Neue Medien erweitern das Spektrum der Reproduktionsmittel von Inhalten, verdrängen dabei alte Medien oder konkurrieren mit ihnen. Ein neues Medium kann Inhalte und kulturelle Praktiken ans Licht bringen, die zuvor nur in Räumen einer restringierten Öffentlichkeit zu beobachten waren: etwa ein Konzert, das durch den Rundfunk übertragen wird. Neben einem reproduktiven Mehrwert kann es zudem generativ sein, d. h. die Möglichkeit, neue Inhalte und Formen hervorzubringen, kann folglich vom neuen Medium selbst induziert sein.

Auf Sprach- und Textmedien bezogen, meint dies, dass nicht nur bestehende Korpora umformatiert, sondern auch gänzlich neue generiert werden. Die Erfindung der Schrift hat neben die orale Poesiekultur ein skripturales Gegenstück gestellt. Große Teile der mündlichen Kultur wurden seit der Antike aufgeschrieben und auf chirographischen Buchrollen und Kodizes sowie in gedruckten Büchern bis in die Gegenwart als Literatur tradiert. In der Literaturgeschichte bildeten die kontinuierlichen Format- und Medienwechsel genuin literarische Gattungen wie den Roman aus, brachten aber auch immer sprachliche Praktiken bestimmter sozialer Schichten wie das Volkslied ans Licht der Literatur, die bis dato im Schatten einer performativen Mündlichkeit existiert hatten.

Im gegenwärtigen Wandel von analogen zu digitalen Medien tritt die performative Populärkultur des Rap in einen Wahrnehmungskreis, der deutlich größer als jener der Fankultur ist und epistemische Relevanz besitzt. Das Liedgut der populären Formation hat nicht einfach nur wissenschaftliche Aufmerksamkeit erhalten,Footnote 1 weil es zu lange vernachlässigt worden wäre, sondern weil es schlichtweg erst seit Kurzem in interaktiven und nutzergenerierten Hör- und Sehmedien wie YouTube präsent ist. Die Mediatisierung ist zum einen audiovisuell; zum anderen aber auch, da es sich primär um ein sprachliches Phänomen handelt, skriptural. Der digitale Medienumbruch hat die Liedkultur des Rap als Schrift lesbar werden lassen. Die Überführung ins Medium der Schrift, d. h. die Literarisierung, erfolgte dabei nicht von außerhalb durch wenige Akteure einer professionellen Kritik mit einem Faible für Populärkultur, sondern durch das Publikum selbst, an das sich die populärkulturellen Formen richten.

Zwar wurde die Rap-Kultur von ihren Anfängen an ediert,Footnote 2 aber erst seit den 2000er Jahren laden soziale Medien die gesamte Hörerschaft zur editorischen und auch kritischen Kommunikation ein.Footnote 3 Die transmediale und interaktive Struktur des Internet hat ein literarisches Korpus hervorgebracht, das in den analogen und gedruckten Medien des populärkulturellen Liedes keine quantitative Entsprechung findet.

War im Laufe des 19. Jahrhunderts der kleine Kreis der Leserschaft auf die gesamte Bevölkerung ausgedehnt worden, unterbreitet der gegenwärtige digitale Medienumbruch dieser Gesamtleserschaft das Angebot zur kritischen Teilhabe.Footnote 4 Wolfgang R. Langenbucher, der die zweite, quantitative Leserevolution ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts verlegt, interpretiert sie als Demokratisierung des Lesens.Footnote 5 Passive Teilhabe am gedruckten Wort würde den Befund nüchterner bezeichnen, da mediale und politische Teilhabe nicht notwendig konvergieren. In diesem Sinne wird die digitale Medienkultur als Partizipationskultur etikettiert.Footnote 6 Wie schon für die Lesegeschichte gilt auch hier, dass mediale Teilhabe nicht notwendig Demokratisierung bedeutet.

Die alle Lebensbereiche erfassende Laienkritik hat längst nicht nur die Literaturkritik des Feuilletons,Footnote 7 sondern auch die philologische Kritik der Fachwissenschaften erreicht. Deren Teilnehmer sind mit der Frage konfrontiert, ob und wie sie die Amateure einbinden. Vor allem die durch das textkritische Verhalten der Laien entstandenen Korpora stellen eine Herausforderung dar. Denn Laienphilologen laborieren nicht nur an der analogen Schriftüberlieferung, sondern bilden neue Korpora, die aus den medialen Gesetzmäßigkeiten des digitalen Raumes hervorgehen. Ihre kollaborative Praxis und ihre transmediale Perspektive bringen nicht nur neuartige, in bisherigen Kategorien schwer zu fassende Formen des ästhetischen Urteils hervor,Footnote 8 sondern auch formal wie inhaltlich neuartige ‚Literatur‘. Durch kollektive Verschriftlichung und kritische Erschließung des populärkulturellen Liedgutes entstand auf der Wissensdatenbank und interaktiven Plattform Genius (genius.com) ein derartiger epistemischer Gegenstand.Footnote 9

Am Anfang stand die Idee, anglophone Rap-Songs, die nicht nur bereits Muttersprachlern schwer verständlich sind, sondern auch als orales Phänomen kaum transkribiert worden waren, verfügbar und für jedermann kommentierbar zu machen. Rap-Liebhaber (Amateure) versorgten nicht mehr nur unilateral andere Freunde dieser Lieder mit Texten. Ebenso regte der Charakter des interaktiven Mediums die Nutzer an, an der Einspeisung von Texten und ihrer Kommentierung teilzunehmen. Seit 2009 ist eine Sammlung von Texten entstanden, die bereits Ende 2018 von über 100 Mio. Besuchern monatlich genutzt wurde.Footnote 10 Ende 2014 waren es noch 700.000 angemeldete Nutzer gewesen, die über 120.000 Songs eingespeist hatten mit drei Millionen Annotationen; nur zehn Prozent der Nutzer sind aktiv.Footnote 11 Schon früh hatte sich gezeigt, dass in einer nutzergenerierten Wissensdatenbank subjektive Vorlieben auf Dauer nicht den Maßstab bilden können. Denn nicht mehr nur Rap-Texte, sondern die Texte von Pop-Songs, ja von Volksliedern und Gedichten, Reden, Dramen und Romanen gingen in die Sammlung ein. Auch die Beschränkung auf die anglophone Kultur wurde aufgegeben. Die meisten Nutzer kommen aus dem nordamerikanischen Raum, es gibt daneben weitere Gemeinschaften wie die deutschsprachige, die frankophone oder die polnische. Die schriftliche Kommunikation über mündliche Poesie ist also tendenziell global angelegt. Darüber hinaus besteht ein zweites Ziel darin, einen Annotationsraum für das gesamte Web zu etablieren.Footnote 12 Auch die Selbstbegründung des Vorhabens durch einen Vergleich mit der Talmud-ExegeseFootnote 13 verweist auf höhere Ziele. Aus dem Rap-Genius, so der ursprüngliche Name, wurde „the world’s biggest collection of song lyrics and crowdsourced musical knowledge“.Footnote 14

Seit der Investition des Risikokapitalgebers Ben Horowitz ist die auf eine studentische Initiative zurückgehende Wissensdatenbank ein Wirtschaftsunternehmen, das durch Anzeigen finanziert wird und seit 2016 beispielsweise seine Daten an den Musikstreaming-Dienst Spotify verkauft.Footnote 15 Das wirtschaftliche Interesse am populärkulturellen Wissen beweist, dass der Prozess der Verschriftung nicht sekundäres Beobachterphänomen ist. Die laienphilologische Beobachtung in der Rap-Kultur gehört zu jenen ubiquitären Vorgängen, in denen Rezipienten – ob nun Bürger oder Spieler, Nutzer oder Konsumenten, Hörer, Leser oder Zuschauer – den kreativen, produktiven und distributiven Vorgang systematisch mitgestalten. Rezeption produziert Daten und regt Aktivität zugleich an. Medienökonomisch bedeutet dieser Vorgang, dass Rezipienten Teil der Kreativwirtschaft geworden sind. Für die Rap-Poeten verändert die Literarisierung ihrer performativen und oralen Kultur die bisherige Art zu texten. Ein zwar ob seiner Größe nicht zu überblickendes, aber elektronisch durchsuchbares Korpus ergänzt die ‚Quellen‘ des Rap und erhöht zugleich das intertextuelle Reflexionsniveau. Für Literaturhistoriker bedeutet die Verschriftung durch Amateure, d. h. Liebhaber bzw. Fans, das Aufkommen eines neuartigen literarischen Korpus: War Literatur zwar immer schon von ihrer Leserschaft her verstehbar, so waren doch mit ihrer Konstituierung und Herstellung vornehmlich Philologen und Verleger befasst. An Genius soll die neue kollektive Bildung von literaturgeschichtlich signifikanten Korpora vorgestellt und zugleich von kollektiven Praktiken der analogen Druckkultur abgegrenzt werden.

