Zusammenfassung
Heinrich Heines Äußerungen zur Philosophie, ihrer Geschichte und ihrer Funktion können zwar nicht ohne Rekurs auf die Theorien von Hegel und Marx diskutiert werden, sollten jedoch nicht soweit überschätzt werden, daß sie den Werken dieser beiden Philosophen gleichgesetzt werden: sie beanspruchen wie auch Heines Ansätze zur ästhetischen Theorienbildung gerade im Vorfeld streng ausgeführter Philosophie Interesse [1]: Philosophiegeschichtlich betrachtet hat Heine eine Synthese zwischen aufklärerischem und idealistischem Denken erstrebt, indem er, bei Ablehnung der seiner Ansicht nach Kunst gefährdenden materialistischen Momente der Aufklärung, deren kritische Ansätze zu bewahren suchte, um die »tätige Seite« [2] des Idealismus zu retten. Dessen Depotenzierung der Gesellschaftskritik sollte durch eben diesen Rekurs auf aufklärerisches Denken verhindert werden. Heines philosophiegeschichtliche Anstrengung ist daher nicht als bloße Versicherungsveranstaltung [3] für sein eigenes »weltanschauliches Bekenntnis« [4] zu werten, sondern sie stellt sich vielmehr als energischer Versuch dar, an gesellschaftlich relevanten Momenten der Philosophie festzuhalten, auch und gerade im Blick auf eine neue Kunst. Dieser Versuch einer gesellschaftskritischen, aber nicht materialistischen Philosophie ist mit bedingt durch Heines Kritik des anachronistischen politischen und gesellschaftlichen Zustands in Deutschland und der gleichzeitigen Kritik an der in Frankreich fortgeschritteneren bürgerlichen Gesellschaft. Seine Auseinandersetzung mit dem Deutschlandbild Madame de Staels (vgl. E., VI, 22 f.) [5] und der bourgeoisen Kulturpolitik V. Cousins [6], die sich mit Hilfe eines kruden Eklektizismus aus der deutschen Philosophie zu legitimieren suchte [7], spielen implizit eine eminent politische Rolle für seine philosophie-geschichtliche Schrift von 1833. Soldier Ideologisierung der deutschen Philosophie gegenüber werden in der wohl bisher umfangreichsten Problematisierung der phi-losophischen Schriften Heines dessen »revolutionar-demokratische[n] Tenden-zen« [8] akzentuiert. Auch der dort vorgenommenen kritischen Einordnung der Schrift von 1833 als progressiver Kultur- und Ideologiegeschichte, die jedoch die okonomischen und gesellschaftspolitischen Ursachen der von ihr richtig erkannten Symptome nicht aufzuhellen vermoge, ist zuzustimmen.
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Anmerkungen
Vgl. W. Harich, Heinrich Heine und das Schulgeheimnis der deutschen Philosophie. In: Sinn und Form. Berlin 1956, 1. Heft, S. 32
Vgl. auch G. Brandes, Die Emigrationsliteratur. Leipzig 1897, S. 247.
Vgl. E. Rothacker, Philosophie und Politik im französischen Denken des frühen 19. Jahrhunderts. Ein kultursoziologischer Versuch. In: Geistige Gestalten und Probleme. Leipzig 1942, S. 162 u. 154
G. Lukács, Heinrich Heine als nationaler Dichter. In: Deutsche Realisten des 19. Jahrhunderts. Berlin 1952, S. 113 f.
Th. W. Adorno, Drei Studien zu Hegel. Frankfurt/M. 1963, S. 59
F. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie. In: K. M./F. E., Über Religion. Berlin 1958, S. 180
Vgl. zu diesem Problem O. Marquard, Die Frage nach dem Menschen. Aufriß einer philosophischen Anthropologie. In: Festschrift für Max Müller zum 60. Geb. Hrsg. v. H. Rombach, Freiburg 1966.
Vgl. zur Tradition historistischen Denkens im Zusammenhang mit der Verabschiedung Hegels: K. Lenk, Soziologie und Ideologienlehre. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1961. S. 236
Vgl. F. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie. Berlin 1952, S. 12.
