1 Wo bleibt die elektronische Avantgardeliteratur?

Das Verhältnis von Literatur und elektronischen Medien hat sich anders entwickelt, als dies in den 1990er Jahren – als Computer und Internet zu Alltagsphänomenen avancierten – erwartet worden war. Der Hypertext schien damals die Möglichkeit einer neuen experimentellen Avantgarde zu eröffnen: Erzähltechnische Innovationen der Moderne wie multiperspektivisches und nicht-lineares Erzählen wurden im Zuge der neuen elektronischen Möglichkeiten radikalisiert, grundlegende literaturtheoretische Begriffe wie ‚Text‘ und ‚Autorschaft‘ schienen neu definiert werden zu müssen.Footnote 1 Als neue experimentelle Form hat sich der Hypertext jedoch nicht durchgesetzt. Die Gründe dafür sind vielfältig: Für die Autorinnen und Autoren erwies sich die Programmierung als extrem aufwendig, es fehlte ein breiter Absatzmarkt für die neuartigen Produkte, und ohnehin waren die letzten Jahrzehnte nicht gerade eine Blütezeit des literarischen Experiments – angesagt waren, gerade vor dem Hintergrund radikaler technisch-medialer und politisch-sozialer Veränderungen wie der digitalen Revolution und der Globalisierung, ein eher traditioneller populärer Realismus und das Ideal der Leserfreundlichkeit. Während etwa im Bereich der Populärkultur Computerspiele aufgrund kontinuierlicher Innovationen boomten, hat sich die Hoffnung auf eine neue literarische Avantgarde im Zeichen des elektronischen Experiments nicht erfüllt. Die mediale Revolution zog keine literarische Revolution nach sich, jedenfalls bisher noch nicht.

Welche Folgen hatte das neue Medium aber dann für das gegenwärtige literarische Feld? Überblickt man das Untersuchungsgebiet ‚Literatur und Internet‘, so denkt man heute eher an Online-Buchhandel über Amazon, mehr oder weniger unseriöse literarische Online-Datenbanken wie das Projekt Gutenberg-DEFootnote 2 oder, von der Literaturwissenschaft in letzter Zeit mit besonderer Vorliebe herangezogen, an Autorschaftsinszenierungen von Schriftsteller*innen im Netz, etwa in Form von Homepages oder Facebook-Auftritten, die der Pflege der eigenen Leser*innen-Fangemeinde dienen.Footnote 3 Dass das Netz zum Aufbegehren gegen das etablierte Literatursystem und die Kommerzialisierung genutzt wurde, blieb die Ausnahme – so im Fall der gegen das „Machtmittel Buch und Buchbetrieb“Footnote 4 gerichteten Provokation, die Elfriede Jelinek mit der kostenlosen Veröffentlichung ihres „Privatromans“ Neid im Internet anstrebte. Von solchen illustren Ausnahmen abgesehen, scheint das Internet – auf den ersten Blick – bislang eher den traditionellen Buchmarkt und herkömmliche literarische Genres zu stabilisieren als radikal Neues hervorzubringen.

2 Populärkultur – Kundenrezensionen, Fan-Fictions, Literaturplattformen, Blogs

Die Einschätzung, dass es im Netz nichts Neues gebe, hat allerdings viel mit unserem literaturwissenschaftlichen Blick zu tun, der traditionell elitär auf ‚seriöse‘ Autor*innen, auf ‚Höhenkammliteratur‘ zentriert ist. Das Internet, insbesondere das Web 2.0, steht hingegen für Massenkommunikation in dem Sinne, dass jede*r Nutzer*in nicht nur Rezipient*in ist, sondern zugleich auch Produzent*in, Akteur*in werden kann. Das hat weitreichende Folgen: Herkömmliche Grenzen wie die zwischen Privatem und Öffentlichem sowie Professionalität und Nicht-Professionalität lassen sich nicht mehr genau markieren. Hinzu kommt, dass die Aufmerksamkeit in weitaus stärkerem Maß als in traditionellen Medien durch rein quantitative Kriterien gelenkt wird: Ob nun Facebook oder YouTube – was zählt, ist, innerhalb möglichst kurzer Zeit möglichst viele Klicks zu erreichen oder möglichst oft ‚geliked‘ zu werden. Auf diese Weise kann man ‚über Nacht‘ zum Star werden und genauso schnell wieder in Vergessenheit geraten. Benannte Charles Baudelaire bereits 1863 in seinem Essay Le peintre de la vie moderne bekanntlich die sich durch „das Vergängliche, das Flüchtige, das Zufällige“Footnote 5 auszeichnende Mode als ein entscheidendes Kriterium für Modernität, so erscheint diese Kurzlebigkeit im Internet-Zeitalter ins Extrem gesteigert. Die Frage ist, ob man diese Entwicklung bedenklich finden oder ob man ihr nicht vielmehr produktive Potenziale gerade im Bereich des Ästhetischen attestieren sollte – genau wie Baudelaire vor mehr als 150 Jahren das Flüchtige der Mode – neben dem Ewigen und Unwandelbaren – als „die eine Hälfte“Footnote 6 des Schönen und der Kunst definiert hatte.

Dieser Hälfte des Schönen kann sich die Literaturwissenschaft nicht entziehen. Sie sollte daher nicht ignorieren, dass sich auch im Bereich der literarischen Kommunikation neue Formen und Institutionen herausgebildet haben. Es gilt, den Blick zu lenken auf populärkulturelle Phänomene wie Kundenrezensionen, Fan-Fictions, Mitschreibprojekte im Rahmen von Literaturplattformen sowie auf Blogs, die ich in den Mittelpunkt meiner Überlegungen stellen möchte (und daher zunächst einmal übergehe). Man kann über die Masse und Ubiquität der – oft dilettantischen – Literaturkritik und literarischen Produktion im Netz also die Nase rümpfen; vor allem aber kann man sie aufgrund ihrer einfachen Verfügbarkeit im digitalen Speichermedium analysieren – und darin besteht ein entscheidender Vorteil für den/die Literaturwissenschaftler*in. Noch nie ließen sich wohl Prozesse literarischer Kommunikation so flächendeckend und leicht untersuchen wie heute. Blieb etwa die Beschäftigung mit der Rezeptionsgeschichte im Hinblick auf vergangene Epochen aufgrund einer meist geringen Datenmenge oft weitgehend spekulativ, so sind aktuellen Untersuchungen kaum Grenzen gesetzt – außer der Scheu vor den vermeintlichen Niederungen der Alltagskultur.