1 Für alle – von allen. Das populäre Lied-Korpus nach 1800 und nach 2000

Neue Gegenstände wissenschaftlicher Betrachtung stehen am Anfang der Disziplingenese. Objekte, für die kein Fach zuständig ist, werden zunächst als ein Liebhaberwissen kommuniziert, weshalb sich die initiale Motivation als eine erotische charakterisieren ließe. In dem Moment, in dem die Amateure auf Gleichgesinnte treffen, die in demselben Bereich Wissen begehren, entsteht ein sozialer und kommunikativer Raum als eine Wissensgemeinschaft. Die allmähliche Verfertigung der Disziplin beim Reden über ihre Gegenstände kann an der Germanistik beobachtet werden. Das Fach entstand in dem Moment, in dem aus Liebhabern mittelalterlicher Autoren und Werke zunächst Gelehrte und dann disziplinäre Fachleute wurden.Footnote 16

Die Sammel- und Urteilsfreudigkeit philologischer Amateure, die gegenwärtig in den digitalen Räumen beobachtet werden kann, lässt sich mit der romantisch inspirierten durchaus vergleichen. Die Disziplinbildung gestaltet sich heute freilich anders, da das Spektrum der medialen Formen der Populärkultur weit mehr umfasst als populäre Lieder. Mit der Institutionalisierung der Medienkulturwissenschaft in Deutschland zeigt sich zudem, dass Philologie und Literaturwissenschaft nicht unbedingt zuständig sind. Die Vergleichbarkeit liegt also weniger im Prozess der Disziplinbildung und mehr in dem der Verschriftung. Nach 1800 und nach 2000 setzte jeweils ein internationaler TranskriptionsprozessFootnote 17 ein, der bis dahin gesungene Lieder massiv in die schriftliche Kommunikation einspeiste.

Die Idee des Volksliedes oder der Sage ist die, dass ihre Überlieferung quasi von selbst stattfindet. Das Lied ist Volkslied, weil es vom Volk im Gesang tradiert wird. Es verbreitet sich in der Gemeinschaft idealerweise zwischen den Schichten und wird von Generation zu Generation fortgetragen. Philologen wie Johann Gottfried Herder oder Jacob Grimm waren als berufsmäßige Überlieferer fasziniert von der Vorstellung, dass die Überlieferung dem Anschein nach von selbst verläuft. Die Volksliedphilologen haben jedoch ihre eigene Rolle im Überlieferungsprozess kaum reflektiert. Ihre Verschriftung und Kommentierung hat zwangsläufig zur Literarisierung des Gegenstandes geführt und damit die kollektive nicht-schriftliche Überlieferung in Konkurrenz zu einer schriftlichen Überlieferung gestellt, die von Einzelnen oder kleinen Gruppen einer elitären Schriftgelehrsamkeit gesteuert wurde.

Der Unterschied zwischen beiden Epochen besteht u. a. darin, dass man als heutiger Beobachter populärer Tradierung die Verschriftung als konstitutiven Teil der Überlieferung anerkennen muss. Auch diesmal entsteht eine Konkurrenz zwischen nicht-schriftlicher und schriftlicher Tradierung des Liedes, doch erfolgt die Literarisierung nicht mehr durch wenige Schriftgelehrte. Die Lieder sind nicht mehr populär, weil sie von mündlichen Gemeinschaften tradiert würden, sondern in schriftbasierten Netzwerken, die von vielen Amateuren, Liebhabern bzw. Fans kontrolliert werden. Das Populäre hat den privilegierten Raum der Schriftgelehrten erfasst. Verbindendes Moment beider Epochen ist das Bewusstsein, der Kreis medialer Teilhabe würde sich entgrenzen.

Massenalphabetisierung, Industrialisierung des Buchdrucks, Leihbibliotheken und Periodika in Massenauflagen hatten nach 1800 zu einer allmählichen Ausweitung des literarischen Mediums auf die gesamte Bevölkerung geführt. Unterhaltungsliteratur in auflagenstarken Periodika und die Entstehung der Populärkultur waren die Folge.Footnote 18 Parallel dazu transformierte sich eine philologische Praxis, die zwar nicht auf die reale Gesamtleserschaft, aber doch auf ihr Idealbild abzielte. Herders globale VolksliederFootnote 19 waren der erste Stoß in diese Richtung; die Romantiker nach ihm beschränkten die populäre Trägerschaft stärker auf die Nation. Dadurch wurde die Erweiterung zugleich wieder räumlich begrenzt. Denn obgleich das Primärpublikum der Literatur vor 1800 ein kleines gelehrtes war, so war es doch universal und kosmopolitisch orientiert.Footnote 20 Der gelehrte Anspruch, eine die Gelehrtenwelt transzendierende Leserschaft anzusprechen, konnte in einer Kultur attraktiv werden, die erkennt, dass zum einen nicht mehr ein kleiner Kreis von Gelehrten, sondern potenziell das ganze Volk Träger der Literatur ist, und dass zum anderen dieser Träger noch stumm und passiv ist. Der Philologe, der nun nicht mehr mit einer kleinen gelehrten Leserschaft rechnen durfte, sondern mit allen Lesern potenziell rechnen konnte, sprach im Namen derjenigen Gesamtgemeinschaft, die er selbst für mustergültig hielt. Die Phonozentristen des Sturm und Drang und der romantischen Philologie haben stark gemeinschaftlich gedacht und den Akzent auf das Populäre gelegt. Indem sie sich für dieses interessierten, projizierten sie den Wunsch nach Gemeinschaft, der aus ihrer Vereinzelung im kritischen Schriftraum entstanden war, ins Mündliche. Dabei konnten sie auf eine schichtenübergreifende Publikumsidee rechnen. Die Lied-Schrift war ein Kollektivmedium, das durch ein imaginäres Kollektiv gedeckt war.Footnote 21 Wer Volkslieder bis ins 20. Jahrhundert sammelte und publizierte, tat dies im Interesse einer abstrakten Gemeinschaft (Region, Nation). Tatsächlich edierten einzelne Gelehrte die zahlreichen Zeugnisse, die meist sogar von denjenigen Personen, die die Volkslieder sangen, zugesandt worden waren. Dennoch hatte ihre Art der Partizipation eine andere Qualität als die gegenwärtige: Die analoge Partizipation war aufgrund der zentralen Stellung der Philologen auf dem Gebiet der Edition, Kritik und Hermeneutik und deren Nähe zum Verlagswesen asymmetrisch.

Nach 2000 dezentralisierte sich die Sammelpraxis. Die Passivität der Gesamtleserschaft ist längst nicht mehr der Normalzustand für Kreative. Das digitale Medium ist sowohl Rezeptions- als auch Gestaltungs- und Urteilsraum. Inhalte können zugleich gelesen, bereitgestellt und beurteilt werden. Es existiert jenseits der Forschungsinstitutionen eine philologische Kultur, die durch und durch populär ist, weil sie jedem die Möglichkeit der Partizipation bietet, vor allem aber, weil sie die Partizipation auf alle philologischen Praktiken ausgedehnt hat (Verschriftung, Edition, Kommentar, Kritik, Hermeneutik, Kanonisierung etc.). Zudem kann prinzipiell alles zum Gegenstand dieser Partizipation werden. Damit besteht die Populärkultur nicht mehr nur aus immateriellen Gütern, die konsumiert oder rezipiert werden, sondern zugleich auch aus einer populären Philologie, die den Güterverkehr durch Urteile begleitet.

Die Ausweitung des Populären vom Bereich der Rezeption auf den der Kritik unterscheidet die laienphilologischen Scholars der Gegenwart von den romantischen Gelehrten. Wenngleich sich die Romantiker für das Volk interessierten und es als Überlieferungsträger umwarben, waren sie doch selbst Teil der Gelehrtenrepublik. Daran änderte auch der Umstand nichts, dass viele von ihnen keine professionellen Wissenschaftler, sondern Amateure der deutschen Literatur waren, und dass bisweilen die philologische Praxis ‚wild‘ wirkte.Footnote 22 Trotz allem kamen diese Liebhaber aus dem Innenraum der gelehrten Welt. Germanisten waren studierte Altphilologen, Juristen oder Theologen. Die Herstellung des Korpus war eine gelehrte Angelegenheit gewesen, auch wenn durch den Vorgang Volkslieder und Sagen dem Volk in schriftlicher Form dargebracht wurden.

Kollektivität wird von den neuen Amateuren des populären Liedes nicht mehr wie einst von Herder und den Romantikern für das Lied postuliert – ob nun in der oralen Entstehung oder durch mündliche Tradierung –, sondern die digitalen Datenbanknutzer verwirklichen sie bereits im Moment der Verschriftung. Obgleich die alten romantischen Sammler und Philologen gemeinschaftlich arbeiteten, stellten sie doch letztlich eine relativ kleine Gemeinschaft aus der literarischen, meist akademischen Elite dar. Sie waren aufgrund ihres hohen literaturgeschichtlichen und -kritischen Bildungsgrades keine typischen Träger der Populärkultur. Eher wirkten sie als ihre Agenten, wenn sie die Erzeugnisse der Populärkultur aufschrieben.

