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Dialektik und historischer Materialismus

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Marx für SozialwissenschaftlerInnen

Part of the book series: Studienskripten zur Soziologie ((SSZS))

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Zusammenfassung

Die Philosophie, zu Deutsch die Weisheitsliebe, sucht – zumindest in westlicher Kulturtradition – seit dem Altertum mehr oder weniger systematisch nach Antworten auf die allgemeinsten, die grundsätzlichsten Fragen, die sich die Menschen stellen. Ab einer gewissen Entwicklungsstufe fragt der Mensch nicht mehr nur, wo dieses oder jenes konkrete Ding existiert – etwa ein bestimmter Stein zur Herstellung einer Axt in der Steinzeit –, sondern sucht über die situationsgebundenen konkreten Dinge hinaus zu ergründen, was überhaupt existiert und was es heißt, dass etwas existiert. Die Geschichte der Philosophie kennt eine Vielzahl von Antworten auf solche und viele weitere Grundsatzfragen, mit vielfältigen Bemühungen, sie zu einem System einer umfassenden Weltanschauung zusammenzuführen. Bei Marx denkt man zuerst einmal an Begriffe wie Kapitalismus, Ausbeutung, Krise, Revolution und Kommunismus. Dies wird sich am Ende dieses Kapitels auch als richtig herausstellen, allerdings eingebettet in den viel breiteren Rahmen einer eigenen umfassenden Weltanschauung mit den Hauptmerkmalen universale Geschichtlichkeit, Materialismus und Dialektik und dem Ziel der menschlichen Selbstbefreiung.

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Notes

  1. 1.

    Siehe Diskussionseinschub: Marx oder Engels?

  2. 2.

    Von dem Mitbegründer der italienischen kommunistischen Partei, Antonio Gramsci, stammt die treffende Umschreibung des Marxismus als „Philosophie der Praxis“, mit welcher er während seiner Haftzeit im Faschismus Mussolinis die Zensur unterlief (Gramsci 1994, Gefängnishefte 10 & 11).

  3. 3.

    Marx und Engels sehen ihre realistische, d. h. wissenschaftlich begründete Theorie als weiterführende Überwindung der utopisch bleibenden Gesellschaftsentwürfe der Frühsozialisten (vgl. beispielsweise MEW 19, S. 177 ff.; zum anti-utopischen Gehalt des Marxismus s. auch Vellay 2013a).

  4. 4.

    Es sei daran erinnert, dass zu Lebzeiten von Marx die Naturwissenschaften gerade begannen, sich als eigene Disziplinen herauszubilden und an den Universitäten noch an den philosophischen Fakultäten als Naturphilosophie gelehrt wurden.

  5. 5.

    Auch wenn viele wichtige Begriffe der Marxschen Weltanschauung, insbesondere auf dem Gebiet der politischen Ökonomie (vgl. Kap. 6 in diesem Buch), aber auch des Klassenkampfes (vgl. Kap. 3 in diesem Buch) als Motor der Entwicklung von Klassengesellschaften, erst aufgrund langer theoretischer Arbeit von Marx und Engels – und unter dem Einfluss vieler weiterer Denker und der sozialen Kämpfe ihrer Zeit – zur Reife gelangten, so zeigt die Grundanlage der Marxschen Philosophie doch eine erstaunliche, lebenslange Kohärenz (vgl. Lukács 1984, S. 94 sowie Lenin 1964, S. 340).

  6. 6.

    Siehe Diskussionseinschub: Marx oder Engels?

  7. 7.

    Mit dem Titel seiner Jenaer Dissertation lehnt sich Marx deutlich an Hegels Schrift Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie (1801) an (vgl. Lypp 1999, S. 182).

  8. 8.

    Der ungarische, marxistische Philosoph Georg Lukács betont in seiner Aufsatzsammlung Der junge Marx, dass der gerade mal 22 Jahre alte Marx in seiner Dissertation einen „bedeutsamen Schritt zur Überwindung der Schranken des metaphysischen Materialismus“ (Lukács 1965, S. 12) unternahm. Mit seiner – aus überlieferten Fragmenten herausgefilterten – Interpretation des epikureischen Materialismus wendet er sich gegen Demokrits absoluten Determinismus und damit zugleich gegen Hegels Interpretation (vgl. Briefe von Marx an Lassalle vom 22. Februar und 31. Mai 1858, MEW 29, S. 549, 561).

  9. 9.

    Während seines Studiums in Berlin beteiligte sich Marx zeitweise an einem Intellektuellenzirkel der so genannten „Jung-Hegelianer“, einem Club junger Intellektueller, in dem der Theologiedozent Bruno Bauer eine prägende Gestalt war (vgl. Kap. 2.1). Seit Beginn der 1840er Jahre galt Bauer neben Ludwig Feuerbach als einer der führenden Köpfe des Linkshegelianismus sowie der Diskussionen um eine atheistische Philosophie.

