Zusammenfassung
An die Strukturdebatte zum frühstratifizierten deutschen Bildungssystem schließt sich auch die Diskussion um die Abschaffung der Hauptschule an (Rösner 2007 1998, 2000; 2004, 2010; Dohmen 2008), die immer mehr zu einem leistungsschwachen Bildungsort negativ selektierter Schüler degradiert, der keine Zukunftsperspektiven bereithält. Unter den Bedingungen eines stark selektiven Schulsystems gibt es aber auch Bildungsaufsteiger wie einzelne Hauptschüler, die an der Hauptschule über die Entkopplungsmöglichkeit zwischen Schulabschluss und besuchter Schulform den mittleren Schulabschluss erwerben, um anschließend die gymnasiale Oberstufe zu besuchen. Aus Sicht der Bildungspolitik scheinen diese aufsteigenden Hauptschüler als Beleg für das Prinzip der Durchlässigkeit des deutschen Schulsystems (Helsper/Hummrich 2005) und der meritokratischen Leistungslogik, jeder hätte die Chance zum Erfolg, er müsse sie nur nutzen (Engel/Hurrelmann 1989; kritisch dazu Vester 2004). Durch den institutionellen Öffnungsprozess ist zwar der Zugang zu höheren Bildungszertifikaten auch für Schüler niedriger Schulform (zumindest) auf struktureller Ebene gelockert. Aber wie kommt es zu diesen aufsteigenden Schulkarrieren und wie gelingt dem einzelnen Hauptschüler dieser Bildungserfolg im Sinne einer schulischen Aufwärtsqualifizierung? Die empirische Bildungsforschung diagnostiziert eine enge Kopplung zwischen Schulerfolg und sozialer Herkunft. Schulische Übergänge werden als Ergebnis einer herkunftsspezifischen rationalen Entscheidung betrachtet und der Übergang auf die Hauptschule vor allem dem milieubedingten Entscheidungsverhalten und fehlenden Bildungsinteressen der Eltern zugewiesen, die sich an den ökonomischen Ressourcen und Bildungsinvestitionen orientieren (Becker/Lauterbach 2010; Schuchart 2006; Maaz et al. 2006; kritisch dazu Kramer 2011). So evident der empirische Zusammenhang zwischen Bildung und sozialer Herkunft nach PISA auch ist, scheint der Bildungserfolg neben den sozioökonomischen Merkmalen der Herkunftsfamilie auch von anderen bildungsrelevanten Determinanten geprägt zu werden. Beispielsweise wurde in verschiedenen qualitativen Studien sichtbar, welche große Bedeutung pädagogische Akteure wie Lehrer in der Rolle biografischer Berater (Nittel 1992; Helsper 2006; Wiezorek 2007) oder die Peers als biografischer Erfahrungsraum (Krüger et al. 2008; Krüger/Deppe 2010; Deppe in diesem Band) für die Entwicklung von Bildungskarrieren haben. Sie verweisen damit auf Wirkungsmechanismen, die in der aktuell dominierenden quantitativ ausgerichteten Bildungsforschung kaum in den Blick geraten.
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Die dargestellten Ergebnisse sind im Rahmen der laufenden Untersuchung „Hauptschüler auf dem Weg zum (Fach-)Abitur“ entstanden. Diese Studie fokussiert den bislang empirisch wenig erforschten Übergang von der Hauptschule in die gymnasiale Oberstufe und ist als qualitativer Längsschnitt konzipiert. Datengrundlage sind autobiografisch-narrative Interviews mit 17 Hauptschülern am Ende der 10. Klasse vor dem Übergang in die gymnasiale Oberstufe und narrative Zweitinterviews mit den (nun ehemaligen) Hauptschülern zwei Jahre nach dem Schulwechsel. Die Auswertung orientiert sich an der Narrationsstrukturanalyse nach Schütze (1983).
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Mangas sind japanische Comics.
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Der gute Ruf der katholischen Hauptschule erklärt sich zum großen Teil durch einen geringen Migrantenanteil in ihrer Schülerschaft im Verhältnis zu anderen Hauptschulen aus der Region, da nur Kinder und Jugendliche mit evangelischer oder katholischer Konfession zugelassen werden.
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Die Entthematisierung zeigt sich auch an der Stelle, wenn Martin im Rahmen seiner lebensgeschichtlichen Erzählung symptomatisch seinen bisherigen Schulverlauf und damit den Hauptschulbesuch völlig auslässt, was überaus ungewöhnlich für eine biografische Erzählung eines Schülers in seinem Alter ist. So haben verschiedene Jugendbiografiestudien gezeigt, dass gerade Heranwachsende ihre Lebensgeschichte entlang der institutionellen Stationen des Schulsystems erzählen (vgl. Fuchs- Heinritz/Krüger 1991; Nittel 1992; Bohnsack et al. 1995).
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Zu den verschiedenen sozialen Herkunftsmilieus siehe Vester (2004).
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Bei Bildungsprozessen als Wandlungsprozessen erfolgt eine Transformation der Selbst- und Weltreferenz, die dem Subjekt einen Gewinn an Handlungs- und Orientierungspotentialen bringen (Schütze 1981,2000; Marotzki 1990). Schütze (2000: 63) spricht bei Wandlungsprozessen auch von einer „Kreativitätsentfaltung des Bildungsprozesses“.
Literatur
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Schneider, E. (2013). Schulische Aufwärtsqualifizierungen bei Hauptschülern im Rahmen biografischer Prozessverläufe – Potentiale eines schülerbiografischen Zugangs. In: Siebholz, S., Schneider, E., Schippling, A., Busse, S., Sandring, S. (eds) Prozesse sozialer Ungleichheit. Studien zur Schul- und Bildungsforschung, vol 40. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-18988-8_5
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