Die Schriftwerdung des Liedes ist folglich ein bereits geschichtlicher Vorgang, der einen ersten Höhepunkt in der Volksliedphilologie besaß, die – erinnert sei an die Volksliedstrophe und an Heinrich Heine – den Lyrikbegriff des 19. Jahrhunderts verändert hat. Es ist davon auszugehen, dass auch das neue Korpus seine Spuren in der Lyrik hinterlassen wird.Footnote 23 Auch wenn die meisten Lieder heute im Unterschied zu den alten Volksliedern autorisiert sind, ist das lyrikaffine Lied-Korpus der Gegenwart im Prozess seiner Literarisierung zu einem gemeinsamen Korpus geworden. Die Träger der populären Kultur prägen den Begriff des populären Liedes durch ihre kritische Verschriftung dergestalt um, dass er mit dem literaturwissenschaftlichen Gattungsbegriff der ‚Lyrik‘ kompatibel wird.

Nach dem typologischen Vergleich der beiden Lied-Korpora – Volkslied respektive populärkulturelles Lied – soll die jeweilige Form der Gemeinschaft rekonstruiert werden, die die Verschriftung verantwortet. Auch das alte literarisierte Volkslied war aus gemeinsamen Verschriftungsvorgängen entstanden. Aber zum einen bestehen qualitative und quantitative Unterschiede gegenüber dem literarisierten Lied der Populärkultur, das aus der digitalen Medialität hervorgeht. Zum anderen zeigen Akteure der analogen Verschriftung um 1800 die Tendenz, sich als Agenten einer ausschließlich oralen Schöpfungs- und Überlieferungsgemeinschaft zu stilisieren.

2 Herders Erben im digitalen Raum

Die analogen Hersteller von Verschriftungen zu dem Zwecke, sie einem Publikum zu kommunizieren, hatten einen anderen Zugang zum populären Lied gefunden als die digitalen. Es sind nicht substanzielle Eigenschaften des jeweiligen Schriftmediums, die zu Unterschieden führen. Vielmehr verändert sich das Verhältnis von Mündlichkeit zur Schrift und dem Schreiben im Übergang von analoger zu digitaler Schriftlichkeit.

2.1 Die analoge Schriftgemeinde des Volksliedes

Der Schriftgelehrte Herder, der sich bereits im Alter von Mitte zwanzig mit einem Tintenfass verglichen hatte,Footnote 24 modellierte für seine 1778/79 erschienenen Volkslieder eine orale Schriftästhetik. Diese Schrift unternimmt alles, ihre Distanz zum Gesang abzubauen, unsichtbar zu werden und wie Gehörtes zu erscheinen. In Wirklichkeit ist die Distanz riesig, weil das eigentlich zeitlich erfahrbare Lied im uneigentlichen Medium des Schriftraums erfahren werden muss. Herder sagt zwar, dass das Lied „gehört werden“ müsse, „nicht gesehenFootnote 25, täuscht aber darüber hinweg, dass seine Volkslieder für das hermeneutisch geschulte Auge von Lesern konzipiert sind: Herders Volkslieder sind eben keine Poesie für das Ohr.Footnote 26 Mündlichkeit zu fingieren, das zeigen auch die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, wurde zu einer Hauptaufgabe einer Schrift im Dienste der mündlichen Volkskultur. Die um 1800 zu beobachtende Emphase auf die Stimme kann man somit auch kompensatorisch aus dem Fehlen phonographischer Techniken erklären.

Herder, der wie Goethe und die Generation des Sturm und Drang überhaupt ausgesprochen schriftfeindlich war, glaubte an das geschichtliche Primat des gesprochenen Wortes. Ursprünglich sei die orale Poesie gewesen, sekundär die schriftliche Literatur. Literatur verstand er als ein Phänomen gelehrter Bildung, das seit der Renaissance die europäischen auf Mündlichkeit basierenden Poesiekulturen zerstört habe. Deshalb verglich er sich mit einem Tintenfass im polemischen Sinne Schillers, der das ganze Jahrhundert als tintenklecksendes Säkulum bezeichnete.Footnote 27

Herder bezog seine Motivation, Volkslieder zu sammeln und zu verschriftlichen, aus der Erfahrung übermäßiger Gelehrsamkeit. Die Schriftgelehrsamkeit erst bringt den Phonozentrismus hervor, und zwar bis zum performativen Widerspruch: Herders Quelle war nicht das gesungene Wort, sondern die Schrift: Abschrift, Umschrift von Liedern, weniger Niederschrift. Obgleich er also auf schriftlicher Vermittlungsebene ansetzte, betonte er den kollektiven Ursprung des Liedes, indem er vom Volkslied sprach. Anders als die gelehrte Kunstpoesie sollte mit wenigen Ausnahmen diese Form angeblich nicht mehr von einzelnen Dichtern geschaffen worden sein, sondern von Gemeinschaften.

Eng mit der Auffassung vom kollektiven Ursprung verbunden ist die Auffassung von der kollektiven Überlieferung. Genau genommen geht beides Hand in Hand. Wer versucht, sich einen kollektiven Ursprung vorzustellen, kann dies am besten dadurch, dass er sich die Mitglieder einer Gemeinschaft dabei vorstellt, wie sie das Lied oder die Sage von Generation zu Generation weitertragen. Die Tradition entsteht durch die Rezeptionsgemeinschaft bzw. die Gemeinschaft durch Rezeption gemeinsamer Lieder. Mit jeder Performanz wird das geistige Gut erweitert oder variiert, bis der Moment kommt, an dem es in die Schrift übergeht. Dass auch die Schrift Teil der Überlieferungskette mündlicher Poesie sein könnte, hat Herder ausgeblendet. Mit anderen Worten hat er die außerordentliche Rolle der Schrift für die Kanonisierung des Liedes verkannt. Für diese Verkennung ist auch der Märchensammler Jacob Grimm beispielhaft, der von einer Sage, die sich selbst ausspreche und verbreite,Footnote 28 fasziniert war. Wenn er denn Zeugen für seine Märchen anführen musste, dann erfolgte dies „pars pro toto“:Footnote 29 Eine Dorfbewohnerin repräsentiert die ganze Gemeinschaft.

Man kann den kollektiven Ursprung aber auch auf der Schriftebene ansetzen, und bereits um 1800 haben Liedsammler wie Friedrich David Gräter und Philologen wie Friedrich August Wolf daran erinnert:Footnote 30 Nicht das im Volk gesungene Wort, sondern seine Schriftwerdung ist der Ursprung und der Beginn der kollektiven Überlieferung. Mit der Verschriftung der Lieder sind diese ein neuer Gegenstand der Überlieferung geworden. Das homerische Epos, würde Wolf sagen, ist eine Erfindung von Philologen.

Die Gegenwart und sein eigenes Umfeld hätte Herder daran erinnern müssen, dass er in einem kleinen Kollektiv arbeitete: Freunde wie Goethe oder Familienangehörige wie seine Frau konnte er für das Volksliedprojekt gewinnen. Die postumen Stimmen der Völker in Liedern (1807) gingen nicht mehr auf das Konto Herders, womit der transgenerationelle Charakter der das Volkslied herstellenden Gemeinschaft deutlich wird.Footnote 31 In der Nachfolge Herders kann man sogar beobachten, dass nicht nur die Zahl der Liebhaber von Volksliedern, Sagen und Märchen zunahm, sondern dass diese immer häufiger zusammenarbeiteten. Sie kommunizierten im 19. Jahrhundert brieflich, organisierten sich in gelehrten Gesellschaften oder in philologischen Disziplinen.

Trotz dieser Hinweise auf Gemeinschaftsarbeit in der analogen Schriftkultur möchte ich den Unterschied zur gegenwärtigen kollektiven Arbeit auf keinen Fall nivellieren: Obzwar die Sammler des 19. Jahrhunderts zusammenarbeiteten, reden wir heute zu Recht von den Schöpfungen Einzelner: Herders Volkslieder, Brentanos und Arnims Des Knaben Wunderhorn, Grimms Märchen.Footnote 32 Ein Grund dieser Individualphilologie des Populären ist in der Materialität der analogen Schriftlichkeit zu suchen, deren Verbreitung maßgeblich durch das Funktionieren der Beziehung des Aufschreibenden mit einem Verleger bestimmt war. Die Konzentration der Gemeinschaftsarbeit in einer als Herausgeber fungierenden Hauptperson ergab sich in der typographischen Epoche ganz von selbst.