Im Bereich der Literaturkritik führt die sich im Zeichen des Digitalen vollziehende Dezentralisierung (die nicht über die zunehmende ökonomische Zentralisierung hinwegtäuschen sollte) in verstärktem Maße jene „dialogischen und populären Traditionen“Footnote 7 fort, die sie seit ihrem Beginn in der Epoche der Aufklärung besaß. Auch Literatur-Plattformen bieten – je nachdem, in welchem Maß sie nicht-hierarchische Kommunikation erlauben – die Möglichkeit dezentraler Interaktion im Sinne digitaler Text-Werkstätten.Footnote 8 Zunehmend an Popularität gewann in den letzten Jahren die Textsorte ‚Fan-Fiction‘, deren pädagogisch-kreativen Wert für den handlungs- und produktionsorientierten Unterricht inzwischen auch die Literaturdidaktik erkannt hat. Auch jenseits indizierender Einzelfälle wie dem aus einer Fan-Fiction (zu Twilight) hervorgegangenen erotischen Bestseller-Roman Fifty Shades of Grey liegt die kulturhistorische und kulturdiagnostische Bedeutung des Phänomens auf der Hand. Es dürfte kaum einen geeigneteren Indikator nicht allein für den quantitativen Erfolg, sondern genauer für die „soziale Energie“ (Stephen Greenblatt)Footnote 9 literarischer Werke geben als diese Form der kreativen Rezeption.Footnote 10

Das Weiter- und Umschreiben von Handlungs- und Figurenmustern als idealtypische Form von Intertextualität, in deren Rahmen häufig die Geschlechtsidentitäten und die sexuelle Orientierung von Figuren transformiert werden, ist allein für die Gender Studies und Queer Studies von unschätzbarem Wert. Generell ist hier auf der Basis einer enormen Datenfülle zu beobachten, wie Verständigung über das kulturelle Wissen einer Zeit stattfindet, wie popkulturell oder, wenn man so will, trivial dieses Wissen auch immer sein mag. Der individuelle kreative Umgang mit Prätexten ist dabei aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Sicht ebenso aufschlussreich wie die Anschlusskommunikation zwischen den User*innen; in unzähligen Kommentaren zu den auf den Plattformen eingestellten Texten wird darüber diskutiert, wie plausibel die jeweilige Transformation des literarischen Originals ist, inwiefern also die individuelle Abweichung von einem adäquaten Verständnis des Prätexts zeugt. Nachvollziehbar werden auf diese Weise die Regeln der Selbstverständigung innerhalb einer literarisch interessierten Community. Im Bereich der Fan-Fiction präsentiert sich dem/der Literaturwissenschaftler*in somit ein umfassendes Archiv kulturellen Wissens.

Wie aber gehen wir als Literaturwissenschaftler*in mit solchen monströsen Archiven um, wie nutzen wir die enorme Menge an Daten, die populärkulturelle Phänomene wie Kundenrezensionen, Literaturplattformen, Fan-Fictions und Blogs bereitstellen? Und welche Konsequenzen sind für die literaturwissenschaftliche Methodologie zu ziehen?

3 Methodologische Perspektiven: Digital Philology, Distant Reading, Kulturpoetik

Die Tatsache, dass – in Bezug auf das gegenwärtige literarische Feld wie auch retrospektiv im Hinblick auf vergangene literaturhistorische Epochen – eine immer größere Masse elektronischer Daten verfügbar ist, verändert die Literaturwissenschaft nachhaltig, sie eröffnet das Feld der Digital Philology. Über die Art und Weise, in der sie das tut, über die Frage, welche methodologischen Perspektiven sich also im digitalen Zeitalter ergeben, muss dringend diskutiert werden. Bekanntlich hat Franco Moretti für den literaturwissenschaftlichen Umgang mit großen Textkorpora den prägnanten Begriff Distant Reading geprägt.Footnote 11 Während die Methode des Close Reading seit den 1950er und 1960er Jahren versuchte, wenige singuläre, kanonische literarische Texte möglichst genau zu analysieren, geht es ihm um eine programmatische Hinwendung „vom Außergewöhnlichen zum Alltäglichen, von den Einzel- zu den Massenerscheinungen“.Footnote 12 Was ihm vorschwebt, ist die Analyse jener 99 % der literarischen Texte, die zugunsten des 1 % kanonisierter Texte vergessen wurden. Das Ziel ist nicht mehr und nicht weniger als eine neue Literaturgeschichte im Sinne einer Comparative Morphology, die herkömmliche Epochenkonstruktionen infrage zu stellen vermag. Moretti geht es um die Untersuchung kleinster Einheiten wie einzelner Motive oder Erzähltechniken an einer möglichst großen Zahl von Texten, um etwa die historische Transformation literarischer Genres beschreiben zu können. Ziel ist es, die sich verändernde Häufigkeit des Auftretens dieser Einheiten festzustellen und neue Eigenschaften von Texten ans Licht zu bringen: „Die quantitative Herangehensweise fördert die Probleme ans Tageslicht, der Weg über die Form führt zu ihrer Lösung.“Footnote 13 Praktiziert wird somit ein „formalism without close reading“.Footnote 14

Allerdings sieht sich Moretti, wie er in seinem Aufsatz The Slaughterhouse of LiteratureFootnote 15 eingesteht, mit einem gravierenden Problem konfrontiert: Die Literaturgeschichte soll umgeschrieben werden, indem die Transformation literarischer Genres anhand einer möglichst großen Menge nicht-kanonisierter Werke analysiert wird. Die Fragestellungen, die an diese umfassende Menge von Texten herangetragen werden, wurden aber offensichtlich an dem einen Prozent kanonisierter und genau gelesener Werke entwickelt – ein Zirkel, der die Literaturwissenschaft um potenzielle innovative Fragestellungen bringt. Die literaturwissenschaftliche Gretchenfrage lautet also: Welches sind die dem Gegenstand – den literarischen Texten in ihrer Masse – adäquaten, innovativen Fragestellungen und Suchbegriffe?

Auf andere Weise als von Moretti wird diese Frage aus der Sicht des bereits erwähnten New Historicism bzw. der Kulturpoetik beantwortet. Wie dessen Konzept des Distant Reading geht auch die Kulturpoetik von einer radikalen Verbreiterung der historischen Materialbasis aus. Allerdings geschieht dies zum einen nicht so sehr im Hinblick auf Fragen wie die Transformation von Genres, sondern zum Zweck der kulturellen Kontextualisierung von Texten. Zum anderen ist – trotz der Größe des Archivs – nicht der makro-, sondern der mikroskopische Blick entscheidend. „Der New Historicist“, so formuliert Moritz Baßler in seiner 2005 erschienenen Untersuchung Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie,

will Texte geschichtlich, also in ihrem historischen Kontext lesen, weigert sich jedoch, den historisch-kulturellen Kontext eines Werks anders zu fassen denn in Form weiterer, je partikularer Texte. Genau aus diesem Grund gelingt es ihm, seine Lektüre trotz kulturwissenschaftlicher Ausweitung des Gegenstandsbereiches close zu halten, so mikrologisch genau, wie es eben nur der textanalytische Werkzeugkasten hergibt.Footnote 16

Die Lektüre hat also paradoxerweise zugleich ‚distant‘, makroskopisch an einer Masse von Texten einer Kultur und mikroskopisch-strukturalistisch zu erfolgen. Von entscheidender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang nun, die richtigen Fragestellungen und Suchbegriffe zu wählen. Die Kulturpoetik löst dieses Problem, indem sie, das poststrukturalistische Intertextualitätsmodell kulturwissenschaftlich-intermedial erweiternd, nach bestimmten Paradigmen in Texten sucht, diese aber zunächst in ihrem engeren syntagmatischen Kontext analysiert. Den Ausgangspunkt der Untersuchung bilden irritierende syntagmatische Kombinationen von Paradigmen, überraschende Kontexte in einem bestimmten Text. Von diesem Knotenpunkt innerhalb eines Textes aus werden ähnliche oder auf spezifische Weise abweichende Kookkurrenzen innerhalb anderer Texte des kulturellen Archivs gesucht.

