kreis, der zum Schluss an seinem Ursprung anlangt, sondern eine „hermeneutische Spirale“ (siehe dazu z. B. Bolten 1985), die uns auf eine nächste Ebene des Forschungsprozesses bringt. Denn erst davon ausgehend wird deutlich, dass die von praktischen Kontexten entkoppelte Bewertung sozialer Expertisen wenig Erkenntnisgewinn verspricht. Deswegen findet daraufhin eine Fokussierung auf Entwicklungen statt, die direkter mit unserer Alltags- und Lebenswelt in Verbindung stehen: auf die Politik im hier behandelten Zeitraum und auf ihre konkreten Auswirkungen auf den Bildungssektor. Die Kritik an den in einem solchen Rahmen gewonnenen Erkenntnissen überlässt der Autor jedoch genauso größtenteils Anderen, wie er auf eine entsprechende Selbstverteidigung weitgehend verzichtet. Denn auch sein ganz persönliches Ziel dieser Arbeit besteht darin, zu einer klareren Positionierung zu hier behandelten Fragestellungen zu gelangen – durchaus um den Preis, dass seiner Arbeit der Vorwurf einer mangelnden Objektivität gemacht werden kann.

1.5 Quellenauswahl

Bei jeder auf Literaturrecherchen basierenden wissenschaftlichen Abhandlung ist man mit der Schwierigkeit konfrontiert, zu entscheiden, welche Texte zur Analyse herangezogen werden sollen. Die generelle Problematik, dass das Zitieren von Tatsachenbeschreibungen immer die Meinungen der jeweiligen Verfasser/innen mittransportiert und folglich unausweichlich die Fakten verzerrt, wird im Falle der hier bearbeiteten Thematik insofern verstärkt, als es in Hinblick auf den – gleich zu behandelnden – „Informationalismus“ um den Untergang eines vorhin sämtliche Gesellschaftsbereiche dominierenden Systems geht. Unter solchen Umständen fallen seine Grundideen sowie damit zusammenhängende Zugangsweisen automatisch in „Ungnade“, weswegen es schnell zu einer allgemeinen Gepflogenheit avanciert, heftigste Kritik an ihnen zu üben. Dabei sind die persönlichen Intentionen der Tadelnden nicht immer offen gelegt und ebenso manchmal eine wenig fundierte Beschäftigung mit der Materie zu verzeichnen.

Gerade eine derartige Hürde erleichtert aber das Treffen eines für das vorliegende Buch zentralen methodischen Entschlusses: Aussagen an denen eine eindeutige (Vor-) Verurteilung der besprochenen sozialen Organisationsform festzustellen ist, werden mit größter Vorsicht behandelt – und auch das erst zunehmend zum Schluss der Arbeit hin. Stattdessen erfolgt eine Schwerpunktsetzung auf die Zusammenfassung von Originaläußerungen der wichtigsten Proponent/innen des hier untersuchten Gesellschaftskonzeptes sowie auf die Betrachtung von ihm wenigstens teilweise Wohlwollen entgegenbringenden Expertisen, wobei Großteils eine selbstständige (jedoch mit anderen Quellen abgeglichene) Analyse entsprechender Darlegungen stattfindet.

Wie an der Letzteren unmissverständlich zu erkennen sein wird, besteht der Grund dafür keinesfalls in einer unkritischen Haltung des Autors den beschriebenen Prozessen gegenüber. Vielmehr fußt diese Vorgangsweise auf der Überzeugung, dass eine vorschnelle Brandmarkung des Ansatzes die Sicht auf seine Hintergründe verstellen und damit ebenso den Blick auf die Motive sie befördernder Hauptpersonen verschleiern könnte. Ein intensives Berufen auf von Kolleg/innen Beanstandetes wäre demnach einerseits mit der Gefahr verbunden, besonders spannende, bisher wenig berücksichtigte und vielleicht sogar in ihrer Tragik bislang unterschätzte Aspekte unbeachtet zu lassen. Zugleich würde drohen, dabei „das Kind mit dem Bade auszuschütten“ – d. h. berechtigte Anliegen zu übersehen und davon ausgehend in dem Rahmen entfaltete Ideen zu ignorieren, die nicht nur für das erforschte Zeitalter, sondern ebenso für unsere Gegenwart und folglich auch Zukunft von Relevanz zu sein vermögen.

Die Auswahl der zu durchleuchtenden pädagogischen Zugänge ist hingegen einfacher zu bewerkstelligen: Gemäß dem Thema „Bildung in politökonomischen Kontexten“ sowie der Tatsache, dass bildungspolitische Initiativen in der Ära und v. a. auf dem Höhepunkt des hier analysierten Systems fast ausschließlich auf den Ausbau im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien ausgerichtet waren, werden nur jene pädagogischen Strömungen behandelt, deren Vertreter/innen die Bedeutung ihrer Ansätze zumindest bis zu einem gewissen (zumeist jedoch zu einem sehr hohen) Grad mit jeweils zeitgenössischen wirtschaftlichen Prozessen und/oder mit dem technologischen Fortschritt argumentierten. Schließlich sind an ihnen die Interdependenzen zwischen der Ökonomie und der Bildung am besten zu erkennen. Alle anderen pädagogischen Konzeptionen, welche es in der Epoche gab, finden bewusst keine Erwähnung, woraus weder ihre Geringschätzung noch ihre vollständige Affirmation von Seiten des Autors abzuleiten sind.