2.2 Rahmenbedingungen digitaler Verschriftung

Mittlerweile gibt es phonographische Aufzeichnungsmedien, die die Schrift entlasten, Mündlichkeit zu simulieren, sobald das gesungene Wort Schrift wird. In der Geschichte der Lied-Transkription stellt das Auftreten der Schrift im digitalen Medienraum die wohl wichtigste Veränderung dar. Durch sie wurde die einst ubiquitäre Medialität der analogen Schrift zu einer Option degradiert, die zudem droht, antiquiert zu werden. Die analoge Hand- oder Typenschrift steht in Konkurrenz zu einer digitalen Schrift, die von Maschinen gelesen wird. Vier Konzepte – Transmedialität, Versatilität, Intertextualität und Interaktivität – halte ich für die Analyse digitaler Verschriftung für besonders kennzeichnend. Sie sind schon in der analogen Kultur des 20. Jahrhunderts theoretisiert worden und unmöglich nur auf das digitale Medium beschränkt. Jedoch eignen sie sich, die behauptete Neuartigkeit zu beschreiben. Transmedialität, Versatilität, Intertextualität und Interaktivität lassen sich im Sinne von Jay D. Bolter als Qualitäten der digitalen Schrift verstehen, die durch die digitale Technik weder erfunden worden seien noch die Kultur der Gegenwart determinierten. Sie gehörten aber zu jenen Weisen des Schreibens, die die Computertechnologie einfacher gemacht habe als andere.Footnote 33

Das stärkere Hervortreten jener vier Qualitäten in digitaler Schrift ist Folge des dynamischen Verhältnisses der drei Ebenen, auf welchen digitale Schrift zugleich realisiert werden muss: der binären Ebene, der Auszeichnungs- und der Oberflächenebene. Die binäre Ebene erinnert daran, dass sich Schrift im Digitalen prinzipiell nicht von anderen Medien unterscheidet. Sobald eine Information lesbar für die Maschine werden soll, muss sie in eine Abfolge von Nullen und Einsen überführt werden. Lesbarkeit meint hier den Rhythmus von ‚An‘ und ‚Aus‘. Ob ein Bild, ein Schriftbild, ein Ton, ein Schriftton oder sonst etwas digitalisiert vorliegt, ist nicht mehr unterscheidbar auf dieser Ebene. Das bedeutet, dass Schrift hier nicht mehr existiert oder immer schon einen transmedialen Charakter besitzt. Die Auszeichnungsebene ist in der analogen Druckkultur zwar vorhanden. Wie die Schriftgestalt auszusehen hat: kursiv, recte, gesperrt, im Blocksatz usf., ist vorher festzulegen. Jedoch ist die Auszeichnung fix bzw. kann nur verändert werden um den Preis eines Neudrucks. Auszeichnungspraktiken sind kostspielig, einmalig und unwiderruflich. Volksliededitionen beispielsweise müssen vorher auszeichnungstechnisch genau konzipiert werden. Der Text ist identisch mit seiner Materialität, von ihr nicht abziehbar und druckhistorisch in Auflagen pluralisiert. Die digital durch eine Markup Language ausgezeichnete Schrift dagegen ist dynamisch, veränderbar, immateriell, auszeichenbar für verschiedene Endgeräte und Leserwünsche.Footnote 34 Die Kopplung an die Auszeichnungsebene hat wiederum Folgen für die Oberflächenebene. Ein mit sich identisches Schriftbild gibt es nicht bzw. lässt es sich wie in der PDF nur vortäuschen. Transmedialität, Versatilität, Intertextualität und Interaktivität können auch als Phänomene schriftlicher Performanz verstanden werden.Footnote 35 Die Betreiber der Datenbank zur Verschriftung und Kommentierung von Liedern Genius haben sich dafür entschieden, den Prozess der Verschriftung durch diese vierdimensionale Performanz zu gestalten. Diese Offenheit beispielsweise unterscheidet sie von einer Plattform wie songtexte.com, die die Texte nur lesbar macht.

  1. a)

    Der transmediale Charakter führt dazu, dass der Schriftraum potenziell ein audiovisueller Raum ist. Anders als in den Volksliedern Herders, der nicht einmal Noten abdruckte, ist den neuen literarisierten Liedern sogar eine mündliche Form der Performanz beigegeben. Der Raum des Kommentars arbeitet nicht nur mit Schrift, sondern auch mit der Evidenz der Bilder, Videos und Töne. Das Kommentieren von Texten war in den analogen Handschriften- und Druckepochen eine Praxis, die sich auf die Schrift beschränkte und kostenbedingt sehr selten auf Bildmedien und Notenzeichen zurückgriff. Nunmehr ist die Schrift nicht mehr das Hauptmedium der Hermeneutik. Die Verschriftung erfolgt in einem semi-oralen Medium. Epistemische Gewinne werden dort verbucht, wo das begleitende Tondokument etwa aufschlussreich für die Lautstruktur ist.Footnote 36

  2. b)

    Der versatile Charakter der digitalen Schrift zeigt sich darin, dass es weder ein festes Schriftbild noch ein stabiles paratextuelles Seitenlayout gibt. Herders Volkslieder beispielsweise erschienen in der Fraktur, ebenso lange Zeit auch Grimms Märchen. Genius verwendet eine serifenlose Schrift, aber diese Wahl ist immer nur vorläufig bis zur nächsten Reform des Seitenlayouts. Die Dynamik der Schrift wird auch über ihre Paratexte deutlich, die als Werbung und Seitengestaltung permanent differieren. Je nach Nutzerinteresse, kommerzieller Natur des Anbieters und Endgerät sehen das, was wir lesen, und das, worin es eingebettet ist, anders aus.Footnote 37 Der bewegte Text, der für die Dekonstruktion noch ein Phantasma war, ist nunmehr wirklich in Bewegung geraten.Footnote 38 Der dynamische Text der Poststrukturalisten war jedoch vor dem Hintergrund eines stabilen Textmediums mit einem festen Satzspiegel und unverrückbarer Typographie imaginiert worden. Denn obzwar die Überlieferung in verschiedenen Editionen, Übersetzungen, Buchgestaltungen pluralisiert vorlag, las man im analogen Zeitalter gewöhnlich eine einzelne Ausgabe, außer man verglich gerade kritisch zwei Ausgaben miteinander. Die Identität des Textes wurde im analogen und gedruckten Buch garantiert, und konkurrierende Ausgaben irritierten nicht wirklich das Lektüreverhalten. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts waren Lesemedien „durch ihre Materialität und statische Eigenschaften geprägt“.Footnote 39 Im Digitalmedium jedoch ist „die Einheit von Zeichencodierung und materiellem Objekt aufgelöst“.Footnote 40 Es gibt folglich keine vollendeten Texte mehr: „Das Werk stellt kein geschlossenes Objekt dar, sondern es erscheint vielmehr als eine prozessierende Relation zwischen Code und Darstellung.“Footnote 41 Statt von einer festen Form der Textoberfläche ist von einer versatilen Form als Normalfall auszugehen, veränderbar auf Auszeichnungsebene, abgestimmt auf Endgeräte und Nutzervorlieben.

  3. c)

    Der intertextuelle Charakter digitaler Schrift resultiert aus der vertikalen Vernetzung mit anderen Schriftformen und Medien außerhalb des primären Schriftraumes. Gemeint ist das, was Kristeva als ‚Intertextualität‘ konzipiert hatte: der Bezug des Wortes im Text zu anderen Texten und Wörtern entweder der Gegenwart oder der Vergangenheit.Footnote 42 Jedes Element einer Schrift verweist auf ein anderes. Der Verweisungszusammenhang ist unbegrenzt: nicht nur schriftintern, sondern auch intermedial. Es obliegt dem Leser, den Kontext als den mitzulesenden Text zu definieren. Textausgaben des Druckzeitalters haben in Kommentaren versucht, die Prä- und Intertexte einzubeziehen. Sie konnten den Außenbezug des Wortes oder des ganzen Textes jedoch nicht vollständig abbilden, weil die Ausgabe irgendwann fixiert und abgeschlossen werden musste. Die Vernetzung der digitalen Schrift ist prinzipieller. Wissen über Textbezüge kann in größeren Mengen akkumuliert und schneller sichtbar gemacht werden. Im Medium der digitalen Schrift lässt sich die Geschlossenheit des Werks schwerer behaupten und das Korpus nicht mehr begrenzen. Auch intermediale Bezüge können problemlos sichtbar gemacht werden, was beispielsweise eine Sammlung von Filmzitaten in Liedern belegt.Footnote 43 Der kommunikative Charakter der oralen Poesie wird ebenfalls evident. Wie in der Lyrik die Dichter im Gespräch mit anderen Dichtern stehen, so kommunizieren auch im Rap die Vortragskünstler über ihre Lieder intensiv miteinander. Eine belanglos anmutende Zeile wie „Stress ohne Grund“Footnote 44 wird im digitalen Editionsraum als ein epistemisches Element erkennbar, das den kommunikativen Zusammenhang belegt. Um die Dimension der produktiven Rezeption einzufangen, sei auf die Möglichkeit verwiesen, Parodien, Kontrafakturen, Übersetzungen und andere Formen der Nachahmung in die Darstellung einzubeziehen: Siebzig Cover-Versionen konnten bislang allein zu Blowin’ in the WindFootnote 45 zusammengetragen werden.

