Zusammenfassung
Wer als Leser am literarischen Leben der Gegenwart teilnimmt, liest Romane. Die Zahl der Lyriker, die heute einem weiteren Publikum bekannt sind, ist gering, und selbst einem literarisch Gebildeten würde es wohl schwer fallen, mehr als ein halbes Dutzend Titel von lyrischen Sammlungen aus den letzten Jahren anzugeben. Die Kenntnis von Gedichten wird durch zufällige Begegnungen in Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien vermittelt. Die Theater füllen sich allabendlich ; aber der Bestand an Dramatik ist trotzdem schmächtig, die Wirkung eines Dramas reicht selten über das Erlebnis der Aufführung hinaus. Die Literatur als Bereich, bei dem der einzelne sich angeregt fühlt, die Fülle der Erscheinungen zu sichten, zu vergleichen, zu werten und einzuordnen, wird heute im wesentlichen durch den Roman aufgebaut. Man muß die gleiche Feststellung für die letzten 150 bis 200 Jahre treffen. Das Amt des Sichtens, Vergleichens, Wertens und Einordnens fallt dabei heute der Literaturgeschichte zu. Zahlreiche und wichtige ihrer Kapitel gelten Schriftstellern, die nur als Erzähler Geltung erlangt haben: Gotthelf, Raabe, Keller, Stifter, Alexis, Fontane, um nur einige aus dem deutschen Schrifttum zu nennen ; aus dem fremdsprachigen drängen sich Namen auf wie Dickens, Thackeray, Hardy, Joseph Conrad, James Joyce oder Flaubert, Stendhal, Balzac, Zola, Proust, Gide oder Gont-scharoff, Dostojewski, Tolstoi.
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Notizen
Zu den Zahlen vgl. R. Jentzsch, Der dt.-latein. Büchermarkt, 1912;
H. H. Borcherdt, Der Roman der Goethezöit, 1949, 3. 239.
Vgl. L. Brögelmann, Studien zum Erzählstil im „idealistischen“ Roman von 1643–1733, mit bes. Berücksichtigung von August Bohse, Diss. Göttingen 1953.
Wir lassen hier und im Folgenden den französischen Roman aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts beiseite, so gewiß seine Erzähltechnik manche Übereinstimmungen aufweist und auf Wieland, den die Zeitgenossen den deutschen Crébillon nannten, gewirkt hat. Zu diesen französischen Romanen und ihrer Wirkung vgl. H. Friedrich, Abbé Prévost in Deutschland, 1929, und
J.R. Foster, History of the Pre-Romantic Novel in England, London 1949.
H. Meyer, Zum Problem der epischen Integration, Trivium 1950.
Gerhard Buck: Written in Imitation of the Manner of Cervantes, G R M. XXIX, 1941.
Harri Meier, Zur Entwicklung der europäischen Quichote-Deutung, Romanische Forschungen, LIV, 1940.
Hugo Friedrich, Die Klassiker des französischen Romans, 1939, S. 132. Was hier „objektiver Stil“ genannt wird, deckt sich mit unserem Begriff der Erzählhaltung. H. Friedrich weist eingehend nach, wie diese Haltung geradezu gegen die Natur des Autors eingenommen und durchgehalten wurde.
Vgl. S. D. Neill, A Short History of the English Novel, London 1951, S. 316. Ein wichtiges Mittel, mit dem Joyce Bezüglichkeit gestaltet, ist die Sprache : in dem Buch werden nacheinander verschiedene Stile der englischen Sprache gesprochen. Von hier führt der Weg zur Sprachgebung in Joyce letztem Roman Finnegans Wake : die (an sich schon umgeformte) englische Sprache wird durch die Wurzeln von Wörtern aus zahlreichen anderen bereichert.
Vgl. Lord David Cecil, Hardy the Novelist, London 1943, S. 39.
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Kayser, W. (1954). Entstehung und Krise des Modernen Romans. In: Entstehung und Krise des Modernen Romans. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-99044-0_1
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