Eine weitere Eingrenzung des Forschungsfeldes ergibt sich aus der Kombination der Fokussierung auf die (in der jüngeren Geschichte verwurzelten) Ursachen des gegenwärtigen Zustandes des Bildungssektors damit, dass die Arbeit an Leser/innen adressiert ist, die selbst in pädagogischen Bereichen praktisch und/oder theoretisch tätig sind: Am Beginn der 2010er Jahre (tages-) aktuelle Vorgänge, wie die PISA-Tests, der Bologna-Prozess und auch Lehr-/Lernkonzepte, welche auf Ausfaltungen des „Mitmachnetzes“ bzw. des Web 2.0 basieren, werden hier nicht berücksichtigt. Denn einerseits sind ihre Grundideen sowie Auswirkungen der Zielgruppe größtenteils bekannt und andererseits werden sie vom Autor in Hinblick auf zahlreiche Parameter als Fortsetzung im vorliegenden Buch beschriebener Entwicklungen betrachtet, weswegen ihre Darlegung zahlreiche Redundanzen mit sich bringen würde. Footnote 5

1.6 Grundhypothese – Informationalismus

Der letzte, zentrale methodische Ansatz betrifft die Frage, wie die Untersuchung aller besprochenen Prozesse strukturiert werden kann und welche Möglichkeiten es gibt, eine Vergleichbarkeit der Ausprägungen hier behandelter oft weit voneinander entfernter Gesellschaftsgebiete sowie Wissenschaftsdisziplinen zu erzielen. Als Antwort darauf wurde die begriffliche und zeitliche Bestimmung dessen entwickelt, was im vorliegenden Buch als „Informationalismus“ bezeichnet wird, wobei seine drei Einzelparameter als Blickwinkel dienen, aus denen die meisten Betrachtungen erfolgen.

Der Terminus wird jedoch nicht lediglich zur Unterstützung der formalen Gliederung eingesetzt, sondern bildet in Gestalt der gleich zu präsentierenden Definition eine der wichtigsten forschungsleitenden Annahmen des gesamten Werkes. Zu ihr gehört untrennbar das Postulat, dass die unter diesem Motto einzuordnende Ära mit Beginn der aktuellen Weltwirtschaftskrise zu Ende gegangen sei. Für die Hauptperspektive der Arbeit ist eine solche These insofern von essentieller Bedeutung, als die Idee der hier im Mittelpunkt stehenden Bildungsgesellschaft niemals als ein eigenständiges, detailliert ausformuliertes Konzept existierte. Footnote 6 Wie im dritten Kapitel deutlich wird, entfaltete sich die Auffassung, dass wir in einer Welt leben, in der das durch Lernen akkumulierte Wissen die zentrale wirtschaftliche Ressource darstellt, viel mehr im „Windschatten“ der Visionen einer von neuen Technologien beflügelten Informationsgesellschaft. Insofern ermöglicht erst die ausführliche Analyse der Letzteren valide Aussagen bezüglich der Ersteren. Anders ausgedrückt: Wenn man wissen will, wie es um die Bildungsgesellschaft steht, muss man verstehen, in welcher Lage sich die Informationsgesellschaft befindet.

Die aktuelleren akademischen Diskussionen darüber können am besten unter dem Begriff „Informationalismus“ subsumiert werden. Ihn führte der als bedeutendster zeitgenössischer Mediensoziologe geltende Manuel Castells in den wissenschaftlichen Diskurs ein und behandelte ihn v. a. im ersten Teil seiner Ende der 1990er Jahre erschienenen Trilogie Das Informationszeitalter. Was Castells konkret mit dem Terminus impliziert, wird in Abschnitt 2.4.1. ausführlich besprochen. An dieser Stelle ist vorauszuholen, dass er den Informationalismus größtenteils auf seine Dimension als Wirtschaftsform reduziert, was nach Meinung des Autors eine erhebliche Einengung der Perspektive bildet. Denn Castells verwendet den Begriff zwar mehr oder weniger synonym mit jenem des „informationellen Kapitalismus“, vernachlässigt dabei aber zumeist die Tatsache, dass ein System, wie der Kapitalismus, viel mehr beinhaltet, als nur eine bestimmte Art der Organisation wirtschaftlicher Prozesse. Um solchen über das rein Ökonomische hinausgehenden Aspekten Rechnung zu tragen, wird im vorliegenden Buch von folgender Definition ausgegangen:

Informationalismus = technikdeterministische, neoliberale Metaideologie

Zwecks der Erleichterung des Verständnisses, erfolgt gleich eine komprimierte Eingrenzung hier eingesetzter Unterbegriffe (ausführlichere Definitionen siehe Unterkapitel 2.5.):

  • Technikdeterminismus = Primat des technologischen Fortschritts vor allen anderen sozialen Prozessen.

  • Neoliberalismus = Ideal einer absolut „freien“, von allen staatlichen Regulationen „entfesselten“ Marktwirtschaft. Footnote 7

  • Metaideologie = Auflösung sämtlicher bisheriger Weltanschauungen in einer diffusen Gesinnung der (angeblichen) Gesinnungslosigkeit.

