Zusammenfassung
In diesem Aufsatz wird die These vertreten und empirisch zu belegen versucht, dass operationelles Risikomanagement in Banken, wie es mit der Regulierungsinitiative Basel II institutionalisiert wurde, weniger zu der intendierten „absoluten“ Reduktion von Unsicherheit führt, sondern im Zuge der vollzogenen Regulierung der bankinternen Arbeitsprozesse sekundäre Unsicherheiten hervorruft. Zugleich werden tragende Unsicherheiten in den Prozessen des Organisierens ausgemacht, deren „Kontrolle“ sich nicht im Modus der bisherigen Steuerungslogik reglementieren lassen wird. In den Blick kommen soziale Praktiken der Unsicherheitsabsorption, die Zuverlässigkeit von Banken „zwischen den Zeilen“ der wohldefinierten Organisation permanent aufrechterhalten und entsprechende Anpassungen in der Beobachtung und Steuerung von Banken notwendig erscheinen lassen.
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Insgesamt wurden 17 Interviews mit Mitarbeitern (überwiegend Führungskräften von der zweiten bis zur vierten Ebene) aus unterschiedlichen Bereichen (15 Interviews im Risikocontrolling und zwei im Handelsbereich) in drei Banken durchgeführt. Zudem wurden zwei Berater für Banken befragt. Hinzu kam die Teilnahme an drei Gruppendiskussionen im Risikocontrolling.
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Dieser Beitrag bezieht sich also auf die praktische Umsetzung von Basel II. Die neueren Richtlinien Basel III haben zum Zeitpunkt der Datenerhebung noch keine Auswirkungen in der Praxis des Risikomanagements zeigen können.
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Murphy’s Gesetz in der bekannten Form: „Alles, was schiefgehen kann, wird schiefgehen.“
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Die Metapher der „Schwarzen Schwäne“ steht für höchst unwahrscheinliche Ereignisse. In Europa ging man bis zum 17. Jahrhundert davon aus, dass alle Schwäne weiß sind. Der Schwarze Schwan galt als Sinnbild für etwas, was es nicht gibt. Trotz der Entdeckung der schwarzen Schwäne in Australien im 18. Jahrhundert hat sich die Metapher bis heute erhalten. In der Mathematik bzw. im Risikocontrolling sind Schwarze Schwäne jene Ereignisse, die weit außerhalb der Gaußschen Normalverteilung liegen, also fernab der statistischen Erwartbarkeit.
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Gleichwohl werden materielle Werte an die mathematischen „Karten“ des Risikocontrollings gebunden. Die Karten haben ihrerseits erheblichen Einfluss auf die „Risikowirklichkeit“. Mitunter ist das Zahlenwerk selbst zum bestimmenden Sinnlieferanten aufgestiegen: „Das Territorium geht der Karte nicht mehr voraus und überlebt (beerbt) sie auch nicht. Von nun an ist es die Karte, die dem Territorium voraus geht – das Vorangehen von Simulationen – sie ist es, die die Territorien [er]zeugt.“ (Baudrillard 1981; zit. nach de Toro 2010, S. 59)
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Michael Power (2007, S. 137 f.) führt Beispiele von Banken an, die Kapitaleinlagen für operationelle Risiken an qualitative Wertungslisten koppeln. Diese „Scorecards“ sind gänzlich frei von Versuchen, operationelle Risiken über Eintrittswahrscheinlichkeiten zu quantifizieren. Ihre „Objektivität“ erlangen sie dadurch, dass sie Gegenstand und Ergebnis regelmäßiger konsultativer Prozesse sind und entsprechend Aufmerksamkeiten sensibilisieren.
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In diversen interorganisationalen Schadensfalldatenbanken werden eingetretene Schadensfälle erfasst und für die bankspezifische Risikosensitivität nutzbar gemacht.
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Oder anders formuliert: Jedwede Stellen in Organisationen, wo Entscheidungen getroffen und nicht lediglich Operationen abgeleitet werden, sind riskant. „Nur die Fragen, die prinzipiell unentscheidbar sind, können wir entscheiden“, heißt es bei Heinz von Foerster (1993, S. 153). Entscheidungen sind daher immer riskant; sie können auch anders getroffen werden.
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Es stammt vermutlich vom englischen Wort „leery“ ab, was argwöhnisch oder misstrauisch, aber auch schlau bedeutet.
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Man denke an die erfolgskritische Bedeutung der „weak ties“ von Akteuren in sozialen Netzwerken (Granovetter 1973).
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Eine solche Kultur des legitimen und gepflegten Misstrauens erinnert stark an das 1984 von der interdisziplinären Forschergruppe um Karlene H. Roberts an der University of California in Berkeley entworfene Konzept der High Reliability Organizations (Rochlin 1996).
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Und auch treffend mit der Sören Kierkegaard zuzuschreibenden Einsicht charakterisieren, dass das Leben nur rückwärts verstanden, aber vorwärts gelebt werden muss.
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Lose Kopplung bedeutet aber auch nicht „keine Organisation der Prozesse“, was bereits der Terminus „lose“ und „gekoppelt“ impliziert. Auch lose gekoppelte Systeme verfügen über ein gewisses Maß an Geordnetheit. Nur sind die steuernden „Instanzen“ anderer Natur. Zu ihnen gehören u. a. professionelle Identität, normative Orientierungen, Selbstverpflichtung, Motivation oder ein postheroischer Führungsstil. So gesehen würden normatives Management und Personalentwicklung einen anderen Stellenwert erlangen, als sie derzeit im Feld des operationellen Risikomanagements einnehmen.
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Brückner, F., Wolff, S. (2015). Die Produktion von Unsicherheit. Nichtintendierte Folgen des operationellen Risikomanagements in Banken. In: Apelt, M., Senge, K. (eds) Organisation und Unsicherheit. Organisationssoziologie. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-19237-6_9
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