  10. 10.

    Marx wertete den Anti-Dühring von Engels in der Vorbemerkung zur französischen Ausgabe von 1880 als „gewissermaßen eine Einführung in den wissenschaftlichen Sozialismus“ (MEW 19, S. 185).

  11. 11.

    Viele Einzelheiten des Tier-Mensch-Übergangszeitraums sind nach wie vor Gegenstand der Forschung. Zudem sei daran erinnert, dass die natürliche Abstammung des Menschen auch heute noch v. a. in Kreisen religiöser Orthodoxie – sei es in traditionellem oder auch modernem Gewand (vgl. etwa die sog. Neokreationisten, welche am Mythos der Welterschaffung durch eine ideelle Macht festhalten) – in Abrede gestellt wird (vgl. Vellay 2008, S. 178 f.).

  12. 12.

    Kant lehnte den Solipsismus zwar als „Skandal der Philosophie“ (Kant 2003, S. 23) ab, behauptete aber gleichzeitig, das „Ding an sich“ – die Welt, wie sie unabhängig von den Formen unserer Erkenntnis ist – als letztlich unerkennbar (vgl. ebd., S. 340). Diese Idee Kants findet heute vor allem in konstruktivistisch-postmodernen Philosophien Verbreitung. Diese implizieren zuweilen die relativistische Annahme einer prinzipiellen Gleichwertigkeit von allen in sich konsistenten Annahmen. Die Leugnung der Möglichkeit eines ‚objektiven‘ Erkenntniszugangs zu der von uns unabhängigen Realität kann daher im Extremfall der Legitimierung irrationalistischer Theorien dienen (vgl. Seppmann 2011).

  13. 13.

    Marx möchte den „rationalen Kern“ der Hegelschen Dialektik auch deshalb offen legen, da dieser alle Verhältnisse als vergänglich und damit veränderbar ausweist. In „ihrer mystifizierten Form“ war die Dialektik Hegels eine „deutsche Mode, weil sie das Bestehende zu verklären schien. In ihrer rationellen Gestalt ist sie dem Bürgertum und seinen doktrinären Wortführern ein Ärgernis und ein Greuel, weil sie in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs einschließt, jede gewordne Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffaßt, sich durch nichts imponieren läßt, ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär ist“ (MEW 23, S. 27 f.).

  14. 14.

    Von Marx selbst liegt keine umfassende Darstellung zur Dialektik vor (s. Diskussionseinschub: „Marx oder Engels?“). Lenin listet in seinen Philosophischen Heften 16 Elemente der Hegelschen Dialektik auf (vgl. Lenin 1971, S. 212 ff., s. auch: Zur Frage der Dialektik, S. 338 ff.), worunter insbesondere weitere wechselbestimmte, d. h. stets zusammengehörige Kategorien wie Form und Inhalt, Quantität und Qualität etc. fallen (s. auch Engels zu Lenins Lebzeiten unveröffentlichte Schrift Dialektik der Natur, MEW 20). Um die konkrete Ausgestaltung der marxistischen Dialektik gibt es eine weit verzweigte Debatte, s. beispielsweise das Hegel-Kapitel in der Ontologie von Lukács (1984, S. 468 ff.).

  15. 15.

    Im Kapital spricht Marx über die „Mängel des abstrakt naturwissenschaftlichen Materialismus, der den geschichtlichen Prozess ausschließt“ (MEW 23, S. 393, FN 489) und damit, in der Konsequenz, jede wirkliche Entwicklung. Auch heute finden sich solche reduktionistischen Auffassungen insbesondere bei neurowissenschaftlich orientierten Philosophien (vgl. beispielsweise Roth und Grün 2006 o. Metzinger 2009 sowie die Beiträge in Krüger 2007). Danach sind alle – insbesondere auch die menschlich-gesellschaftlichen – Phänomene biologisch oder gar physisch determiniert, mit der Folge, dass menschliche Entscheidungsfreiheit und vor allem bewusste Willensentscheidungen als Illusionen erscheinen (vgl. kritisch dazu Metscher 2010, S. 10 ff.). Die Glaubwürdigkeit eines solchen biologischen Determinismus, trotz gegenteiliger subjektiver Alltagserfahrung, lässt sich aus dem weit verbreiteten – und ideologisch gestützten – Ohnmachtsgefühl des Einzelnen gegenüber der – unverstandenen – gesellschaftlichen Fremdbestimmung erklären.

  16. 16.

    Diese irreführende Übertragung der menschlichen Fähigkeit zum teleologischen, d. h. zielgerichteten Handeln auf Natur und Geschichte prägt viele philosophische Systeme, wie beispielsweise das Aristotelische oder das von Leibniz. Einen guten Überblick über die Problematik liefert Nicolai Hartmann (1951).

  17. 17.