Auch der zeitliche Verlauf der Entfaltung des Informationalismus soll gleich zu Beginn zur Vereinfachung der historischen Einordnung der weiteren Ausführungen schematisch dargestellt werden. Dabei ist zu betonen, dass es sich bei der Skizze naturgemäß um eine die Fakten stark simplifizierende Präsentation handelt. So gilt bereits hinsichtlich des angegebenen Anfangs- und Endpunktes, dass gesellschaftliche Organisationsformen sich niemals nahtlos gegenseitig ablösen, sondern lange in der jeweils vorangehenden „keimen“ und auch innerhalb der an sie anschließenden „nachwirken“. Dieser Sachverhalt wird in der unten angeführten Grafik durch strichlierte Linien vor der gewöhnlichen veranschaulicht, wobei Letztere den ungefähren Verlauf der Konjunktur des Informationalismus im besprochenen Zeitraum symbolisiert. Zusätzlich erfolgt die Angabe politischer und ökonomischer Ereignisse, welche für die Entwicklung des informationellen Kapitalismus von zentraler Bedeutung waren, wobei selbstverständlich kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben wird.

figure 01

1.7 Aufbau der Arbeit

Alles bisher Angesprochene bildet das Vorverständnis des Autors ab, mit welchem er an den gesamten Schreibprozess heranging. Sämtliche weiteren Ausführungen sind unter anderem als Präzisierung, Überprüfung und (bei Bedarf) Anpassung dieser Arbeitshypothesen zu sehen sowie als eine aus dem Verfahren resultierende Ausformulierung möglicher Konsequenzen für das pädagogische Denken und Handeln.

So wird im zweiten – an die Einleitung anschließenden – Kapitel gleich die erste forschungsleitende Annahme unter die Lupe genommen, welche besagt, dass hier untersuchte Gebiete keine fixen Größen, sondern vielmehr fluktuierende Zustände bilden, die auf sozialen Abmachungen basieren, wobei es an dieser Stelle zunächst v. a. um die Wirtschaft geht. Zu einem solchen Zweck erfolgt eine Darstellung der zentralen, in erster Linie politökonomisch inspirierten Theorien der Informationsgesellschaft mit einer Schwerpunktsetzung auf jene des Namensgebers des in der vorliegenden Arbeit analysierten Konzeptes – auf die von Manuel Castells. Das dazu gehörende Zwischenfazit eröffnet die Möglichkeit, die als Grundhypothese formulierte Informationalismus-Definition im Rahmen der Zusammenfassung der präsentierten Gedankenkonstrukte auf ihre Gültigkeit hin zu durchleuchten.

Das dritte Kapitel widmet sich den bildungsrelevanten Zugängen aller besprochenen Konzeptionen, deren Behandlung zuvor bewusst ausgespart wurde, um sie hier in konzentrierter Form vorzunehmen. Dabei wird zu Beginn der (für den Bildungsdiskurs essentielle) Entwurf der Wissensgesellschaft dargelegt und analysiert. Diese Auseinandersetzung schließt mit dem Vergleich entsprechender Postulate innerhalb der Theorien ab, von deren im Zuge dessen deutlich zu Tage tretenden Analogien wesentliche Forderungen der (Wirtschafts- und Medien-) Soziologie an eine – aus ihrer Perspektive – zeitgemäße Pädagogik ableitbar sind.

Das vierte, auf die Zusammenfassung der Kritik sämtlicher vorgestellter theoretischer Herangehensweisen ausgerichtete Kapitel, untermauert nicht zuletzt die Behauptung der – wörtlich gemeinten – „Unberechenbarkeit“ wirtschaftlicher Entwicklungen. Denn dabei wird deutlich, auf welch wackligem argumentatorischen und statistischen Fundament diesbezügliche Ausführungen stehen. Andererseits ist dieser Abriss deswegen kurz gehalten, weil eine solche Kritik vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sie niemals von den persönlichen Intentionen der sie Vorbringenden frei sein kann, keinen großen Erkenntnisgewinn verspricht. Spätestens angesichts der Frage nach den von den Gegner/innen vorhin explizierter Gedankenkonstrukte angebotenen Interpretations- und v. a. Handlungsalternativen ist – im Rahmen einer Art „Apologie“ – einiges des Beanstandeten wieder zu relativieren.

Dagegen erweist sich die im fünften Kapitel vorgenommene Auseinandersetzung mit der Praxis des Informationalismus in Form seines Einflusses auf das politische Denken und auf das darauf aufbauende Agieren der Regierenden in seiner Hochphase als bedeutend zielführender. Anhand dessen kann zwar keineswegs eine „Verwirklichung“ der sich aus den Konzeptionen der Informations- und Wissensgesellschaft ergebenden Ansprüche konstatiert werden. Sehr wohl aber ist davon ausgehend die Aufdeckung dessen möglich, wie techikdeterministische, neoliberale und v. a. metaideologische Ansätze von Mächtigen ge- und missbraucht wurden, um ihre mit oben behandelten Theorien zumeist nur lose bzw. überhaupt nicht zusammenhängenden Ansinnen durchzusetzen, woraus – als schwerwiegendste Konsequenz – nicht zuletzt eine enorme Aushöhlung der Demokratie resultierte.

Eine solche Dar- und Bloßstellung kann im Rahmen der im sechsten Kapitel vorgenommenen detaillierten Aufarbeitung mit Bildung zusammenhängender informationalistischer Entwicklungen insofern zugespitzt werden, als der pädagogische Sektor als „Sturmzentrum“ politökonomischer Prozesse zu betrachten ist und deshalb auch seine besonders intensive Nutzung als Arena für irreführende Kunstgriffe aller Art erfolgte. Ihre Entlarvung im Sinne des Aufzeigens der implizierten Motive hinter den explizierten Zielvorgaben und den tatsächlichen Handlungen sowie die Enthüllung der konkreten Auswirkungen der wirtschafts-, sozial- und bildungspolitischen sowie der damit unmittelbar zusammenhängenden pädagogischen Initiativen im Zeitalter des Informationalismus, bildet eines der wichtigsten Forschungsergebnisse der vorliegenden Arbeit.