D. Claussen, Zum emanzipativen Gehalt der materialistischen Dialektik in Horkheimers Konzeption der Kritischen Theorie. In: neue kritik, 55/56, Frankfurt/M. 1970, S. 57.
Vgl. W. Paulsen, Die Nachtwachen, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft IX, 1965, S. 501 f.
J. Habermas, Dialektischer Idealismus im Übergang zum Materialismus — geschichts-philosophische Folgerungen aus Schellings Idee einer Contraction Gottes. In: Theorie und Praxis. Neuwied 21967, S. 132.
O. Marquard, Über einige Beziehungen zwischen Ästhetik und Therapeutik in der Philosophie des 19. Jahrhunderts. In: Literatur und Gesellschaft. Hrsg. v. H. J. Schrimpf, 1963, S. 32.
Vgl. H. J. Sandkühler, Fr. W. J. Schelling. Stuttgart 1971, S. 85.
F. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie. Berlin 1952, S. 5
Zur Problematik der Begriffsbestimmung von Jung-, Alt-, Rechts- und Linkshegelianer vgl. H. Lübbe, Die politische Theorie der Hegeischen Rechten. In: Archiv für Philosophie. X (1960), S. 175 ff. und die Zusammenfassung bei H. Stuke, Philosophie der Tat, S. 32, Anm. 5.
G. G. Iggers, Heine and the Saint-Simonians. A Re-Examination. In: Comperative Literature, Vol. X, 1958, S. 300 f.
Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Bd. III, Jubiläumsausgabe. Hrsg. v. H. Glockner. Bd. XIX, Stuttgart 41965, S. 514.
G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes. Hamburg 1952, S. 391
Vgl. K. Lenk, Dialektik und Ideologie. Zum Ideologieproblem in der Philosophie Hegels. In: Archiv f. Rechts- u. Sozial-Philosophie. Bd. 49, Berlin 1963, S. 306 f.
Vgl. z. B. M. Bollacher, Der junge Goethe und Spinoza. Studien zur Geschichte des Spinozismus in der Epoche des Sturm und Drangs. Tübingen 1969.
W. Dilthey, Die Funktion der Anthropologie in der Kultur des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Gesammelte Schriften II. Hrsg. v. B. Groethuysen. Stuttgart 31958, S. 463.
J. W. v. Goethe, Dichtung und Wahrheit. In: Hamburger Ausgabe. Bd. X, Hamburg 31963, S. 49.
W. Schulz, Der Gott der Neuzeitlichen Metaphysik. Reutlingen 1957, S. 67.
L. Feuerbach, Sämtliche Werke, Bd. IV, Leipzig 1846/1866, S. 375.
Vgl. E. Silberner, Moses Hess, Geschichte seines Lebens. Leiden 1966, S. 73.
Vgl. B. Bauer, Geschichte der Politik, Cultur und Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Bd. I, Charlottenburg 1843, S. 234 f.
J. Ritter, Hegel und die französische Revolution. Frankfurt/M. 1965, S. 45.
G. W. F. Hegel, Berliner Schriften 1818–1831. Hrsg. v. J. Hoffmeister. Hamburg 1956, S. 59.
G. W. F. Hegel, Sämtliche Werke. Hrsg. v. H. Glockner, Bd. I, Stuttgart 1927, S. 46
K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechts-Philosophie. In: Deutsch-Französische Jahrbücher. Hrsg. v. A. Ruge u. K. Marx. Paris 1844, S. 71
M. Hess, Philosophie der Tat. Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz. Hrsg. v. G. Herwegh. Zürich 1843, S. 317
G. W. F. Hegel, Ästhetik. Hrsg. v. F. Bassenge. Bd. I, Berlin 1955, S. 488.
D. K. Bockmühl, Leiblichkeit und Gesellschaft. Studien zur Religionskritik und Anthropologie im Frühwerk von Ludwig Feuerbach und Karl Marx. Forschungen zur Systematischen Theologie und Religionsphilosophie Bd. VII, Göttingen 1961, S. 270.
P. Meinhold, ›Opium des Volkes‹. Zur Religionskritik von Heinrich Heine und Karl Marx. In: Monatsschrift für Pastoraltheologie. Heft 1, 1960, S. 174.
N. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Basel 1939
Vgl. J. v. Ussel, Sexualunterdrückung. Geschichte der Sexualfeindschaft. Hamburg 1970, S. 17.
F. M. Klinger, Betrachtungen und Gedanken. Berlin 1958, S. 94
In: B. Kaiser, Die Achtundvierziger. Berlin 1970, S. 326 f.
Vgl. Autorenkollektiv, Zum Verhältnis von Ökonomie, Politik und Literatur im Klassenkampf. Berlin 1971, S. 38 f.
So laut H. Marcuse, Zur Kritik des Hedonismus. In: Kultur und Gesellschaft I, Frankfurt 1968, S. 129.
L. Kreutzer, Heine und der Kommunismus. Göttingen 1970, S. 33 f.
Vgl. S. Lublinski, Litteratur und Gesellschaft im neunzehnten Jahrhundert, Bd. II, Berlin 1899, S. 98
B. Mandeville, Die Bienenfabel oder private Laster als öffentliche Vorteile. Berlin 1957, S. 319.
Vgl. H. J. Krüger, Theologie und Aufklärung. Stuttgart 1966, S. 132 f.
Vgl. M. Weber, Die protestantische Ethik II. Hrsg. v. J. Winkelmann. München 1968, S. 388.
A. Schmidt, Henri Lefebvre und die gegenwärtige Marxinterpretation. Nachwort zu: H. L., Der dialektische Materialismus. Frankfurt/M. 21967, S. 160.
Vgl. z. B. L. Tieck, Schriften, Bd. XI, Berlin 1829, S. LXXXVIII.
G. Lukács, Heinrich Heine als nationaler Dichter. In: Deutsche Realisten des 19. Jahrhunderts. Berlin 1952, S. 127.
vgl. S. Kiergegaard, Über den Begriff der Ironie. Düsseldorf 1961, S. 307
L. Tieck, Das Alte Buch und die Reise ins Blaue hinein (1835). Eine Märchennovelle. In: Ludwig Tieck, Werke in vier Bänden. Hrsg. v. M. Thalmann, Bd. III, Darmstadt 1965, S. 1018.
vgl. M. Schaum, Das Kunstgespräch in Tiecks Novellen. Gießen 1925, S. 144
Vgl. zum Problem der Fortschrittsidee B. Schäfers, Fortschritt der Gesellschaft und Fortschritt der Soziologie. In: Thesen zur Kritik der Soziologie. Hrsg. v. B. Schäfers. Frankfurt/M. 1969, S. 151–173.
Vgl. S. Freud, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. In: Gesammelte Werke. Hrsg. v. A. Freud u. a., Bd. 15, Frankfurt/M. 31961, S. 178.
Vgl. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes. Hrsg. v. J. Hoffmeister, Hamburg 61952, S. 147.
F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. In: F. N., Werke in drei Bänden. Bd. II, Darmstadt 1963, S. 660
Vgl. F. Strich, Die Mythologie in der Deutschen Literatur von Klopstock bis Wagner. Bd. II, Halle 1910, S. 314.
O. Marquard, Zur Bedeutung der Theorie des Unbewußten für eine Theorie der nicht mehr schönen Kunst. In: Die nicht mehr schönen Künste. Hrsg. v. H. R. Jauß, München 1968, S. 386.
K. Lenk, Soziologie und Ideologienlehre. Bemerkungen zur Marxismusdiskussion in der deutschen Soziologie von Simmel bis Mannheim. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 13. Jg. 1961, S. 229.
W. Oelmüller, Fr. Th. Vischer und das Problem der nachhegelschen Ästhetik. Stuttgart 1959, S. 125.
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Oesterle, G. (1972). Ideologiekritik und Naturphilosophie. Zu Heines philosophiegeschichtlichem Ort. Ansätze zu einer psychoanalytisch argumentierenden Gesellschaftskritik. Triebunterdrückung und Verdrängung als Probleme von Kunst und Gesellschaft. In: Integration und Konflikt die Prosa Heinrich Heines im Kontext oppositioneller Literatur der Restaurationsepoche. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-99472-1_4
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