Beide vorgestellten Ansätze, Distant Reading wie Kulturpoetik, bedürfen dabei, da sie sich umfangreichen Textkorpora zuwenden, elektronischer Hilfsmittel. Es handelt sich damit um Anwendungsgebiete der Digital Philology; durch die gewaltige Datenmenge ändern sich die Fragestellungen, die Möglichkeiten und Methoden der Untersuchung:

Durchsucht man mit technischen Mitteln einen Text von tausend Seiten nach dem Kontext, innerhalb dessen ein Wort verwendet wird, erledigt man dies etwas schneller, als es menschlichen Forschern, die dies mit dem die Zeile entlanglaufenden Bleistift ohne technische Unterstützung tun, möglich wäre. Tut man dasselbe informationstechnisch unterstützt in einer der großen digitalen Textsammlungen, die tausende Bände enthalten, erhält man Ergebnisse, die ohne diese Unterstützung nicht erzielt werden könnten. Dadurch werden Fragestellungen möglich, die ohne das Werkzeug nicht aufkommen können – die aber in weiterer Folge auch neue methodische Überlegungen erfordern können.Footnote 17

Distant Reading und Kulturpoetik sind zweifellos wichtige Bezugspunkte für diese methodologischen Überlegungen.

4 „Wie sich die Kombinationen […] verändern“: Ein Blick auf Modeblogs

Die angedeuteten methodologischen Perspektiven möchte ich am Beispiel des populärkulturellen Phänomens ‚Blog‘ genauer darstellen. Wie Kundenrezensionen, Mitmach-Plattformen und Fan-Fictions ist auch dieses Genre, ein elektronisches Hybrid aus Tagebuch und Journalismus, weit vom Verdacht entfernt, die Tradition der avantgardistischen Experimentalästhetik fortzuführen – das genaue Gegenteil ist zumeist der Fall. Der Blog ist eine populäre Form; wie die Fan-Fiction ist seine Funktion häufig die Selbstverständigung innerhalb einer Community. Experimentelle Blogs wie Die Dschungel. AndersweltFootnote 18 von Alban Nikolai Herbst sind die Ausnahme. Bei ihm handelt es sich um ein radikal subjektives Diarium, das der Autor seit beinahe 20 Jahren tagesaktuell online veröffentlicht. In Form eines elektronischen Arbeitstagebuchs macht er seine literarische Produktion als work in progress interaktiv zugänglich; neben konsequenter Verlinkung und multimedialen Elementen verfolgt Herbst, der innerhalb des Blogs verschiedene Identitäten und Pseudonyme annimmt, das ästhetische Programm einer Fiktionalisierung der Wirklichkeit unter den Bedingungen der elektronischen Medienkultur; User*innen, die sich auf die Anschlusskommunikation einlassen, werden Teil der fiktionalen Dschungel. Anderswelt. Das Internet wird vom Autor vor diesem Hintergrund zum „phantastischen Raum“ erklärt: „Alles wird hier Literatur und der Autor selbst zur literarischen Figur, die mit anderen, teils realen, teils ebenfalls erfundenen Figuren ein Netzwerk aus Avataren Kommunikatoren bildet.“Footnote 19

Der weitaus größte Teil der gegenwärtigen Blogosphäre ist ästhetisch bei Weitem nicht so spektakulär wie Die Dschungel. Anderswelt – und doch für den/die Literatur- und Kulturwissenschaftler*in nicht weniger aufschlussreich. Analysiert wurden sie bislang zumeist aus linguistischer korpus- bzw. textsortenanalytischer,Footnote 20 diskurstheoretischerFootnote 21 und literatursoziologischerFootnote 22 Perspektive. Auch für aktuelle Forschungsgebiete wie Populärkultur oder Konsumästhetik stellen Blogs umfassendes Material bereit. Dabei ist eine möglichst große Spannbreite an Formen in den Blick zu nehmen – von Literaturblogs über Mode- und Lifestyleblogs bis hin zu Sport-, Hobby- und Reiseblogs. Gerade eine Beschäftigung mit diesen Formen verspricht, die ‚soziale Energie‘ – die populären Diskurse einer Zeit – in den Blick zu bekommen.

Konstitutiv für Blogs, wie ja bereits für die traditionellen Vorläufer ‚Tagebuch‘ und ‚Tagesjournalismus‘, ist ihre zumeist hohe Frequenz – im Idealfall verfasst ein*e Blogger*in täglich oder mehrmals täglich neue Einträge. Blogs besitzen also, auf welche Weise auch immer, jene von Baudelaire benannten Insignien der Modernität, „das Vergängliche, das Flüchtige, das Zufällige“.Footnote 23 Gerade die scheinbare Beliebigkeit und Kurzlebigkeit, die der Kommunikation im Internet gerne vorgeworfen wird, gilt es in den Blick zu nehmen. Im Folgenden konzentriere ich mich daher auf eine Form des Blogs, deren inhaltliche Ausrichtung exakt diesem Muster entspricht und es somit gewissermaßen verdoppelt: den Modeblog. Der Anfang dieses Genres wird auf das Jahr 2002 datiert,Footnote 24 2015 wurde die Zahl der Modeblogger*innen allein in Deutschland auf 5000 geschätzt, wobei etwa 200 von ihnen von den finanziellen Einnahmen aus dem Bloggen leben konnten.Footnote 25

An Modeblogs sind zentrale Tendenzen jener fundamentalen medien- und kulturgeschichtlichen Veränderungen abzulesen, die das Internet mit sich bringt. Hingewiesen wurde darauf bereits 2010 in einem ZEIT-Artikel unter dem Titel Mode als Dialog. Wie das Internet Modekonsumenten zu Gestaltern macht.Footnote 26 Bereits die Überschrift zielt auf das für das Medium konstitutive Moment der Interaktion: „In allen möglichen Bereichen hat das Internet Menschen von passiven Konsumenten zu Gestaltern gemacht. Auf Facebook werden sie zu Netzwerkern, eBay macht sie zu Händlern – und die Modeblogs haben in den letzten Jahren unzählige Stilkritiker hervorgebracht.“Footnote 27 Damit verläuft Mode nicht mehr, diskursiven Exklusionsmechanismen folgend, primär in eine Richtung, von den Modeschöpfer*innen und -firmen, vermittelt über Modejournalist*innen, hin zu den Konsument*innen; vielmehr partizipieren diese selbst aktiv und öffentlich gut sichtbar am Diskurs, indem sie in Blogs Mode thematisieren: „Früher war Mode ein Monolog, jetzt ist sie ein Dialog.“Footnote 28 Damit ändert sich zugleich – wiederum medientypisch – die Geschwindigkeit. Früher, so der Verfasser des ZEIT-Artikels Tillmann Prüfer, hatte „die Modeindustrie […] ihren eigenen Rhythmus. Sie bestimmte, wann der Stil zum Menschen kam. Sie bestimmte, wer die Entwürfe sehen und damit auch, wer sie bewerten durfte.“Footnote 29 Mit der Aufgabe der kommunikativen Exklusionsprinzipien geht die Beschleunigung einher: „Nun haben die Luxusmarken ihr öffentliches Bild nicht mehr allein in der Hand. Sie müssen lernen, mit den Massen zu spielen. Denn die Zeiten, als Geschmack eine Frage von Experten und Hochglanzmagazinen war, sind vorbei. Noch bevor die erste Stilkritik gedruckt ist, wird die Mode in Blogs diskutiert, vergöttert oder verrissen.“Footnote 30

Die ‚Demokratisierung‘ der Mode geht jedoch noch einen Schritt weiter: Die Blogger*innen berichten nicht nur über neuste Modetrends, sondern schaffen eigene Mode. Indem sie über ihre individuellen Vorlieben, ihren eigenen Stil berichten – und zugleich auf den dazugehörigen Fotografien als ihre eigenen Models fungieren –, wird die Mode zumindest in der Tendenz so vielfältig wie die Masse der Akteur*innen, die über sie berichten. Abwechslungsreich sind dabei nicht nur die individuellen Stile, vielfältig ist auch jeder Stil in sich:

Die Blogger spiegeln nicht nur die Mode, sie schaffen ein neues Bild von ihr. […] [Sie] bilden nicht einfach Trends ab. Sie zeigen Leute, die ihre eigene Mode schaffen: Kompositionen aus Designerteilen, Secondhand- und Kaufhausware. […] Die Jacke von Comme des Garçons wird zur H&M-Jeans getragen, das Gucci-Jackett zu Schuhen von Converse. Die Botschaft: Jeder ist sein eigener Trend.Footnote 31

Man könnte, in einer etwas vorschnellen Analogie, auch sagen: Jedes Model wird zu einer Ansammlung von Links, zu einem Knotenpunkt von Diskursen. Ist Mode – auf den drei Ebenen der realen Kleidung, der textuellen Beschreibung und der fotografischen Wiedergabe bzw. Inszenierung, wie bereits Roland Barthes gezeigt hat,Footnote 32 ein überaus komplex codiertes syntaktisch-semantisches Phänomen, so entspricht die an den Individualtrend-Blogs abzulesende Komplexitätssteigerung derjenigen des Mediums ‚Internet‘: Alles ist mit allem verknüpfbar. Wie die Kleidung, so folgen dabei auch die einzelnen Blogeinträge den Prinzipien ‚Crossover‘ und ‚Patchwork‘. Das möchte ich an einigen Beispielen erläutern.

Werfen wir zunächst einen Blick auf den Blog Journelles. Er ist nach eigenen Angaben

das grösste deutschsprachige Modeblogazine und liefert täglich aktualisiert die schönsten News und Inspirationen aus der Modewelt, nimmt die Leser mit auf Reisen um den ganzen Globus und beschäftigt sich mit den wichtigsten Beauty- und Wohn-Trends. Mit dem Autoren-Netzwerk bestehend aus Journalisten, Einkäufern und Designern liefert Journelles Outfits, Karriere-Interviews, Interior-Inspirationen und aktuelle Trendjournale.Footnote 33

Der Perspektivenreichtum (im Sinne einer hohen Anzahl an Beiträgerinnen),Footnote 34 aber auch der intendierte Charakter der ‚Normalität‘ und Alltäglichkeit werden besonders in der Rubrik JOURgarderobe: Closet Diary deutlich. Hier wird die klassische Form des Tagebuchs aufgegriffen, eine Woche lang berichtet eine Gastbeiträgerin Tag für Tag über ihr Privat- und Arbeitsleben sowie insbesondere über die getragene Kleidung. Das Ganze ist durch Modeaufnahmen reich bebildert, und unter jedem Eintrag findet sich nochmals die Liste der getragenen Marken: „Tasche: Fendi (via Vestiaire Collective), Schuhe: Céline (via Vestiaire Collective), Hose: Maison Margiela, Shirt: Vintage, Jacke: Levi’s (Vintage)“.Footnote 35

Dass es mit dem Perspektivenreichtum (im Sinne eines tatsächlich andersartigen Blickwinkels) allerdings nicht ganz so weit her ist, geht daraus hervor, dass auch die Gastbeiträgerinnen eng mit der Branche verknüpft sind. In diesem Fall stammt die Produktliste von der „40-jährige[n] Siliva Philipp. [Sie] […] ist Inhaberin und Geschäftsführerin der Agentur Philipp Seine Helden in Köln. Mit ihrem 20-köpfigen Team betreut sie namenhafte [sic] Kunden aus dem Beauty- und Lifestylebereich wie z. B. L’Oréal oder Schwarzkopf und deckt vom Fotoshooting bis hin zum Packaging-Design über Social-Media sämtliche Bereiche der Kommunikation ab.“Footnote 36 Entsprechend verläuft ihr Tag zwischen Teambesprechungen, Kundenterminen, Fotoshooting, Fitness-Studio, Netflix, Sushi und Baby Calamari. Was aber verbirgt sich hinter der Produktliste für den Dienstag-Eintrag ihres Wochen-Tagebuchs? Hier der Volltext:

Mein Look an diesem sehr normalen Dienstag? Alltagstauglich, aber mit Akzenten. Das Sesamstraßen-T-Shirt habe ich während eines Türkeibesuches bei Freunden gekauft. Damals habe ich noch studiert. Bis heute trage ich es unglaublich gerne und beobachte über die Jahre, wie sich die Kombinationen damit verändern. Die Jeansjacke habe ich in einem Secondhand-Laden in Berlin gekauft.Footnote 37

Alles ist dezidiert normal und alltäglich, aber „mit Akzenten“, folgt also dem Grundprinzip ‚Norm plus Abweichungen‘: Zu den aktuellen Marken Fendi, Céline, Maison Margiela und Vintage kommt als Störfaktor die Sesamstraße hinzu (s. Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

„Alltagstauglich, aber mit Akzenten“: Das Sesamstraßen-T-Shirt (https://www.journelles.de/jourgarderobe-close-silvia-philipp/)

Sie öffnet auch zeitlich eine zusätzliche Ebene, indem das Sesamstraßen-T-Shirt auf die eigene Studienzeit zurückverweist (wie die Secondhand-Jeansjacke auf eine frühere Besitzerin), also im Gegensatz zu den Markenartikeln nicht in der platten Gegenwart, im konsumästhetischen Netz aktueller Marken verhaftet bleibt, sondern autobiographische ‚Tiefe‘ verströmt. Die Sesamstraße ist das Bleibende, der – hinter die Studienzeit auf die Kindheit zurückverweisende – kontinuitätsstiftende Bezugspunkt, während alles andere sich in stets neuen „Kombinationen […] veränder[t]“. Der Individualstil mischt hier also nicht nur Verschiedenartiges, er blendet auch Neues, Aktuelles über die Tiefe der Zeit, über Populärkultur-Klassiker. Dabei liefert gerade nicht das aufregend Aktuelle, sondern das Altbewährte die „Akzente“. Als aus der relativen Homogenität aktueller Marken herausfallender Störfaktor ist die Sesamstraße im Kontext des Closet Diary ein Beispiel für jene überraschenden syntagmatischen Kombinationen von Paradigmen, die für die kulturpoetische Untersuchung relevant sind. Die spezifische Verknüpfung von Fendi, Céline, Maison Margiela und Vintage auf der einen sowie der Sesamstraße auf der anderen Seite bildet den Knotenpunkt innerhalb dieses Texts, von dem aus nach ähnlichen – und deshalb nicht mehr ganz so überraschenden – Irritationsmomenten in anderen Texten gesucht werden kann.

In der Tat erzielt der Suchbegriff ‚Sesamstraße‘ nicht nur in diesem Modeblog zahlreiche Treffer. Zumeist tritt sie dabei nicht als T-Shirt-Motiv auf, vielmehr rufen bestimmte Kleidungsstücke entsprechende Assoziationen hervor: „Meine neue Lieblingsjacke von Stine Goya lässt mich wie frisch aus der Sesamstraße gehüpft aussehen, aber ich liebe das Teil! Und es ist soooo flauschig. Dazu trage ich Nike Air Force 1, Topshop Jeans, Hut von Maison Michel und eine Tasche von Chloé.“Footnote 38 Was hier nur erneut bewusster Irritationsfaktor innerhalb des Patchworks ist, besitzt in einem weiteren Eintrag wiederum eine zeitliche Tiefendimension:

Manche Kleider erwecken sofort Kindheitserinnerungen. So geschehen bei meinem Kleid von Carven. Wer muss nicht an Grobi aus der Sesamstraße denken? Einer meiner Lieblingscharaktere und deshalb natürlich auch sofort mein Lieblingskleid.