Im siebten Kapitel wird eine der Grundthesen des gesamten Buches in Zweifel gezogen – jene, dass der Informationalismus zu Ende sei – und die Frage erhoben, ob wir vielleicht keinesfalls seinen Zusammen- sondern nur lediglich seinen Umbruch erleben, aus dem er im Endeffekt gestärkt hervorzugehen vermag. Aus der als Analysemethode eingesetzten Gegenüberstellung der Verheißungen des informationellen Kapitalismus mit seinen Konsequenzen in der heutigen Wirklichkeit kann v. a. eines abgeleitet werden: Als Gesellschaftskonzept, welches nicht lediglich einzelnen Individuen, sondern der gesamten Gemeinschaft zugutekommen soll, hat er eindeutig versagt. Nicht zuletzt wegen der engsten Verknüpfung dieses Ideenkonglomerats mit der Vision von einer auf Bildung basierenden sozialen Organisationsform kristallisiert sich im Zuge der abschließenden kritischen Durchleuchtung bei ihrer Proklamation lancierter Versprechen im Vergleich zu den aktuellen Realitäten der Bankrott der Bildungsgesellschaft unübersehbar heraus.

Auf dieser Erkenntnis baut das als achtes Kapitel geführte Gesamtfazit auf, in dem nach einer knappen Zusammenfassung sämtlicher in Bezug auf Pädagogik relevanter Aussagen des Buches die Präsentation der persönlichen Schlüsse erfolgt, die der Autor aus seinen Analysen zieht – seines „Resümees über Bildungsgesellschaft“. Bei aller vernichtenden Kritik am behandelten Zugang und seinen Implikationen in den jeweils bestehenden Formen ist das vorliegende Werk jedoch nicht alleine als eine „Abrechnung“ (miss-) zu verstehen. Denn gleich anschließend bietet der Verfasser mit einem „vorausblickenden Rückblick“ sowie mit der Formulierung dreier „postinformationalistischer Paradigmen“ einige Anregungen, welche der Erreichung der zweiten zentralen Zielsetzung der Arbeit dienen sollen: Jener der (Wieder-) Entdeckung von Ansätzen sowie der Formulierung von Vorschlägen, wie ein gesamtgesellschaftlich betrachtet sinnvoller Fortschritt im Bildungsbereich in Hinblick auf das Verhältnis zwischen Pädagogik und Ökonomie aussehen könnte.

1.8 Grundaxiome des informationalistischen Bildungsdiskurses

Vor dem Einstieg in die Detailarbeit ist es – um das gesamte Untersuchungsfeld aus einer Art „Vogelperspektive“ abzustecken – von Vorteil, eine grobe Zusammenfassung der Hauptargumentationslinien des Informationalismus vorzunehmen, mit einer Schwerpunktsetzung auf jene, die hinsichtlich des Themas Bildungsgesellschaft von besonderer Relevanz sind. Das erfolgt hier zwar anhand eines Dokumentes, das verfasst wurde, als (laut der oben dargestellten historischen Einordnung) dieses Gesellschaftssystem bereits den Höhepunkt seiner Ausfaltung überschritten hatte. Jedoch ist es nicht zuletzt genau deswegen von Interesse – quasi als ein riesengroß angelegter Versuch seiner Revitalisierung und damit Rettung. Footnote 8

Gerade die Überdimensionierung des hinter dem Papier stehenden Projektes bildet den zentralen Grund dafür, warum es an dieser Stelle exemplarisch für unzählige andere Publikationen mit ähnlicher Stoßrichtung Footnote 9 besprochen wird. Denn es handelt sich dabei nicht um eines, das die Ansichten einzelner Autor/innen, der Führungen von Staaten oder von Staatenbünden abbildet, sondern das vorgibt, die Meinung des ganzen Planeten zu repräsentieren. Schließlich basiert es auf dem „Weltgipfel zur Informationsgesellschaft“ (World Summit on the Information Society), zu dem sich vom 16. bis 18. November 2005 unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen in Tunis 50 Staats- und Regierungschef/innen, 197 Minister/innen bzw. Staatssekretär/innen sowie zahlreiche einflussreiche Repräsentant/innen internationaler Organisationen, der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft trafen (insgesamt 19.000 Teilnehmer/innen aus 174 Ländern). Dieser Versammlung ging auf dem ganzen Erdball ein sechsjähriger (d. h. auf dem Höhepunkt des Informationalismus begonnener) intensiver Meinungsbildungsprozess voran, mit dem Ziel Wege zu erschließen, wie die Menschheit den Herausforderungen der digitalen Revolution begegnen könnte. Zu verschiedensten Unterthemen erarbeiteten eingeladene Expert/innen Positionspapiere und Strategiepläne, die bei zahlreichen nationalen und internationalen Konferenzen beraten wurden, um die Ergebnisse in den globalen Meinungsaustausch beim „Weltgipfel“ einfließen zu lassen. Parallel dazu wurde von der UNESCO eine mit über 20 hochkarätigen Wissenschaftler/innen besetzte Forschungsgruppe damit beauftragt, den hier behandelten „Weltbericht“ zu den Auswirkungen neuester technologischer Umwälzungen auf Wissenschaft, Kultur und Bildung zu verfassen. (vgl. WSIS o. J.; UNESCO 2005, S. 20f)

Ein weiteres Argument dafür, diesem Dokument besondere Beachtung zu schenken, besteht in der – für staatliche Positionspapiere höchst ungewöhnlichen – Fundierung darin getätigter Aussagen mit zahlreichen Literaturquellen, von denen mehrere im folgenden Kapitel detailliert aufgearbeitet werden. Dadurch veranschaulicht es sehr deutlich die Analogien zwischen dem sozialwissenschaftlichen und dem politischen Diskurs – wenigstens in Hinblick auf explizierte Zielsetzungen, was selbstverständlich noch nichts über die implizierten Motive hinter den konkreten Realisierungsansätzen sowie erst recht nichts über ihre praktischen Effekte aussagt.