  4. d)

    Der interaktive Charakter schließlich resultiert aus der horizontalen Vernetzung des Wortes zum Publikum im Sinne Kristevas.Footnote 46 Der horizontale Bezug der digitalen Schrift als der Bezug zum Rezipienten ist nicht mehr der analoge einer homogenen Leserschaft. Im Digitalen wird die homogene Gruppe in ihre einzelnen Leser pluralisiert. Digitale Schrift ist bei Genius kollektiv. Vor allem aber ist der Schriftempfänger potenzieller Schriftsender. Alles kann von jedem kommentiert werden. Das kollaborative und interaktive Potenzial der Digitalschrift wird von der Wissensdatenbank genutzt – mit Auswirkungen auf die Wissensproduktion. Im Unterschied zur analogen Tradition des Volksliedes ist nunmehr Verschriftung ein explizites Gemeinschaftsprojekt. Denn Überlieferung wird nicht mehr nur im Raum mündlicher Performanz von einer populären Rezeptionsgemeinschaft bewerkstelligt, sondern eben diese ‚elektronische Gemeinschaft‘Footnote 47 oder wenigstens ein Teil von ihr setzt im Raum der Schrift die Überlieferung fort. War populäre Überlieferung des Liedes in der analogen Epoche ein Phänomen der Mündlichkeit und ihrer Performanz, so ist in den letzten Jahren das Lied auch in der Schrift „volkläufig“Footnote 48 (John Meier) geworden.

3 Kollektive Überlieferung auf Genius

Transkription und Kommentierung auf Genius lassen sich an sehr heterogenen textuellen Formen und Gattungen beobachten. Prinzipiell kann jeder Text eingestellt werden, sodass oft bereits textbasierte Inhalte hineinkopiert wurden, die nicht zum transkribierten Korpus gehören. Zu Liedern und sangbaren literarischen Texten gehören auch historische Gedichte, Volkslieder oder Songs, wobei sich die Aufmerksamkeit derzeit hauptsächlich auf die angelsächsische Literatur oder aber auf die Weltliteratur in englischer Übersetzung richtet.Footnote 49

Nicht jedoch die literarische Tradition, sondern die Lieder der jüngeren Populärkultur, insbesondere des Rap, erregen auf der Plattform das hauptsächliche Interesse. Genius ist primär kein wissenschaftliches Beobachtungsmedium. Das Netzwerk dient ebenso der Selbstverständigung von Sängern und Hörerschaft. Ein Lied wie Rap God von Eminem zeigt das quantitative Potenzial: 14 Scholars sind an der Niederschrift beteiligt gewesen und 1.379 (1.800 [6/2022]) weitere haben es kommentiert, darunter der Künstler selbst. Insgesamt wurden 118 Kommentare durch Moderatoren akzeptiert (Accepted Annotations) und drei vom Künstler geprüft (Verified Annotations). Über 12,5 Mio. Mal (8/2018; 17,7 Mio [6/2022]) wurde der Text aufgerufen.Footnote 50 Anschlusskommunikation durch die Schrift wird ermöglicht und Wissen über verschiedene populärkulturelle Formen verzeichnet, wobei die Wikipedia als Wissensquelle sowie als anschließendes Kanonisierungsmedium von zentraler Bedeutung ist.

Zu den populären deutschen Liedern gehört Chabos wissen wer der Babo ist (2012) von Haftbefehl,Footnote 51 das in professionellen bzw. redaktionellen Medien wie Tageszeitungen und Fernsehsendungen größere Bekanntheit erreichte.Footnote 52 Diese bestätigen auch die Parodien.Footnote 53 Genauer betrachtet werden soll das laienphilologische Verhalten der Netzwerknutzer jedoch nicht an diesem Lied, sondern an dem parallel erschienenen Remix, der insgesamt zwölf Künstler vereint und deutlich umfangreicher ist. Die sprachliche Komplexität ergibt sich aus der Mehrsprachigkeit des Liedes. Die kritische Überlieferung im engeren Sinn fand sowohl auf YouTube durch den Künstler selbstFootnote 54 als auch auf Genius statt. Sechs Scholars haben es ediert, und bis Juli 2018 kommentierten es 103 weitere. Diese kommentierte Edition wurde bis Juli 2017 von 545.000 Menschen gelesen.Footnote 55 Bis Juli 2018 wurden es 567.600 (618.600 [6/2022]). Bevor anhand dieses Beispiels die laienphilologische Praxis auf Genius analysiert wird, seien kurz die Nutzungsbedingungen und Nutzerrollen vorgestellt.

3.1 Bedingungen der Partizipation auf Genius

Neben dem einfachen Beiträger (Contributor) gibt es den Editor (Editor), den Vermittler (Mediator) und den Moderator (Moderator). Eine vierte Gruppe bilden geprüfte Künstler (Verified Artists), die mit erheblich mehr Grundautorität den diskursiven Raum betreten.

Um als Nicht-Künstler eine der drei Rollen zu erhalten, muss man sich zuvor durch ein Verhalten qualifiziert haben, das der Wissensproduktion zugutekommt. Für jeden Kommentar (Annotation)Footnote 56 erhält man fünf sogenannte ‚IQ-Punkte‘, die symbolische Währung der Plattform. Überschreitet man die 300, wird man als Editor, Mediator oder Moderator zugelassen, kann sich also entscheiden, ob man vorzugsweise transkribiert und editiert, lieber die Kommunikation innerhalb der Plattform fördert oder aber strukturelle Verantwortung übernimmt. Der Gründer der deutschen Abteilung von Genius, Tobias Wilinski, ist folglich Moderator. Insgesamt gibt es vier Moderatoren (6/2022: 9), aber nur einen Mediator (6/2022): 2) für die deutsche Kommunikation innerhalb der Liste, deren Akteure teilweise inaktiv sind. Die meisten Beiträger werden Editoren, die für die Qualitätskontrolle sorgen, wobei zahlreiche unbearbeitete (unreviewed) Beiträge auf Kontrolle warten.

Wird der Zeilenkommentar eines Beiträgers durch den Editor zugelassen, erhält man weitere zehn Punkte; eine Ablehnung führt zum Verlust von sieben Punkten. Gute Kommentare im Sinne von Genius erläutern Referenzen zu Songs und Filmen, definieren Slang-Ausdrücke, übersetzen Fremdwörter, kontextualisieren Zeilen durch Interviews, verweisen auf geschichtliche und gegenwärtige Ereignisse, argumentieren biographisch („Verbindungen zum echten Leben des Künstlers“Footnote 57), beziehen – und das unterscheidet die digitale Annotation von der traditionellen Praxis – Bilder und GIFs ein. Ein guter Kommentar könne auch Witze „mit wertvollen Informationen“Footnote 58 enthalten.

Die Annotationsethik in zehn ‚Geboten‘ legt Wert darauf, Wiederholungen zu vermeiden, den Text im Kommentar nur zu paraphrasieren (1). Weiter wird auf eine einfache Sprache geachtet – „Schreib, als würdest du mit einem Freund über den Song reden“Footnote 59 und nicht wie ein „Roboter“ (2) –, auf Orthographie und Grammatik (3), auf Recherche, Belege und das Vermeiden von Spekulationen, kurz auf Redlichkeit (4), auf Sachlichkeit (5), auf eine gewisse Ökonomie der Erklärung (6), auf zeitliche und sachliche Genauigkeit (7, 8), auf die richtige Formatierung (9). Schließlich wird betont, syntagmatische Zusammenhänge statt einzelner Wörter zu kommentieren (10).

Richtungsweisend für die Transkription ist das Ethos der selbstständigen Transkription: „Geh nicht davon aus, dass die Lyrics auf anderen Lyricseiten richtig sind. Hör dir das Lied immer selbst an.“Footnote 60 Das Primat des Gehörten soll davon abhalten, die Texte aus dem Booklet abzuschreiben.Footnote 61 Unverständliche Stellen werden durch ein Fragezeichen in eckigen Klammern ‚[?]‘ sichtbar gemacht. Alles soll notiert werden, also auch wiederkehrende Elemente wie der Refrain. Der Grundsatz, eine eigenständige Transkription zu erstellen, hat keine Entsprechung im Bereich der Literatur: Autopsie ist nicht vorgesehen, Textkritik von marginaler Bedeutung. Welcher Ausgabe beispielsweise der Moderator Tobias Wilinski (238.152 IQ) den Faust-Text entnimmt, wird nicht erwähnt.Footnote 62

Obgleich jede Transkription auf dem persönlichen Gehör basiert, ist das Erscheinungsbild der Texte relativ homogen. Dafür sorgen Formatierungsregeln, die die Transkription organisieren:Footnote 63 Orthographie und grammatische Richtigkeit führen zur Normierung der sprachlich oftmals eigenwilligen Lieder; deutlich wird zudem, dass die Verschriftung keine Transliteration ist, was dann wiederum dazu führt, im Kommentar besondere Aussprachephänomene erläutern zu müssen.Footnote 64 Wie problematisch eine solche Standardisierung der Oralität ist, wird an Liedern deutlich, die ganz offensichtlich dialektal sind. Zusätzlich hat Genius deshalb einen Leitfaden für die Verschriftung von österreichischen Liedern, aber auch für den Sprachgebrauch im Kommentarbereich eingeführt.Footnote 65 In der Zeichensetzung werden Kommata regulär verwendet, auf Punkte soll weitgehend verzichtet werden. Die korrekte Apostrophierung wird ebenfalls erläutert. Die Zeilenformatierung ist zentral für das schriftliche Erscheinungsbild des Liedes. Zeilenumbrüche finden taktbasiert statt, aber auch Pausen sollen beachtet werden. Für die Gliederung werden Strophen oder Parts eingeführt, der Refrain soll als ‚Hook‘ bezeichnet werden. Die Markierung garantiert, den Text auch optisch als Song und nicht als Gedicht zu verstehen. Die Einbeziehung sogenannter Ad-libs (Sprache im Hintergrund) führt im zweidimensionalen Schriftbild zu einer gleichgeordneten Sprachebene, die die literarische Hermeneutik tangiert.