Heute ist es noch zu heiß, um es zu tragen. Es wird aber in den nächsten Wochen zum Einsatz kommen. Wie Jessie freue ich mich auch auf ein paar kühlere Tage, denn das Leben mit Babybauch ist bei den ungewöhnlich heißen Temperaturen doch ein wenig beschwerlicher. In jedem Falle wird das Sesamstraßenkleid samt Kugel in nächster Zeit am liebsten mit meinen Sneaker [sic] von Ports1961 ausgeführt. Wenn das Baby von innen gucken könnte, würde es sich sicher freuen und leise summen: Mana Mana.Footnote 39

Die Kontinuität erstreckt sich hier von der eigenen Kindheit über das aktuelle Kleid von Carven (Abb. 2) bis hin zur sich im embryonalen Stadium befindenden folgenden (Kinder-) Generation. Der/die Leser*in des Blogs seinerseits/ihrerseits wird so sehr in den Diskurs einbezogen, dass er/sie am Ende des Beitrags den Mana-Mana-Song als YouTube-Video abspielen kann.

Abb. 2
figure 2

Mana Mana, generationenübergreifend. (https://www.journelles.de/jourlook-sesamstrassenkleid-von-carven/)

In einem weiteren Eintrag identifiziert sich die Bloggerin mit dem „Reporterschaf Wolle aus der Sesamstraße! Auffällig oft lassen sich meine Outfits in jüngster Zeit mit Figuren aus der Kindersendung vergleichen.“Footnote 40 Neben Kindheit und nostalgisch-anachronistischem Populärkult-Status darf hinsichtlich der Sesamstraße auch der Diskurs der Homosexualität nicht fehlen. So wird im Modeblog Jane Wayne – „ein Blogzine für Modeverliebte, für Träumer*innen, junge Frauen, die vor allem sich selbst gefallen wollen, statt dem Rest der Welt, für all jene, die gern entdecken, diskutieren, hinterfragen und staunen“Footnote 41 – im August 2011 über die Petition des „Schwulen-Aktivist[en] Lair Scott“ berichtet, der „von den Sesamstraßen-Machern forderte, Ernie und Bert mögen sich nun endlich outen.“Footnote 42

Auf eine Metaebene gehoben, wird der Sesamstraßen-Diskurs im Modeblog C’est ClairetteFootnote 43 der auch für die FAZ und DIE ZEIT publizierenden Modejournalistin Claire Beermann. Auch sie posiert mit einem „Oberteil […], in dem ich aussehe wie eine Figur aus der Sesamstraße.“Footnote 44 (s. Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

„Wie eine Figur aus der Sesamstraße“. (http://cestclairette.com/2014/10/schlaghosen-sind-wie-schlagsahne/)

Wieder geht es im Fall dieses Individualstils um eine bewusste Ästhetik der Abweichung: Das Oberteil

ist blau, aus Jeansstoff, gefranst, asymmetrisch geschnitten, hat ein Vermögen gekostet und setzt alle Regeln des guten Geschmacks außer Gefecht. Ich musste es haben, es war so schön anders. Mal was Neues. Nach diesem Motto versuche ich immer wieder meine irrationalen Einkäufe zu rechtfertigen. Viel Geld für etwas total Ausgefallenes auszugeben ist meiner These nach nichts weiter als schlaues Investment in eine brillante Innovation, kurz bevor sich die Massen darauf stürzen. Dieses Dilemma beschäftigt mich immer wieder: welche [sic] Investition hat mehr Wert? Die Innovation oder der Klassiker? Das Verrückte oder das Traditionelle? Klassisch – was heißt das überhaupt? Im New Yorker MoMa hängen im 5. Stock Gemälde von Willem de Kooning, der abstrakte Pinselstriche mit gefletschten Zähnen gemalt und das Ganze dann mit so scheinheiligen Titeln wie Woman versehen hat. Diese Bilder bezeichnen wir heute als Klassiker – nicht klassisch im Sinne einer antiken Zeus-Statue, aber klassisch, weil sie verschiedene Stilphasen überdauert und mit den Jahrzehnten immer mehr an Bedeutung gewonnen haben. So wie die Pelzjacke meiner Großmutter, die sie sich in den 70er Jahren maßschneidern ließ und die ich neulich mal überwerfen durfte. Wird meine Enkelin irgendwann wohl auch mein gefranstes Jeans-Oberteil anprobieren?Footnote 45

Das Kleidungsstück setzt die „Regeln des guten Geschmacks“ außer Kraft, es ist „so schön anders“, indem es auf einen anderen Diskurs anspielt, anstatt dem Code aktueller Modemarken dem Retro-Code einer Jahrzehnte alten Kinder-Fernsehserie gehorcht.

Für Claire Beermann resultieren daraus grundsätzliche modetheoretische Fragestellungen:

Wieso werden manche Dinge – Gemälde von de Kooning, Pelzjacken, schwarze Blazer, Nutella, Zahnpasta von Elmex, Rennwagen von Porsche, Plattenspieler, Yves-Saint-Laurent-Trenchcoats, Bonnie & Clyde – zu Klassikern und andere nicht? […] Und wo liegt eigentlich der Unterschied zwischen klassisch und normcore? Sind Nutella, Elmex Zahnpasta, steak frites und schwarzer Blazer neben ihrer Tätigkeit als Klassiker nicht auch irgendwie total normal?Footnote 46

Das Spannungsfeld besteht hier aus den Begriffen ‚innovativ‘, ‚klassisch‘ und ‚normal‘. Das Innovative hat möglicherweise das Zeug zum Klassiker, ohne dass ein solcher Erfolg voraussagbar wäre, während das Klassische Gefahr läuft, schlicht konventionell zu sein. Claire Beermann reflektiert die Frage, die im Fall des Sesamstraßen-T-Shirts der Werbeagentin Siliva Philipp implizit blieb; hier werden die drei Kategorien übereinander geblendet: Die Sesamstraße ist ein normaler Klassiker, während ein Oberteil, das aussieht wie aus der Sesamstraße, erstens ironisch an diesem Status partizipiert, zweitens dadurch irritiert, dass es dieses Zitat in den ‚falschen‘ Kontext aktueller Mode setzt, und drittens genau durch diese Irritation so innovativ sein möchte, dass es zum Klassiker werden könnte.

Die Sesamstraße wirkt im Kontext von Modeblogs als Irritationsmoment; wir stoßen auf die merkwürdige syntagmatische Verknüpfung von Paradigmen, die höchst unterschiedlichen Diskursen entstammen. Nun nennt Claire Beermann in ihrem von der Sesamstraße ausgehend das Klassiker-Problem diskutierenden Beitrag Schlaghosen sind wie Schlagsahne aber eine ganze Reihe weiterer Paradigmen, die, zwischen Normalität und Klassiker-Status changierend und dem Innovationsanspruch der Mode widersprechend, auf einer Linie mit der Kinderserie liegen, darunter die MarkenFootnote 47 Elmex und Nutella.