1.8.1 Sozioökonomische Auswirkungen der IKT-Entwicklung

Bereits im Ankündigungstext des „Weltgipfels“ wird als sein Hauptziel angegeben, Antworten auf die von der digitalen Revolution aufgeworfen brennenden gesellschaftlichen Fragen zu finden, da diese Umwälzung von den Motoren der Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) angetrieben alle unsere Lebensbereiche grundlegend umgestaltet haben soll (vgl. WSIS o.J). Einer ähnlichen Rhetorik bedienen sich auch die Autor/innen des „Weltberichtes“, wenn sie postulieren, dass wir heute Zeugen einer neuen, ihrer Zählung nach dritten industriellen Revolution sind – des Aufkommens einer globalen Informationsgesellschaft, in der die Technologie die Menge der verfügbaren Informationen und die Geschwindigkeit ihrer Übertragung über alle Erwartungen hinaus gesteigert (UNESCO 2005, S. 45, S. 18f) und damit die Erzeugung des Wissens erheblich beeinflusst hat (ebd., S. 47).

Jedoch distanzieren sich die Verfasser/innen gleich zu Beginn vom Begriff der „Informationsgesellschaft“, welcher der gesamten Veranstaltung vorangestellt war. Nicht zuletzt, weil ihrer Meinung nach Informationen an sich zumeist noch keinen Sinn ergeben, sondern lediglich eine ungeordnete Masse von Daten darstellen. Erst im Zuge ihrer kritischen Auswahl, Bewertung und (Neu-) Zusammensetzung avancieren sie zum Wissen und erlangen damit einen tatsächlich Wert (vgl. ebd.; vgl. S. 38). Laut der Forschergruppe hat eine auf Informationen bzw. auf den mit ihnen zusammenhängenden Technologien aufbauende Gesellschaftskonzeption folglich lediglich dann eine Existenzberechtigung, wenn sie zu einem viel höheren und erstrebenswerteren Ziel führt: zur Entfaltung einer globalen „Wissensgesellschaft“ (S. 27), weswegen sie auch ihren Bericht mit Towards Knowledge Societies betiteln.

Der enorme Stellenwert des Wissens wird in diesem Report in erster Linie mit seiner außerordentlichen wirtschaftlichen Bedeutung begründet – mit der Umwandlung unserer gesamten Ökonomie in eine, die auf Wissen basiert. Den entsprechenden Terminus der „wissensbasierten Ökonomie“ definieren die Expert/innen der UNESCO als einen spezifischen Entwicklungsschub des Kapitalismus, welcher von neuartigen Formen der Erzeugung, des Erwerbs und der Verbreitung des Wissens ausgelöst wurde (vgl. S. 46, S. 14). Dabei beschränken sich diesbezügliche Prozesse ihrer Ansicht nach keinesfalls auf den Hochtechnologiesektor, sondern betreffen fast alle Wirtschaftsbereiche (S. 46). Das veranschaulichen sie u.a. damit, dass der Wert von Unternehmen heute vielfach nicht ausgehend von ihren tatsächlichen Profiten, sondern von den darin (potenziell) generierten Ideen und Innovationen bemessen wird, wobei sie beide letztgenannten Termini mit jenem des Wissens gleichsetzen (vgl. S. 49f). Davon ausgehend prophezeien sie eine zunehmende Ausrichtung von immer mehr beruflichen Tätigkeiten auf die Produktion, den Austausch und die Transformation von Information bzw. Wissen, bis hin zu einem Zustand, in dem die gesamte Gesellschaft zur Gänze mit der Verarbeitung eines kontinuierlichen Stromes neuer Erkenntnisse beschäftigt sein wird (vgl. S. 59).

Die – vieler Orts beschworene – Gefahr eines aus der technologischen Entwicklung resultierenden Verdrängens der Menschen aus Arbeitsprozessen streiten die Autor/innen des Dokuments alleine schon deswegen vehement ab, weil ihnen zufolge gerade die Reflexionsfähigkeit der Individuen unerlässlich ist, um Informationen in Wissen zu verwandeln. Dagegen postulieren sie, dass uns der IKT-Fortschritt im Gegenteil zahlreiche Möglichkeiten gewährt, unsere Vorstellungskraft und Kreativität verstärkt zu entfalten. Erstens, weil neue Medien es ermöglichen, immaterielle „interne“ humane Prozesse (Träume, Gedanken, Konzepte etc.) zu materialisieren sowie zu „externalisieren“ (S. 51). Zweitens eröffnet der die Aktivität befördernde interaktive Charakter digitaler Netzwerke ihren Nutzer/innen bis dahin unerreichbare Gestaltungsspielräume (S. 50f). Zwar wollen die Expert/innen nicht so weit gehen, zu behaupten, in der Wissensgesellschaft würde jeder Mensch zur/m Wissenschaftler/in oder Künstler/in avancieren. Jedoch lassen ihrer Meinung nach die aktuellen – und hier v. a. internetbasierten – Technologien die Trennlinie zwischen Erzeuger/innen sowie Konsument/innen entsprechender Produkte zunehmend erodieren. Wir alle steigen so zu Repräsentant/innen der neuen Kultur des Informationszeitalters auf (S. 53, vgl. S. 47).