Eine weitere Möglichkeit, die epistemische Währung ‚IQ‘ zu akkumulieren, besteht im Schreiben von Biogrammen zu Künstlern sowie in der Zusammenfassung von Songs oder Alben. Durch das lobende Urteil einer Anmerkung kann man ebenfalls Punkte sammeln, wobei je nach Autorität zwei oder vier Punkte (ab 1.000 IQ) vergeben werden. Da alle Nutzer Teil eines Netzwerkes sind, kann man ihnen auch folgen. Das Teilen einer Anmerkung wird ebenfalls honoriert (Pyongen) sowie das Hinzufügen von Verbesserungsvorschlägen.

3.2 Populäre Philologie am Beispiel von Chabos wissen wer der Babo ist

Der spielerische CharakterFootnote 66 und die Möglichkeit, symbolisches Kapital zu erwerben, sind Strukturmaßnahmen, um das intrinsische Interesse am Gegenstand längerfristig aufrechtzuerhalten, die Qualität zu verbessern und die Aktivität der Plattform zu sichern. Transkription und Kommentar seien am Beispiel von Chabos wissen wer der Babo ist (Remix) nun genauer erläutert.

Die Transkription dieses Liedes erfolgte zu 78 % durch Hylia (Editor mit 55.020 IQ), zehn Prozent steuerte Bemoty (Editor mit 115.469 IQ) bei. Der Rest von zwölf Prozent verteilt sich auf zwei Beiträger (Contributor), einen Editor und den Moderator Tobias Wilinski. Angezeigt wird nur der aktuelle epistemische Wert, nicht der Wert zum Zeitpunkt der Transkription.

Unter den 103 Kommentatoren nimmt Hylia, hauptverantwortlich für die Transkription, die fünfte Stelle ein (213 IQ im Rahmen der Annotation), Tobias Wilinski Platz zwei (435). Die meisten Annotationen stammen von rayo840 (Beiträger mit 12.830 IQ, davon 909 IQ-Punkte für die Lied-Annotation zum Remix Chabos wissen wer der Babos ist). Das Rap-Duo Celo & Abdi ist an vierter Stelle, das sich zweimal mit einer Tonaufnahme in den Kommentar einschaltet.Footnote 67 Im Remix bestreiten die ‚geprüften Künstler‘ die Parts fünf und sechs des Liedes.

Im ‚Hook‘ oder Refrain des Remix werden fünf Stellen als kommentierungsbedürftig ausgewiesen: 1. „Chabos wissen, wer der Babo ist“, 2. „Hafti Abi ist der“, 3. „der im Lambo und Ferrari sitzt/Saudi Arabi Money Rich“, 4. „Attention, mach bloß keine Harekets/Bevor ich komm’ und dir deine Nase brech’“, 5. „Wie er grade Nasen snifft“. Die Praxis wird kurz an der ersten Zeile erläutert, wobei hier auf den Kommentar zum Remix und zum Original zugleich zu sehen ist:

Chabos wissen, wer der Babo ist

Hafti Abi ist der, der im Lambo und Ferrari sitzt

Saudi Arabi Money Rich

Wissen, wer der Babo ist

Attention, mach bloß keine Harekets

Bevor ich komm’ und dir deine Nase brech’

Wissen, wer der Babo ist

Immer noch der selbe Chabo, Bitch

Den du am Bahnhof triffst, wie er grade Nasen snifft

Wissen, wer der Babo ist

W-W-Wissen, wer der Babo istFootnote 68

Als Erstkommentar zur ersten Zeile des Originallieds stand: „Babo ist eine andere Form von ‚Baba‘ und bedeutet Vater. In diesem Fall ist es eine Machtdemonstration.“Footnote 69 Der Satz datiert aus dem Jahr 2012 (Beiträger: agitdersim, 724 IQ). Ein Jahr später, 2013, ergänzt der Editor 13XxM1CHA3lxX37 (121.198 IQ) einen Verweis auf die Remix-Strophe, in der es heißt: „wir Berliner, sagen zu Chabos Bruder, zu Babo Boss“ sowie auf einen stützenden Welt-Artikel gleichsam als Autoritätsargument: „Diese Definition unterstützt auch ein Artikel auf welt.de, in dem es heißt: ‚Chabo‘ ist ein Wort aus der mittelalterlichen Gaunersprache Rotwelsch und bedeutet ‚Junge‘. ‚Babo‘ kommt aus dem Türkischen und heißt ‚Chef‘ oder ‚Boss‘.“Footnote 70 Der erwähnte Artikel datiert vom 2.5.2013Footnote 71 und unterstreicht nochmals, dass andere Schriftmedien frühzeitig am hermeneutischen Prozess und an der kritischen Überlieferung beteiligt gewesen sind. Es folgen noch vier Änderungen im Kommentar, die aber nur die Orthographie betreffen (‚ehr‘ zu ‚eher‘). Argumentiert wird für ‚Boss‘ statt ‚Vater‘, d. h. mit Verweis auf eine Parallelstelle im Remix sowie mit einem Beleg aus einem anerkannten Zeitungsmedium, dem Feuilleton der Welt. Im Remix hatte die Erstkommentierung ebenfalls schon 2012 eingesetzt, aber bis 2014 konnte man nur den Satz lesen: „Chabo bedeutet auf Romanes, also auf Zigeunerisch, Junge, und wird oft in Frankfurt verwendet“ (Beiträger: rayo840, 12.830 IQ).Footnote 72 Eine renommierte Editorin der Plattform, SinaTheQueen (Editor, 232.442 IQ), begann 2014, den Kommentar zu redigieren. Der alte Ersthinweis von rayo840 wurde aufgegeben. SinaTheQueen entscheidet sich für den vorgestellten Kommentar aus dem Originallied,Footnote 73 übernimmt Parallelstellenmethode sowie Autoritätsargument und vereinheitlicht schließlich das Wissen zur Zeile. Dass der Duden ‚Babo‘ 2013 zum Jugendwort kürte, wird nicht erwähnt. Der Normierungsprozess, der sich an dieser ersten Zeile zeigt, ließe sich an vielen anderen Texteinheiten belegen. Es ist darauf hinzuweisen, dass dieser nicht nur auf Kommentarebene stattfindet, sondern bereits mit der Verschriftung beginnt. Die oben vorgestellten Regeln zur Transkription überführen die sprachlich und lautlich heterogenen Lieder in die deutsche Standardschrift, die gleich einer Koine für jedermann lesbar ist.

Die Eigendynamik der digitalen Schrift verändert ebenso die Semantik der Lieder. Das kann nur beispielhaft vorgestellt werden. Nach dem Hook eröffnet der Rapper Milonair (Milad Mirza Nejad) den Remix des Freundeskreises. Zwischen dem Refrain und der ersten Strophe ist in der Hörversion ein Sample eingefügt, das im Hintergrund zwischen beiden Lied-Einheiten den Übergang schafft. In der mündlichen Performanz besitzt es eher dekorativen Charakter. Der Editor (Electrofensterheber, 67.352 IQ) klärt auf, dass es sich um das serbische Volkslied Zumbalica [Дзyмбaлицa] handelt: „Dieses Lied wurde bereits von vielen verschiedenen Personen gesungen, daher ist die Zuordnung des Samples zu einem bestimmten Künstler schwierig.“Footnote 74 Der Gattungsbegriff des Volksliedes bleibt unerwähnt. Aber die Kommentatoren betten dafür eine Hörversion des Liedes ein: „Reče čiča da me ženi/Danas hoće sutra neće“Footnote 75. In der zweidimensionalen Schrift tritt hervor, was im gesungenen Lied im Hintergrund geblieben war. Auch wird ein möglicher Sinn durch die Einspielung des serbischen Volksliedes deutlich, sobald man den ersten Vers betrachtet. Der Anspruch des Rappers, für seine Gemeinschaft zu sprechen, wird abgeleitet aus der Stimme des Volkes, welche das serbische Volkslied (bzw. das Lied, das bereits von vielen gesungen wurde) hörbar macht: „Milonair, ich verleih’ dem Ghetto ’ne Stimme“.Footnote 76 Das wurde 2013 durch Geisterschreiber (46.114 IQ) so erläutert: „Durch Milonair haben auch die Dealer, Unterdrückten und Armen [sic] Leute aus den Ghettos die Möglichkeit ihre Probleme und Wünsche einer breiten Masse mitzuteilen, die ihnen sonst meist verwehrt bleibt.“Footnote 77 SinaTheQueen ergänzt den zugrundeliegenden Gemeinplatz (‚Jemandem eine Stimme geben‘) und verbessert Orthographie und Zeichensetzung.