Interessieren wir uns für irritierende Verknüpfungen, so haben wir durch diese Ansammlung von Schlagwörtern in einem Modeblog Suchbegriffe für die weitere Beschäftigung mit dieser Textsorte erhalten. Wir gelangen von der Kombination ‚Mode, Sesamstraße und Nutella‘ im einen Text etwa über den Suchbegriff ‚Nutella‘ zu weiteren merkwürdigen Befunden der Kookkurrenz von Marken-Nostalgie und modischem Trend. Auch hier kann die Verknüpfung sehr unauffällig daherkommen, so im Fall der Closet Diary-Gastbeiträgerin Kathrin Bommann, einer „Produktmanagerin und Einkäuferin“, die zu berichten weiß, sie frühstücke „im Büro erstmal ein feines Brötchen mit Nutella, natürlich!“Footnote 48

Auch dieser Marken-Klassiker wirkt als diskursiver Knotenpunkt. Zum einen assoziieren die Blogerinnen damit eine heile Welt der Kindheit, in der alles noch weniger kompliziert und überschaubarer war. Anlass dazu gibt im Blog Jane Wayne die im Rahmen eines Produkt-Adventskalenders vorgenommene Präsentation des Samsung Serif TV, eines Fernsehers, „der durch seinen geschwungenen Körper schon jetzt zum Klassiker avanciert: Ohne qualitative Einbußen, dafür mit ganz viel Gespür, mit allem, was solch ein Apparat heute können muss und mit bestem Verständnis für Design im Gepäck.“Footnote 49 Das Gerät weckt zugleich Erinnerungen an die Kindheit:

Früher einmal, da gehörte ein Fernseher zur Grundausstattung eines jeden Wohnzimmers, war mehr als bloß Flimmerkiste, sondern vielmehr Statussymbol, Berieselungsmaschine und Unterhaltungsmittelpunkt zum Anknipsen. Er war Familienmagnet, manchmal sogar -Mitglied [sic], und sorgte verlässlich jeden Samstagabend dafür, dass wir es uns bepackt mit unseren Nutella-Broten auf dem Sofa gemütlich machten: Der Fernseher, ach der Fernseher. Irgendwann allerdings wurden wir groß, die treue Röhre immer flacher und das TV-Programm hielt auch nicht mehr das, was uns die Hörzu einst versprach.Footnote 50

Nutella wird hier zum Symbol der Regression, der Sehnsucht nach einem verlorenen medialen Mittelpunkt, nach einer Zeit, in der die Familie magnetisch zusammengehalten wurde und die Hörzu verlässlich Rat gab – deutlicher könnte der Gegensatz zur absoluten Vielstimmigkeit des Internet nicht sein.

Weitere Diskurse, mit denen die Marke verbunden wird, sind Gesundheit und Figur. So heißt es auf Jane Wayne unter der Rubrik Beauty in einem Beitrag mit dem Titel Mein Masterplan für reine Erwachsenenhaut, den Zusammenhang von ungesunder Ernährung und Hautproblemen könnten „wir auch gut an uns selbst beobachten, wenn wir mal wieder zu tief ins Nutellaglas geschaut haben“.Footnote 51 Auch im Blog Journelle wird mehrfach die Beziehung zwischen Nutella und weiblichen Figurproblemen und damit wiederum zum Mode-Diskurs hergestellt; unter dem Schlagwort „Clean Eating“ heißt es: „34 gibt’s nicht mit Nutella.“Footnote 52

Komplexer sind die Verknüpfungen, und damit kommen wir zum Ausgangspunkt unserer Suche nach Nutella in Modeblogs zurück, wiederum im Blog C’est Clairette. Der Zusammenhang von Mode und ungesundem Essen wird hier ironischerweise gerade umgekehrt, denn „Mode macht hungrig“ – und arm: „Wer sich bei Opening Ceremony in den Ruin gekauft“ habe, müsse eben Fastfood wie mit „Nutella gefüllt[e]“ Teigfladen essen.Footnote 53 Der Ernährungs- und Schlankheitswahn wird ironisiert, wenn darauf hingewiesen wird, „dass das Leben mit Nutella-Brot und Spaghetti Napoli mehr Spaß macht als ohne“.Footnote 54 Die Kindheit wird als eine Lebensphase dargestellt, in der weibliche Körperideale noch keine Rolle spielten: „Als ich 5 Jahre alt war, naschte ich mittags nach dem Kindergarten aus dem Nutella-Glas und trank Vollmilch mit Himbeersirup. Wie meine Figur aussah, interessierte mich überhaupt nicht.“Footnote 55 Es geht somit weniger um die regressive Sehnsucht nach einer heilen Kindheit als vielmehr um die Ablehnung von Geschlechter-Stereotypen und Körperidealen. Die Bedeutung als Rettungsanker erhält die Marke hier interessanterweise in der Phase der Adoleszenz, im spannungsvollen Zusammenspiel mit Koffein und Schmerzmedizin: „I began drinking coffee regularly around the time I started going out and having hangovers, which I cured with the magic combination of one Ibuprofen, two Nutella toasts and three cups of coffee so strong a spoon could stand erect in the mug (almost).”Footnote 56

Die diskursiven Verknüpfungen, die sich ergeben, wenn in Modeblogs eben nicht nur aktuelle Modelabels, sondern auch Marken-Klassiker angeführt werden, möchte ich abschließend noch anhand von zwei Produkten demonstrieren, deren Konnotationen so komplex wie idiotisch sind, indem sie als ‚Südworte‘ einen traditionellen Sehnsuchtsort evozieren: Capri-Eis und Capri-Sonne. Capri ist als Markenbezeichnung, zumal im Zuge des Retro-Kults, wie Nutella ein echter Klassiker der deutschen Konsumkultur. Die Süddeutsche Zeitung und die Wochenzeitung DIE ZEIT erwiesen dem Stieleis in den letzten Jahren in humorvollen Artikeln ihre Referenz.Footnote 57 Unter dem Titel Capri oder Split. Zwei Stieleis-Klassiker sind nach Badeorten in Italien und Kroatien benannt. Wo genießt es sich besser? Ein eiskalter Vergleich heißt es in der ZEIT:

Whiskytrinker pilgern nach Schottland, Trüffelsucher ins Périgord – wohin aber reist der Freund von Eis am Stiel? Natürlich nach Capri. Oder nach Split. Am besten nach Capri und Split. Das sind seit über fünfzig Jahren die Klassiker auf deutschen Eistafeln und noch immer die großen, die ganz großen Namen in der Welt der Stieleisesser. Wie nennt man solche Leute überhaupt? Stielies? Scheiden sie sich sogar in Untergruppen, in Splitologen und Capriccionados? Ich bin jedenfalls beides und weiß es zu schätzen, dass der Hersteller Langnese Modellpflege betreibt.Footnote 58

Auch diese Markennennungen bewirken neben der Sehnsucht nach Sommer, Sonne und Hitze die Regression in die heile Konsum-Welt der Kindheit, die wiederum auch auf die nächste Generation der eigenen Kinder projiziert wird. Im Blog Jane Wayne werden im Rahmen der Kolumne 10 Random Facts about … die Zukunftsträume der als Online-Editorin und Social Media Consultant tätigen Scalamari Jane vorgestellt: „Nicht jetzt sofort – aber bald“ wünscht sie sich „ein Haus im Grünen, im bürgerlichen Part von Berlin, ungefähr so, wie und wo ich auch aufgewachsen bin – eine richtig spießige Angelegenheit wird das werden – so mit Hund und mega coolem Kind (auf keinen Fall trilingual erzogen und immer, immer mit Caprisonne in der Hand)“.Footnote 59

In einem anderen Fall wird Capri-Sonne sogar zur literarisch gewagten Metapher für die Jugendliebe:

Atemlos sitze ich am Küchentisch und starre auf das verblasste Foto, das neben all dem dreckigen Geschirr wie eine Oase wirkt. Er hält mich im Arm und ich einen Joint in der Hand, es ist Sommer, zwei Caprisonnen lehnen aneinander als könnte sie nichts jemals trennen. Noch mal 14 sein.Footnote 60