    Drei Wochen nach Veröffentlichung des Buches begrüßte Engels in einem Brief an Marx, dass Darwins Buch die „Teleologie (…) kaputt gemacht“ habe und ein großartiger Versuch sei, die „historische Entwicklung in der Natur nachzuweisen“ (MEW 29, S. 254). Marx spricht gar vom „Todesstoß“ der „Teleologie in der Naturwissenschaft“ (Brief an Lassalle vom 16.01.1863, MEW 30, S. 578). Wobei beide in diesem Zusammenhang die fehlende dialektische Herangehensweise Darwins als „grob englische Manier“ (Marx) bzw. „plumpe englische Methode“ (Engels) „in Kauf nehmen“. Ausführlicher äußert sich Engels in der Dialektik der Natur über die wichtige Rolle von Darwins Evolutionstheorie, der in seinem „epochemachenden Werk“ mittels der „breitesten vorgefundenen Grundlage der Zufälligkeit (…) die Notwendigkeit, wie sie bisher aufgefasst, über den Haufen“ wirft (MEW 20, S. 489). Gleichzeitig verwehrten Marx und Engels sich gegen Tendenzen der Übertragung der Naturerkenntnis auf das Gesellschaftliche, wie sie im sogenannten Sozialdarwinismus als „Kampf ums Dasein“ sich ausdrücken (vgl. ebd.: 566, oder beispielsweise den Brief von Marx an Kugelmann vom 27. Juni 1870, wo er ironisierend F.A. Langes „große Entdeckung“ kritisiert, die „ganze Geschichte (…) unter ein einziges großes Naturgesetz zu subsumieren“, worin der Darwinsche Ausdruck „Kampf ums Dasein“ in eine „bloße Phrase“ Malthusscher „Bevölkerungsphantasie“ verwandelt wird, „eine sehr einbringliche Methode – für gespreizte, wissenschaftlich tuende, hochtrabende Unwissenheit und Denkfaulheit“, MEW 32, S. 685 f.).

  18. 18.

    Die Doktrin von der „Unumkehrbarkeit“ sowie „Unvermeidbarkeit des Sozialismus“ in vormals realsozialistischen Ländern kann durchaus als eine Variante teleologischer Notwendigkeitsphilosophie begriffen werden, die auf einem verkürzten Verständnis des Marxismus beruht. Obwohl Marx und Engels der Perspektive der Selbstbefreiung der Menschheit optimistisch entgegensehen, betonen sie im Kommunistischen Manifest den Alternativcharakter des Klassenkampfes, „der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen“ (MEW 4, S. 462).

  19. 19.

    Diese sich entwickelnde Fähigkeit zur Erkenntnis objektiver Wesenszusammenhänge führt zur Herausbildung des spezifisch menschlichen Subjekt-Objekt-Verhältnisses und darauf aufbauend des Subjekt-Subjekt-Verhältnisses zwischen den Menschen. Das „Tier ‚verhält‘ sich zu Nichts und überhaupt nicht“, stellen Marx und Engels in der Deutschen Ideologie fest. „Das Bewußtsein ist also von vornherein schon ein gesellschaftliches Produkt und bleibt es, solange überhaupt Menschen existieren“ (MEW 3, S. 30 f.).

  20. 20.

    Arbeit in diesem allgemeinen Sinn darf keinesfalls mit Lohnarbeit als einer ihrer Formen verwechselt werden (vgl. Kap. 6 in diesem Band). Daher kann die unter Soziologen beliebte Rede vom vermeintlichen „Ende der Arbeit“ aus marxistischer Sicht sowieso bestenfalls in der Betrachtung der historisch konkreten Form der kapitalistischen Lohnarbeit ihren Platz haben, wobei global betrachtet der Anteil in Lohnarbeit stehender Menschen niemals größer war als heute und nach wie vor wächst.

  21. 21.

    Dabei geht der historische Materialismus – bei allem gesellschaftlich gewonnenen Abstand zur unmittelbaren und ausschließlichen Naturdeterminiertheit des Menschen – nie so weit, dass er die grundsätzliche Bedingtheit des Menschen als Naturwesen leugnen würde. Nicht nur bleibe das menschliche Bewusstsein immer an seinen Körper gebunden, welcher sich – obgleich immer stärker gesellschaftlich geprägt – doch biologisch reproduzieren muss; Marx betont zudem im Kapital, dass der Mensch seinen zur Reproduktion notwendigen stofflichen Reichtum nur durch die – den Naturgesetzen entsprechende – Umformung der Erde (als „Mutter“ des stofflichen Reichtums) in der Arbeit (als „Vater“ des stofflichen Reichtums) gewinnen kann (MEW 23, S. 57 f.).

  22. 22.

    Die Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit drückt sich in der beständigen Reduktion gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit aus, während der zur Reproduktion benötigte Kraftaufwand der Tiere unverändert bleibt.

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Vellay, C. (2014). Dialektik und historischer Materialismus. In: Marx für SozialwissenschaftlerInnen. Studienskripten zur Soziologie. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-18865-2_3

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