Letztgenannte Prozesse sind keineswegs lediglich in Hinblick auf die geistigen Bedürfnisse der Menschen von Relevanz, sondern weisen nach Ansicht der Verfasser/innen durchaus „handfeste“ materielle Hintergründe und v. a. Auswirkungen auf. Denn einerseits werden immer mehr Konsumgüter mit sich in einem fortwährenden Erneuerungsprozess befindenden ästhetischen Elementen angereichert, weswegen Innovation und Kreativität zu einem zentralen Eckpfeiler der modernen Ökonomie aufrückt (vgl. S. 60). Damit hängt andererseits die Tatsache unmittelbar zusammen, dass die Kompetenz zum innovativen und kreativen Denken sowie Handeln mit steigender Intensität eine Grundvoraussetzung für die Erfüllung der meisten beruflichen Aufgaben bildet – alleine schon deswegen, weil derartige Fähigkeiten es uns ermöglichen, festgefahrene Abläufe zu hinterfragen und Muster zu durchbrechen, um besser auf unerwartete Herausforderungen reagieren zu können (vgl. S. 19).

1.8.2 Learning Society/Bildungsgesellschaft

Die Zunahme der Bedeutung von Kreativität und Innovation in der gesamten Wirtschaft und damit ebenfalls hinsichtlich der „Beschäftigungsfähigkeit“ von Individuen wird von den mit der Verfassung des Reports beauftragten Wissenschaftler/innen auch als Hauptargument dafür angeführt, warum dem Lernen heute ein herausragender Stellenwert zukommt bzw. unbedingt eingeräumt werden müsste (vgl. S. 57). Lernen bezeichnen sie als den Schlüsselwert (key value) der Wissensgesellschaft (S. 60) und gehen sogar so weit zu behaupten, dass eine solche auf die aktuellen – aus dem Aufkommen neuer Technologien resultierenden – Veränderungen adäquat zu reagieren fähige soziale Organisationsform sich nur in dem Fall wirklich zu entfalten vermag, wenn sich das Weltkollektiv zu einer lernenden Gemeinschaft entwickelt (S. 54f, Hervorhebung des Begriffs „learning“ im Original, vgl. S. 59). Das bereits seit 1948 international verankerte Menschenrecht auf Bildung für alle Erdbewohner/innen bezeichnen sie (ausgehend von einer entsprechende Aussage des damaligen Generaldirektors der UNESCO Koïchiro Matsuura) als eines, das erst die Grundlage sämtlicher weiterer darstellt (S. 70, vgl. S. 28).

In Anlehnung an die Ausführungen der Autor/innen des Weltberichts könnte man die derzeitige Epoche prinzipiell mit dem Begriff der Bildung apostrophieren. Denn ihnen zufolge entstand in den letzten Jahrzehnten vor dem Hintergrund des Aufschwungs der Wissensgesellschaft ein völlig neuartiger philosophischer, sozialer sowie politischer Zugang zur Bildung (S. 68). Parallel dazu breitete sich das „Lernmodell“ weit über die Grenzen von Bildungsinstitutionen aus (S. 57). Seit den 1970er Jahren erleben wir laut den Expert/innen den Übergang zu einer „learning society“, in der Bildung nicht länger ein Privileg der Eliten darstellt, sondern sich mit steigender Intensität auf die ganze Gesellschaft sowie auf die gesamte Lebensspanne der Individuen erstreckt (S. 20, S. 57).

Letzteres wird in erster Linie damit begründet, dass in einer – v. a. auf Basis technologischer Fortschritte – zunehmend komplexen (Berufs-) Welt Menschen gezwungen sind, im Verlauf ihrer Arbeitskarriere immer häufiger den Job zu wechseln. Insofern veraltern einmal erworbene Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten mit rasanter Geschwindigkeit (vgl. S. 57, S. 59, S. 61, S. 77) – im deutschsprachigen Raum spricht man in einem solchen Zusammenhang von der ständig sinkenden „Halbwertszeit“ des Wissens. Die Notwendigkeit der Bewältigung des raschen Wandels ökonomischer sowie gesellschaftlicher Verhältnisse führt dazu, dass Ausbildung heute keinesfalls auf das Erlernen einer einzelnen Spezialisierung reduziert werden darf (S. 77), da diese nach Abschluss der Schulungsmaßnahme in vielen Fällen bereits obsolet sein wird (vgl. S. 61). Gleichzeitig muss auch der Begriff der Grund- bzw. Allgemeinbildung vollkommen umdefiniert werden. Anstatt um die passive Erschließung eines genau vorbestimmten Wissenskanons sollte man sich intensiv um den aktiven Erwerb flexibler Lernkompetenzen bemühen (vgl. S. 61, S. 74). Dabei besteht das wichtigste Ziel darin, zu lernen, wie man lernt, um sich in jeder auch noch so unerwarteten beruflichen Situation die neuen dafür benötigten Kenntnisse sofort aneignen zu können (vgl. S. 57, 74).