Für die Modebloggerinnen gehört die Capri-Sonne zum Festhalten am Ideal des Mädchenhaften:Footnote 61

am Wochenende hatte ich einen Abend nur für mich allein, also tat ich, was ich gerne tue, wenn niemand stört, nämlich im Früher versinken, Fotos rauskramen und alten Freunden schreiben, an wilde Zeiten denken, mich fragen, ob es das Leben mit 17 mehr Sinn macht oder mit 26, Caprisonne trinken und Filme schauen, solche, die ich eigentlich längst gesehen haben wollte, aber nie dazu kam, weil das Erwachsenwerden immer wieder dazwischen grätschte. […] Ich glaube […], als Mädchen hörst du niemals auf Mädchen zu sein, selbst wenn andere schon „Frau“ zu dir sagen.Footnote 62

Gerne wird das mädchenhafte Image auch durch Selfies mit Capri-Sonne unterstrichen (s. Abb. 4).Footnote 63

Abb. 4
figure 4

Die heile Konsum-Welt der Kindheit: Capri-Sonne. (http://www.thisisjanewayne.com/news/2014/05/13/insta-diary-unsere-bilder-der-woche-4/)

Dass es sich um einen Diskurs mit Überlappungen zur Modeszene handelt, geht daraus hervor, dass eine Bloggerin als „Fashion Show-Ticket-Gewinnerin […] ein Paket Capri Sonne Kirschgeschmack“ erhält (s. Abb. 5).Footnote 64

Abb. 5
figure 5

Glückliche Gewinnerinnen. (http://www.thisisjanewayne.com/news/2012/11/09/44440/)

Im Fall von Capri-Eis ist der Bezug zur Mode durch die Konnotation ‚Sommer‘ hergestellt:

Es kitzelt bereits in unserer Nase und kündigt sich lang ersehnt, unaufhaltsam an: Der Sommer steht in den Startlöchern! […] Denke ich an heiße Sommertage, kommt mir unweigerlich Zitronen-Eis in den Sinn, eisgekkühlte [sic] Limonade, spritziges Capri-Wassereis, kühle Verstecke und luftige Kleidung in den Sinn [sic]. Und noch nie, und damit schließe ich Kindertage an dieser Stelle aus, war mir der Sinn nach Stücke [sic], die Früchte zieren – gängiger waren da schon die zahlreichen Blumenmuster.Footnote 65

Manche Modeaccessoires werden direkt mit dem Eis verglichen, so die limitierte Sonnenbrille Arancia, „die euch beim Aufsetzen sofort an Capri-Eis, Orangenplantagen, Italien-Urlaub und schönste Sonnenstunden erinnern soll.“Footnote 66

Andere Modeartikel heißen bereits wie das Eis, so die Capri-Hose oder die Brille Modell Capri von Ace & Tate. Capri steht dabei – in krassem Gegensatz zum Mainstream-Wassereis – für mondänes Leben und Celebrities; so wird im Sommer 2016 mehrfach über die Hochzeit des Immobilientycoons Oscar Engelbert auf Capri berichtet. Das dient als Vorbild für alle Akteurinnen der Mode-Community, die selbst berühmt werden möchten. Im Rahmen von Tipps, wie man zum Instagram-Star aufsteigt, wird daher großer Wert auf das mondäne Setting gelegt:

Also immer schön überlegen, welche Klamotten vor welcher Kulisse funktionieren könnten. „Der Hintergrund und das Outfit müssen stimmig sein“, schreibt Aimee. So ist auch das folgende Foto vor dem Taj Mahal in einem Rüschenkleid von Anna October und goldenen Jimmy Choo Pumps alles andere als zufällig entstanden, ebenso wenig wie die Streetstyle-Fotos aus Paris, New York oder Capri.Footnote 67

Auch im Blog C’est Clairette ist Capri ein StatussymbolFootnote 68 und ein Traumort für das Ideal modischer Leichtigkeit. Spezielle Modeartikel führen zur bewussten Imagination von Anlässen und Orten, an denen sie getragen werden könnten:

Bei nahezu jeder Show, der ich selig beiwohnen darf, fällt mir jeweils eine passende Situation für dieses oder jenes Outfit ein: bei [sic] der glamourös-lässigen Poolparty im Stil der Siebziger [sic] Jahre auf Capri würde ich selbstredend in einer weißen, luftigen Marlenehose aus Seide von Escada Sport, oder vielleicht auch im apricot-farbenen Maxikleid von Rena Lange aufkreuzen […].Footnote 69

Diese Assoziationen bleiben erhalten, wenn es wiederum zur Kreuzung zwischen Modeblog und der populären Eismarke Capri kommt. Für den/die Kulturhistoriker*in, der/die in einigen Jahrzehnten etwa dem Lebensgefühl des Frühjahrs 2015 zwischen dicht aufeinanderfolgenden Schlechtwetterlagen und Griechenland-Krise auf die Spur kommen möchte, dürften der Blogeintrag vom 30. Mai 2015 Badeanzug auf Abwegen. Berlin ist eben nicht Brindisi und die ihn illustrierenden Fotos der in urbanem Setting demonstrativ im Badeanzug vor einer antiken Statue posierenden Clairette wertvolles Material bieten (Abb. 6).

Abb. 6
figure 6

(http://cestclairette.com/2015/05/badeanzug-auf-abwegen/)

Im Einsatzgebiet

Dabei ist erneut eine Untersuchung bis auf die Mikroebene einzelner Lexeme notwendig; nicht nur für eine konsumästhetische Untersuchung ist es so von Interesse, dass sich in Claire Beermanns Lifestyle-Blog die paradoxe Formulierung findet, die Zuversicht auf den Sommer sei „geschmolzen wie ein Capri-Eis in der Julisonne“.Footnote 70

Solche augenzwinkernden Spiele mit der Marken- und Konsumkultur verleihen dem Blog den Effekt der Leichtigkeit und eine Aura der Zeitgenossenschaft. Sie laden den Text semantisch auf, indem erneut ein reizvolles Spannungsverhältnis zwischen Haute Couture und Populärkultur entsteht. Im Fall von C’est Clairette kann die glatte Eleganz des Modeblogs nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Reiz, den hier die Artikulation von Zeitgenossenschaft ausübt, aus der Heterogenität des verwendeten Wortmaterials resultiert; die Faszination besteht gerade in der glatten Oberfläche, zu der er die unterschiedlichsten Diskurspartikel verwebt. Am Schluss des Artikels Badeanzug auf Abwegen. Berlin ist eben nicht Brindisi ist so die Rede davon, „das Repertoire an Einsatzgebieten von Badeanzügen radikal zu erweitern“.Footnote 71 Das Sprechen über Mode wird also nicht nur mit populärkulturellen Retro-Phantasien verbunden, hinzu kommt ein Vokabular, das auf militärische Auslandseinsätze in Krisengebieten und so auf die zeitgeschichtliche Situation des frühen 21. Jahrhunderts verweist.