Der Vorgang ist nicht ohne Ironie weil der Sänger des Volkes bzw. seiner Fangemeinde durch eben diese Gemeinde ausgelegt wird. Die traditionelle Idee des Volksliedes ist die eines kollektiv verfassten Liedes, in der sich das Volk selbst ausspricht. Auf der Seite seiner Tradierung gesellen sich neben das Volk die Philologen des Volksliedes, die sich als Agenten der Gemeinschaft verstehen. Ihr Auftrag ist es, dem gesungenen Volkslied in der Schrift eine Stimme zu verleihen. Die individuelle Poesie der Künstler kann das Moment der Agentur ebenfalls enthalten. Jeder Künstler ist dann in dem Maße Philologe, in dem er sich als Sprachrohr einer Gemeinschaft versteht bzw. konvergieren Künstler und Philologen in dem Wunsch, für andere rhetorisch und poetisch zu handeln. Auch der Rapper verleiht seiner Gemeinschaft eine Stimme. Was aber, wenn diese Gemeinschaft selbst wieder Agenten bereitstellt, die genau diesen Prozess anfangen zu reflektieren?

In der digitalen Praxis auf Genius wird die kollektive Verschriftung evident. Herders und Grimms Konzept einer Stimme des Volkes als eines kollektiven Überlieferungsträgers, ob nun im Lied oder im Märchen, ist hier greifbar geworden. Die digitale Verschriftung sowie die textkritische und hermeneutische Kommentierung sind tatsächliche populäre Akte und nicht mehr solche von privilegierten Philologen, die im Namen ihres Ideal-Volkes sprechen. Gemeinschaftlich getätigte digitale Transkriptions- und Kommentierungsakte begleiten die gesungenen oder gesprochenen Lieder, wodurch sich ein Kontext bildet, der diese Lieder auch als Texte lesbar und interpretierbar macht.

Selbst wenn ihre Schöpfer schriftfeindlich eingestellt sein mögen und auch der Ursprung sowie die Geschichte der Rap-Kultur bis zum Ende des 20. Jahrhunderts schriftlos waren,Footnote 78 erzwingt die Gemeinschaft der Rap-Amateure die Schriftbegleitung dieser kulturellen Formation. Der Zwang entsteht nicht aus einem kulturpolitischen Anspruch heraus, sondern aus der schieren Praxis einer nicht zu stoppenden Korpus- und Wissensproduktion. Durch die schriftliche Begleitung erst, die eine regelrechte Wissensakkumulationsmaschinerie ist, wird eine neuartige populäre Tradition gestiftet. Ab 1800 wurde das Volk zunehmend Teil der Leserschaft und veränderte den Erwartungshorizont und damit die Literatur. Seit 2000 aber erobert es die Räume der schriftbasierten Überlieferung und richtet sie nach seinen Vorstellungen neu ein.

4 Das kollektive Korpus in der Forschung. Ein Ausblick

Auf der Datenbank Genius reichern wirkliche Nutzer ein umfangreiches Wissen über Lieder und ihre Kontexte, ihre Medien, ihre Kultur und ihr Publikum an. Dieser Vorgang, der maßgeblich durch Verschriftung und Kommentierung entsteht, konnte hier nur exemplarisch vorgestellt werden. Gezeigt werden sollten in Ansätzen die auch derzeit an anderen Orten zu beobachtenden Prozesse der Selbstprofessionalisierung. Wenn philologische oder historische Schulung für die Akteure der neuen Laienkritik nicht vorausgesetzt werden kann,Footnote 79 dann ist die Einübung in wissenschaftliches, d. h. redliches Arbeiten deshalb aber nicht ausgeschlossen. Auch die Wissenskommunikation gegenwärtiger Laienphilologen differenziert institutionelle Formen und Hierarchien aus. Wie in der WikipediaFootnote 80 variieren die Niveaus je nach Gegenstand und Sprachraum. Die Möglichkeit einer Professionalisierung ist auf Genius angelegt, indem hier textkritische Befunde oder hermeneutische und ästhetische Urteile veröffentlicht werden, um sich wieder der Kritik auszusetzen.Footnote 81

Die Ausweitung des Populären vom Bereich der Aufnahme (Rezeption) auf den der Bereitstellung und Beurteilung von Inhalten hat Auswirkungen auf die künftige Überlieferung und Kanonisierung von Literatur. Insofern das populäre Lied ein der neuen populären Philologie adäquater Gegenstand ist, konkurrieren die populären Philologen mit den Akteuren der akademischen Literaturwissenschaft. Aktuell stellt sich deshalb nicht die Frage, ob die Laienpraxis epistemische Relevanz gewinnt (denn das tut sie bereits), sondern wie sie in eine Institution überführt werden kann. Die Einbindung von Laien in professionelle textkritische oder lexikographische ArbeitsprozesseFootnote 82 erfolgt derzeit beispielsweise am Deutschen Textarchiv, wo sie der Qualitätssicherung dient.Footnote 83 Sicherlich ist die Reduktion auf Hilfsarbeiten wie Korrekturlesen für ein Vorhaben, das allein der Retrodigitalisierung dient, berechtigt, jedoch wäre es auch denkbar, den kritischen Raum für die hermeneutische Praxis zu öffnen. Die Angst, der kritischen Menge mehr editorische Rechte zu geben, ist nachvollziehbar. Gleichwohl zeigt ein Projekt wie Wikisource,Footnote 84 dass diese Menge durchaus zielorientiert arbeiten kann.

John Meier hat das Volkslied als das Lied definiert, das „volkläufig geworden“ sei.Footnote 85 Damit sollte zum einen die müßige Frage, wie das Volk als kreative Instanz zu denken sei, umgangen und zum anderen die Überlieferungsfrage auf die Mündlichkeit festgelegt werden. Die Überlieferung bezeugen nach diesem Modell Bild- und Tondokumente. Diese können auch schriftlich dokumentiert sein. Weniger aber handelt es sich bei den Zeugnissen um kritische Kommunikation. Dass das Volk seine eigenen Lieder ediert und kommentiert – daran hat Meier nicht gedacht. Der Begründer des in Freiburg angesiedelten Deutschen Volksliedarchivs (1914–2014, seit 2014 Zentrum für Populäre Kultur und Musik) hatte ein ausgeprägtes Bewusstsein dafür, dass das Volkslied die Summe seiner Überlieferungszeugnisse ist. Aus diesem Gedanken heraus ist eine wertvolle Sammlung entstanden, die ihrer digitalen Transformation harrt. Kritische Kommunikation – sowohl textkritische als auch hermeneutische – ist in der Gegenwart ein Wesensmerkmal des populären Liedes und seiner Überlieferungsdynamik geworden. Technisch forciert wird sie von der interaktiven Qualität des neuen Schriftmediums.

Die Umbenennung des Deutschen Volksliedarchivs 2014 in das Freiburger Zentrum für Populäre Kultur und MusikFootnote 86 kann als Reaktion auf die im Digitalen durch kritische Kommunikation der Laien vergegenwärtigte populäre Musikkultur angesehen werden. In Anbetracht der populären Medienrealität wirkt das alte romantische Modell anachronistisch, und tatsächlich ließe sich heute die Privilegierung dessen, was als ‚Deutsches Volkslied‘ bezeichnet wird, innerhalb des populären Liedgutes schwer rechtfertigen.

Als ein erstes Forschungsresultat der neuen Ausrichtung, die auch durch eine veränderte Sammelpraxis gedeckt ist, kann das hochwertige Songlexikon. Encyclopedia of Songs. Eine Netzpublikation des Zentrums für Populäre Kultur und Musik der Universität Freiburg angesehen werden. Zweihundert Songs (6/2022: 251) werden von verschiedenen Fachleuten nach Entstehung, Wirkungskontext, Form und Inhalt sowie Rezeption vorgestellt. Zugleich finden sich Angaben zu Cover-VersionenFootnote 87 sowie zur Sekundärliteratur. Für den Kommentar eines Rap- Songs wurde sogar die Wissensdatenbank Genius als Quelle genutzt.Footnote 88 Da es sich um bekannte Songs handelt, konkurrieren die meisten der Lieder mittlerweile mit Einträgen in der Wikipedia.