Dass solche Prozesse die institutionelle Bildung nach Ansicht der Expert/innen vor enorme Herausforderungen stellen, liegt auf der Hand. Dabei ist sie nicht nur mit der Tatsache ihres sinkenden Bedeutungsverlustes angesichts des – mit dem lebenslangen Lernen unmittelbar einhergehenden – Aufschwungs des außerinstitutionellen (d. h. vor allem des beruflichen bzw. berufsbegleitenden) sowie des informellen (d. h. außerhalb sämtlicher Bildungsanstalten stattfindenden) Lernens konfrontiert (vgl. S. 57, S. 63, S. 69, S. 79), sondern muss auch ihre gesamten bisherigen Vermittlungsmethoden schnellstens einer vollständigen Revision unterziehen. U.a. ist den Autor/innen des Weltberichts zufolge die Schwerpunktlegung auf fächerübergreifendes und interdisziplinäres ganzheitliches Lernen – mit dem Ziel der Vermeidung eines zerstückelten Kenntniserwerbs – genauso unabdingbar, wie jene auf handlungsorientiertes „learning by doing“ und auf die Förderung von Kompetenzen zur selbstständigen aber auch kooperativen aktiven Wissenserschließung sowie -konstruktion (vgl. S. 57, S. 61, S. 74, S. 82.).

Um das umsetzen zu können, ist es laut den Verfasser/innen außerdem notwendig, bisherige Prüfungs- und Bewertungsmethoden vollkommen zu überdenken – z. B. positionieren sie sich deutlich gegen s.g. multiple choice-Tests und gegen die Beurteilung von Lernleistungen in Form von Noten (vgl. S. 60 ff). Daran ist ebenso ihr Plädoyer für eine radikale Änderung des Verhältnisses der Vermittler/innen von Schulungsmaßnahmen zu deren Empfänger/innen untrennbar geknüpft: Das bisherige Lehrer-zentrierte müsse demnach von einem neuen Lerner-zentrierten Paradigma abgelöst werden (S. 79). Gestalter/innen von Ausbildungsarrangements dürfen sich dabei keinesfalls (wie bisher) als unhinterfragbare Autoritäten begreifen, die ihre Schüler/innen sowie Studierenden auf die Auf- bzw. Übernahme eines minutiös ausformulierten Wissenskodexes drillen, sondern als Betreuer/innen und Begleiter/innen von zunehmend von ihren Adressat/innen selbst regulierter Lernprozesse (vgl. S. 82).

Bei der Erfüllung all der aufgezeigten unaufschiebbaren Aufgaben versagt das Bildungssystem jedoch nach Meinung der mit der Expertise beauftragten Wissenschaftler/innen mehr als kläglich. Seine Defizite gehen so weit, dass sogar in den am meisten entwickelten Ländern dieser Welt bis zu einem Viertel der Bevölkerung von ihm nicht mit den Kompetenzen ausgestattet wird, welche diesen Menschen eine vollständige Teilnahme am Arbeitsmarkt und damit auch am gesellschaftlichen Leben ermöglichen würde. Den Hauptgrund für die Krise der institutionellen Bildung sehen sie v. a. in ihrer Resistenz gegen jeglichen größeren technologischen sowie sozialen Wandel. Daraus resultiert eine ständig wachsende Kluft zwischen einer boomenden Nachfrage nach Wissen und der dramatisch abnehmenden Effizienz sämtlicher für seine Vermittlung offiziell zuständiger Organisationsformen. Ein radikaler „Paradigmenwechsel“ („paradigm shift“ – S. 60) in der gesamten Pädagogik avanciert folglich zum dringendsten Gebot der Stunde. (vgl. S. 81)

1.8.3 computer literacy und eLearning

Gerade die Informations- und Kommunikationstechnologien, welche die digitale Revolution ausgelöst haben, stellen nach Ansicht der UNESCO-Forschungsgruppe auch die wichtigsten Werkzeuge zur Verfügung, mit deren Hilfe daraus resultierende Herausforderungen an das Bildungssystem am besten zu bewältigen sind. Die derzeitige Krise der institutionellen Pädagogik begründet sie nicht zuletzt mit dem eklatanten Widerspruch zwischen der medialen Vielfalt, der Kinder und Jugendliche in ihrem Alltagsleben ständig begegnen und dem verschwindend geringen Medieneinsatz an Ausbildungsstätten, wodurch sich Letztere immer mehr von der Lebenswelt ihrer Schüler/innen und Studierenden entfernen würden (vgl. S. 81). Um diesen fatalen Prozess aufzuhalten, empfehlen sie, neue Technologien verstärkt in Unterrichtssituationen zu integrieren und sowohl die Methoden als auch die Ziele der Bildung entsprechend anzupassen.