Die Verweisstruktur der Begriffe ‚Capri‘ und ‚Capri-Eis‘ wird dabei im Blog selbst reflektiert:

Im Strandbad Wannsee liegt die italienische Riviera – man muss nur dran glauben. Eine erstaunlich großzügige Fläche feinen weißen Pulversandes, getupft mit sorgfältig aufgereihten, blau-weiß gestreiften Strandkörben. Dahinter ein hellbrauner Klinkerbau mit überdachter Promenade und allerlei Geschäften für die kleinen Bedürfnisse des Strandlebens: Gummiboote, Softeis, Pommes rot-weiß. […] Im Strandbad Wannsee steht die Zeit still; da herrscht so eine merkwürdige Atmosphäre mondäner Schäbigkeit, der braune Stein, die Markisen der Strandkörbe, schmelzendes Capri-Eis in der Sonne, Palmen in Blumentöpfen, ein paar Trauerweiden am Uferrand, Badegäste mit Käseblatt-Lektüre und all das gespiegelt im glattglänzenden Gewässer.Footnote 72

Berlin ist weder Brindisi noch Capri – das im Wannsee-Strandbad schmelzende Capri-Eis weist genau auf diese Differenz hin. Dem entspricht exakt das Motiv der eben nur auf den Süden verweisenden, in Blumentöpfen aufgestellten Palmen im Kontrast zu den tatsächlich am Uferrand wachsenden Trauerweiden. Wer sich nach dem Genuss von Capri-Eis sehnt, sehnt sich nach dem ausbleibenden Sommer und nach der wunderbaren Konsum-Welt der Kindheit; wer aber Capri-Eis konsumiert, ist wiederum gerade nicht in Capri. Wir befinden uns in einer endlosen Reihe von Verweisungen, von Aufschüben. Eben darin treffen sich womöglich die Versprechungen der Marken-Nostalgie mit den Versprechungen der Mode – auch wenn es äußerst Gegensätzliches ist, was sich hier trifft.

5 Zeitdiagnostik: Noch einmal zur literaturwissenschaftlichen Methodologie

Rekapitulieren wir noch einmal das Vorgehen in unserer selektiven Blog-Analyse und fragen vor diesem Hintergrund nach dem methodologischen Ertrag, um dessentwillen wir allein nach abstrusen Dingen wie Sesamstraße, Nutella und Capri-Eis in Modeblogs gesucht haben. Unsere Frage war, inwiefern es in diesen Texten zur Überkreuzung von Diskursen, etwa des Mode-Diskurses und der Marken-Nostalgie, kommt. Solche Überkreuzungen konnten wir immer wieder feststellen. Gerade sie sagten etwas über die Texte, deren Machart – und über die Zeit, in der diese dezidiert aktuellen Texte situiert sind, aus.

Wenn Georg Simmel zu Beginn des 20. Jahrhunderts prätendierte, den Henkel einer Vase als ästhetik- und kulturgeschichtliches Indiz einer Epoche interpretieren zu können,Footnote 73 so kann noch der scheinbar belangloseste Diskurspartikel in einem Blog auf seine zeitdiagnostisch-kultursemiotische Relevanz hin untersucht werden. Es ist, ganz im Sinne von Baudelaires ‚Moderne‘-Definition, wohl kein Zufall, dass wir solche Indikatoren für Zeitgenossenschaft gerade in einem Modeblog finden. Wer zeitgenössischen Diskursen und vor allem Diskurs-Verknüpfungen mikroskopisch auf die Spur kommen möchte, sollte also zum Beispiel Modeblogs analysieren.

Was aber bedeuten die Beobachtungen zum spezifischen Umgang mit Sprachmaterial in diesen Blogs für die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Literatur im Internet? Zunächst einmal besteht ein Vorteil ganz pragmatisch in der leichten und massenhaften Verfügbarkeit. Möchte man untersuchen, inwiefern die Verwendung und Verknüpfung von Sprachmaterial etwas über eine Zeit wie die unsere aussagt, so ist dieser pragmatische Vorteil – die Möglichkeit, in einem großen elektronischen Textkorpus zu suchen – von großem Wert. Ohne Suchfunktion wäre es schlicht unmöglich, in der von mir vorgeführten Weise Fragen an umfangreiche Korpora wie über Jahre hinweg geführte Blogs heranzutragen. Insofern handelt es sich im Kontext der Digital Philology also um eine Form des Distant Reading. Als Konsequenz der skizzierten Entwicklung weg vom elitären literarischen Experiment ermöglicht dies, sich auf adäquate Weise mit der Populärkultur, der ubiquitären literarischen Kommunikation im Netz zu befassen. Gerade in dieser Hinsicht sind literarische Praktiken im Internet in methodologischer Hinsicht interessant: als kulturelle Phänomene, die massenhaft Daten über Produktions- und Rezeptionsprozesse von Texten verfügbar machen.

Untersuchen wir aber das Funktionieren kommunikativer Prozesse, so analysieren wir immer auch die Machart von Texten. Bezeichnenderweise hat sich in unserer exemplarischen Beschäftigung mit Blogs auf diese Weise ein ergiebiges Untersuchungsfeld aufgetan: Symptomatisch erschienen dort nicht nur die Akte der Kommunikation, sondern die Texte in ihrer spezifischen Gemachtheit, die es in kulturdiagnostischer Hinsicht zu analysieren gilt. Ob und in welcher Weise Texte etwas über ihre Zeit aussagen, lässt sich nicht allein durch quantitative Analysen feststellen, so nützlich diese auch sind; von zeitdiagnostischem Wert sind vielmehr gerade die überraschenden Befunde, die ungewöhnlichen Kombinationen von Wortmaterial, in denen sich unterschiedliche Diskurse kreuzen. Vom einzelnen Knotenpunkt ausgehend, wird sodann innerhalb eines für den Einzelfall zu definierenden Korpus aus Texten des kulturellen Archivs nach vergleichbaren Verknüpfungen – Verlinkungen – gesucht. Das konnte ich in meiner Blog-Analyse nur exemplarisch vorführen.

Tatsächlich könnte die Aufgabe des/der kulturpoetisch arbeitenden Literaturwissenschaftlers/Literaturwissenschaftlerin im Rahmen der Digital Philology gewissermaßen darin bestehen, eine – beispielsweise mehrere Dutzend ausgewählte, über Jahre hinweg geführte Modeblogs umfassende – Textdatenbank in einen kommentierten Hypertext zu transformieren, also etwa merkwürdige Kookkurrenzen in einem Text zu markieren sowie in einem Text erwähnte Marken mit ihren Erwähnungen in einem anderen Text zu verlinken und die sich jeweils ergebenden semiotischen Effekte zu erläutern. Die literatur- und kulturwissenschaftliche Leistung besteht so darin, die Diskurse einer Zeit aufgrund einer möglichst großen Datenbasis durch möglichst innovative und dem Gegenstand angemessene Verlinkungen ‚lesbar’ zu machen. Eine Untersuchung, die literarische Phänomene im Internet auf diese Weise in ihrer ganzen textuellen Komplexität in den Blick nimmt, stellt eine adäquate Auseinandersetzung mit aktuellen literatur- und kulturwissenschaftlichen Problemen in Aussicht.

Der innovative Impuls gegenüber Morettis Methode des Distant Reading besteht dabei darin, dass nicht traditionelle, sondern innovative Fragestellungen oder Suchbefehle an die Texte herangetragen werden. Das setzt, nach dem Motto ‚erst finden, dann suchen‘, die exemplarische philologische Feinanalyse zumindest einzelner Texte voraus: Frage ich in zeitdiagnostischer Absicht nach Knotenpunkten von Diskursen, so muss ich sie zunächst im Kleinen finden, um in größeren Textkorpora nach ihnen suchen (lassen) zu können. Damit gilt: Digital Philology ersetzt keineswegs das mikroskopische philologische Handwerkszeug, aber auch: Digital Philology ermöglicht es der Literaturwissenschaft, sich neuen Untersuchungsfeldern wie populärkulturellen Phänomenen durch die Analyse großer Datenmengen in sinnvoller Weise zuzuwenden.