Zu überlegen wäre, die Sammlung und das erschlossene Wissen als Grundlage einer institutionell gesicherten und wirtschaftlich unabhängigen Wissensdatenbank zu verwenden und aus der internen Erschließungsarbeit heraus Kriterien für das kollektive Edieren und Kommentieren abzuleiten. Die wilde Praxis der Laienphilologen auf Genius, die auf eine studentische Initiative zurückgeht, scheint mir dafür wegweisend zu sein. Die epistemische Relevanz des Textkorpus steht fest, wie der Rückgriff der Freiburger Autoren auf die Datenbank zeigt. Aber auch in anderen Kontexten wird zunehmend auf ihr Wissen zurückgegriffen. Für die Analyse von NetzwerkstrukturenFootnote 89 und für die Untersuchung soziolinguistischer FragenFootnote 90 hat sich die Plattform bereits als produktiv erwiesen. Da man an die API von Genius gelangt,Footnote 91 eignet sich das Netzwerk zudem dazu, große, für den Einzelnen nicht überschaubare Datenmengen auszuwerten. Ein Vergleich der nationalen Kritik- und Transkriptionskulturen auf der Plattform böte sich ebenfalls an.

Obgleich die digitalen Analysemethoden die auf Erfahrung basierende und auch bei Laien anzutreffende Kennerschaft außer Kraft gesetzt haben,Footnote 92 sollte man den digitalen Raum nicht ausschließlich als Raum begreifen, der sich individueller Erfahrung verschlösse. Zu dieser Sicht hat eine Fokussierung beigetragen, die unter Digitaler Literaturwissenschaft primär die Einbindung der Technik in die Analyse versteht. Kollektive Kritik wird jedoch weiterhin von Individuen und nicht von Maschinen getätigt, weshalb die mit ihr verbundene philologische Praxis eine subjektive Praxis bleibt. Nur nimmt sie unter den Gesetzen digitaler Medialität andere Formen an als unter den Gesetzen analoger Medialität. Die Funktionsweise des digitalen Mediums und der Unterschied zur analogen Medialität wären durch Beobachtung der laienphilologischen Praxis zu reflektieren, bevor man textkritisch, editorisch und hermeneutisch aktiv wird. So wie man mittlerweile auf der Gegenstandsebene den Begriff des ‚Volksliedes‘ durch den des ‚populären Liedes‘ ersetzt hat, wäre auch die mit dem Volkslied entstandene Methodik zu überprüfen, die auf die Präsentationstechniken der Printkultur abgestimmt war.

Ergänzung 2021

Der NachtragFootnote 93 gibt Anlass zu fünf Differenzierungen und einigen wenigen Ergänzungen von Forschungsliteratur. Erstens möchte ich die von mir hervorgehobene Teilhabe als Eigenschaft digitaler Schriftlichkeit dahingehend relativieren, dass diese von den infrastrukturellen und materiellen Bedingungen der Nutzer abhängt, die wiederum global stark variieren. Zudem handelt es sich um eine potenzielle Teilhabe, da im digitalen Raum eine Asymmetrie zwischen aktiven Nutzern und passiven Nutzern im Sinne traditioneller Rezipienten weiterhin bestehen bleibt und nur ein Bruchteil der zahlreichen Nutzer von Genius an der Plattform mitwirkt. Zweitens ist hinsichtlich der Dynamik der digitalen Schriftlichkeit bzw. ihrer Versatilität zu ergänzen, dass diese selten durch die Nutzer bewerkstelligt wird und dass auch die Anpassung an Endgeräte Standards gehorcht, die von den meist kommerziellen Softwareunternehmen gesetzt worden sind. Die Souveränität über die digitale Schriftlichkeit ist aufgrund fehlender informatischer Kompetenzen vieler Nutzer oder verwehrter Eingriffsmöglichkeiten in den Programmcode eher simuliert als real. Drittens möchte ich mit der Hybridität ein Moment digitaler Schriftlichkeit erwähnen, das in meiner Darstellung nur indirekt angesprochen ist. Diskutiert wird es beispielsweise von Henning LobinFootnote 94, der es von dem Prinzip der Automatisierung ableitet, d. h. der Auslagerung von Rechenprozessen an Maschinen. Dadurch ist die digitale Position immer schon eine hybride Kombination menschlicher und maschineller Agentialität. Die Auswirkungen dieses Merkmals für die Analyse der Verschriftung auf Genius können hier nicht mehr nachgezeichnet werden. Ergänzt sei nur, dass die Agentialität solcher Plattformen immer zweigleisig ist, insofern das, was die Nutzer generieren, einer anderen Logik gehorcht als der algorithmisch erzeugte Handlungsraum, in dem sich eben diese Nutzer frei zu bewegen glauben. Viertens ist für den Vergleich der kollaborativen digitalen und der analogen philologischen Praxis von Bedeutung, dass nur die letztgenannte Rechtfertigungsdiskurse hervorbringt. Analoge Editoren und Herausgeber haben vornehmlich das Privileg, eine schöpferische und individuelle Autorschaft zu entwickeln. Fünftens weist die Interaktion zwischen den musikalischen Urhebern einerseits und den sie bzw. ihre Texte beobachtenden Nutzern andererseits Parallelen auf zur Kommunikation von literarischen Autorinnen und Autoren mit der sie beobachtenden Kritik. Auf den einschlägigen Plattformen wie Twitter interagieren sie mit ihrem Publikum; vor allem arbeiten sie gemeinsam mit der Gegenwartsliteraturwissenschaft am Verständnis ihrer Texte – eine Praxis freilich, deren Entwicklung in der Klassischen Moderne begann.

Einige Titel aus der Forschungsliteratur seien abschließend ergänzt: Meine Behauptung, die „Träger der populären Kultur“ machten durch ihren laienphilologischen Umgang mit Songs, insbesondere Rap-Songs, diese mit dem „literaturwissenschaftlichen Gattungsbegriff der ‚Lyrik‘ kompatibel“, bestätigt der Aufsatz von Philipp BöttcherFootnote 95, der auf den Seiten 78 bis 81 eine kurze Beschreibung der Plattform Genius gibt. – Die dezentralisierte und kollaborative Sammelpraxis erinnert, da im selben Bereich der kommerziellen Musik stattfindend, an die Praxis der frühen Internet-User um 2000, sich eine eigene Plattform für das Teilen von Musik zu schaffen. Über diese Vorgänge informiert Mercedes Bunz.Footnote 96 – Den Umstand, dass sich die „Emphase auf die Stimme […] kompensatorisch aus dem Fehlen phonographischer Techniken erklären“ lässt, reflektiert Steffen Wallach.Footnote 97 Der Fiktion der Mündlichkeit bei den Grimms und den inhärenten Gemeinschaftskonzepten der Märchenphilologie widmet sich Mark-Georg Dehrmann.Footnote 98 Ergänzen möchte ich zu meinen Herder-Ausführungen, dass Herder durchaus auch individuell verfasste Lieder als volksmäßig verstanden hat und, bedingt durch fehlende Zeugnisse, kaum den globalen Süden für sein global angelegtes Volksliedprojekt berücksichtigen konnte. Im Aufsatz zu Herder und GräterFootnote 99 diskutiere ich Herders Theorie und Praxis der Lied-Überlieferung im historischen Kontext. – Zur Frage der Veränderbarkeit von digitaler Schrift sei nachträglich auf das klassische Buch von N. Katherine Hayles verwiesen, die digitale Texte als „text-as-flickering-image“ bezeichnet.Footnote 100 – Zusätzlich zu den genannten Arbeiten zur Partizipationskultur, Interaktivität und kollektiver Korpus-Arbeit verweise ich auf die Studien der Theoriebegründer Howard RheingoldFootnote 101 sowie Ramón Reichert.Footnote 102 Die gemeinschaftliche Textumgangsform ist wiederum Teil einer Kultur der Digitalität, wie sie von Felix StalderFootnote 103 beschrieben wird. Neben Referentialität und Algorithmizität spricht er von Gemeinschaftlichkeit als einem Konzept, mit dem die Neuordnung von Technik und Gesellschaft erfasst werden kann. Gemeint ist ein kollektiver „Referenzrahmen“, durch den „Bedeutungen stabilisiert, Handlungsoptionen generiert und Ressourcen zugänglich gemacht werden.“Footnote 104 Zugleich werde „soziales Handeln […] in zunehmend komplexere Technologien eingebettet, ohne die diese Prozesse kaum zu denken und schon gar nicht zu bewerkstelligen wären.“Footnote 105 Arbeiten zum kollaborativen Schreiben sind in den letzten Jahren zahlreich erschienen, allerdings gibt es kaum etwas zur kollaborativen philologischen Praxis. Am ehesten wäre noch die Wikipedia-Forschung zu Rate zu ziehen.Footnote 106