Die intensive Nutzung von Computer und Internet ermöglicht ihrer Meinung nach nicht nur einen Anschluss an die wahren Interessen Heranwachsender, sondern eröffnet ebenfalls vollkommen neue Dimensionen des Lehrens und Lernens. Denn IKT stellen einerseits einen gewaltigen „Ideenpool“ dar, andererseits erlaubt ihre Multimedialität sowie Interaktivität unterschiedlichste Informationen eigenständig und/oder in Zusammenarbeit mit Kolleg/innen aktiv zu verknüpfen sowie zu bearbeiten und ausgehend davon „echtes Wissen“ zu generieren (vgl. S. 47, S. 64, S. 77, S. 81f). Außerdem befördern sie die Umsetzung zahlreicher vorhin besprochener neuartiger didaktischer Prinzipien bis hin zum Ausbau von Kompetenzen zur selbstständigen Problemlösung im Rahmen von Anwendungen, in denen praktisches Experimentieren an die Erschließung theoretischer Kenntnisse gekoppelt wird, was sowohl die Phantasie der Lernenden anregt als auch ihre Motivation enorm steigert (vgl. S. 82). Somit steigt ihre Beherrschung zu dem auf, was im aktuellen pädagogischen Diskurs mit dem Begriff der „vierten Kulturtechnik“ bezeichnet wird – also einer „computer literacy“ (S. 74), die analog zum Lesen, Schreiben und Rechnen für die Teilhabe an der zeitgenössischen Kultur und Gesellschaft unentbehrlich ist. Footnote 10 Folglich fordern die Autor/innen der Studie, die Schulung von Grundfertigkeiten zur Bedienung von IKT müsse sich im 21. Jahrhundert zum Hauptbestandteil der (Allgemein-) Bildung für alle Bürger/innen dieser Welt entwickeln (vgl. S. 30), wobei institutionelle Wissensvermittlung zu diesem Zwecke völlig neu zu definierten und zu strukturieren wäre (vgl. S. 81f).

Doch im Bildungszeitalter darf sich laut ihnen die Pädagogik auf keinen Fall auf klassische Unterrichtsszenarien fokussieren, sondern muss ein besonderes Augenmerk auf die autonomen, informellen Lernprozesse richten, die heute zu ständigen Begleitern der Menschen durch alle ihre Lebensphasen avancieren. In diesem Kontext setzen sie besondere Hoffnungen auf das eLearning – ein Begriff mit dem sie sowohl den Einsatz neuer Lernmedien an Ausbildungsstätten als auch und vor allem die computer- bzw. internetbasierte Fernlehre, den s.g. „virtuellen Unterricht“ subsumieren. Das Bereitstellen von Werkzeugen zum orts- und zeitunabhängigen Lernen im Internet lässt ihrer Ansicht nach dieses zum führenden Medium der Selbstinstruktion aufsteigen, infolgedessen derartige Anwendungen das Lernen grundlegend revolutionieren würden (vgl. S. 84 ff, S. 48, S. 79). Die Expert/innen postulieren jedoch auch einen entsprechenden Rückkoppelungseffekt: Wenn beim lebenslangen Lernen neue Medien intensiv zum Einsatz kommen, würden fortwährende Weiterbildungen den Menschen gleichzeitig den Erwerb der „computer literacy“ erleichtern – ihnen also dabei helfen, sich in jene Technologien einzuarbeiten, die ihnen vielfältige Chancen in verschiedensten Lebensbereichen bieten (vgl. S. 81).

Dargestellte Entwicklungen müssen den Verfasser/innen des „Weltberichts“ folgend natürlich zwangsweise zu einer Neudefinition der Rolle der Lehrer/innen sowie zu einer Reform ihrer Ausbildung führen. Heute im Bildungssektor Tätige haben demnach nicht nur die zahlreichen gegenwärtig in Schulungssituationen benötigten technischen Fertigkeiten zu beherrschen, sondern nicht zuletzt dazu fähig zu sein, eine sinnvolle Auswahl aus dem ständig wachsenden Angebot an Lernprogrammen zu treffen. Vor allem müssen sie sich aber von ihrem klassischen Berufsbild verabschieden. Denn gerade der Unterrichtseinsatz von IKT würde im besonderen Maße den oben angesprochenen dringend notwendigen Rollenwechsel der Lehrenden von Vermittler/innen des Wissens zu Begleiter/innen selbstständiger Lernprozesse sowohl erfordern als auch befördern (vgl. S. 82f). Ein solches Umdenken ist für diese Berufsgruppe insofern von existenzieller Tragweite, als laut den Autor/innen der Studie zahlreiche Analytiker/innen aktueller Umwälzungen im Bildungssektor längerfristig die Ablösung des gesamten derzeitigen Schul- und Universitätssystems durch internetgestützte Fernlehrmaßnahmen prophezeien (vgl. S. 85f, S. 83).

Zwar wird in der besprochenen Expertise darauf hingewiesen, dass es durchaus noch viele offene Fragen bzgl. der Validität des eLearnings gibt (S. 86). Nichts desto trotz erschallt hier (wie in den meisten vergleichbaren Positionspapieren) der lautstarke Appell zu enormen politischen Anstrengungen – v. a. in Form hoher finanzieller Investitionen –, um neue Technologien in der Lehre zu verankern, sowie um das Lehrpersonal entsprechend zu schulen (vgl. S. 74).

Die Kritik derartiger Zugänge wird im vorliegenden Buch an anderen Stellen detailliert aufgearbeitet (zu den Letzteren siehe Abschnitt 3.3.3. und v. a. Unterkapitel 6.2.). Um am Schluss dieser Einleitung die Stoßrichtung der gesamten Schrift zu verdeutlichen, soll hier lediglich eine Aussage der Verfasser/innen des UNESCO-Weltberichts erwähnt werden, mit der sie selbst auf einen der problematischen Aspekte ihrer gesamten eigenen, vorhin zusammengefassten Argumentationskette hinweisen:

Das Interesse an kurzfristigen Auswirkungen der Einführung digitaler Technologien in die Bildung und das Lernen könnte in der Vernachlässigung einer tiefer gehenden Analyse deren neuer Inhalte, Qualitäten sowie Formate münden (S. 21).