1 Einleitung

Im Folgenden fragen wir nach dem Stellenwert von ‚Digitalität‘ für die Geschichte der literaturwissenschaftlichen Germanistik. Es geht uns theoretisch, methodisch und methodologisch um die Frage, wie digitale Daten und Datenverarbeitungsverfahren den Blick auf die Fachgeschichte verändern, welche Untersuchungsrichtungen insbesondere durch makroskopische Verfahren nahegelegt werden und welche Erkenntnisinteressen dabei eher in den Hintergrund treten. Die wissenschaftspolitische und normative Komponente des Projekts liegt darin, dass wir uns eine Beschreibung des Fachs wünschen, die die Vielfalt der Funktionen und Leistungen angemessen in den Blick rückt und so etwa auch besser bestimmen kann, was sich durch das Auftreten von Digital Humanities verändert, wo Anschlussprobleme bestehen und Kooperationsmöglichkeiten verbessert werden könnten.

Die Selbstbeschreibung der deutschen Philologie und Literaturwissenschaft arbeitet traditionell mit starken Homogenitätsunterstellungen. Dies hat nicht zuletzt mit der Autosuggestion durch den schwer vermeidbaren Kollektivsingular ‚die Germanistik‘ zu tun, der seinen Gegenstand in der Regel schon deswegen verfehlt, weil – je nach Standpunkt – eher die Sprachwissenschaft gemeint ist oder eine Institution, die auf sehr verschiedene Lehrämter vorbereitet, oder – wie im Folgenden – die Ältere oder Neuere deutsche Literaturwissenschaft (ÄdL bzw. NdL). Aber selbst innerhalb der einzelnen Teilbereiche zeigt sich schnell, wie problematisch und unfruchtbar es ist, in einem hohen Maß ‚Einheit‘ vorauszusetzen. Entweder werden dann einzelne Perspektiven zu allgemeinen Diagnosen über den Zustand des Fachs, seine Aufgaben und seine Zukunft hochgerechnet, und man ist leicht enttäuscht, wenn die Idee des Fachs mit dessen Realitäten kollidiert, oder man kapituliert vor der Vielfalt, konstatiert die zunehmende Unübersichtlichkeit und den Verlust an Einheit, wobei natürlich auch dabei unterstellt wird, das Fach könne insgesamt überblickt werden.Footnote 1 Wie aber gelingt eine angemessene und differenzierte Beschreibung einer ganzen Disziplin oder eines Fachs? Es liegt nahe, sich wichtige Impulse von jenen digitalen Verfahren zu versprechen, die mit größeren Datenmengen arbeiten.

In beiden Varianten des Krisendiskurses dominiert die doxographische Auffassung des Fachs, das bevorzugt aus Perspektive von Theorien, Programmatiken und darauf bezogenen Selbstbeschreibungen rekonstruiert wird. Demgegenüber werden die wissenschaftlichen Routinen unterschätzt, die hinter dem Rücken der Akteure ablaufen, den Alltag strukturieren und für eine robuste Praxis sorgen.Footnote 2 Nimmt man hingegen eine praxeologische Haltung ein,Footnote 3 verlieren zum einen Theorien und Programme ihren privilegierten Status, weil ‚Theoretisieren‘ und ‚Programmieren‘ dann nur noch Praktiken neben anderen sind und gefragt werden kann, wie solche Operationen in eine komplexe Praxis eingebunden werden.Footnote 4 Zum anderen erweist sich ein Fach wie ‚die Germanistik‘ dann – so eine der zu überprüfenden Ausgangshypothesen – auf eine regelmäßige und gleichmäßige Weise als heterogen; es setzt sich aus Sets von Praktiken zusammen, die durch Familienähnlichkeiten zusammengehalten werden; diese Ensembles von Praktiken bilden „Arbeitseinheiten“Footnote 5 aus und lassen bemerkenswert große, aber nicht beliebig viele Spielräume.

So gesehen, erscheint der Zustand der literaturwissenschaftlichen Germanistik insofern weniger krisenhaft, als viele jener Charakteristika, die als problematisch wahrgenommen werden, keine fachspezifischen Ausnahmeerscheinungen sind. Somit stellt sich eher die Frage, in welchen Fächern die strukturelle Normalität Besorgnis erregt und wann sie keine Probleme bereitet. Zudem unterbreitet die Praxeologie alternative Einheitsangebote. Die ‚Einheit des Fachs‘ liegt demnach weniger in dem auf Differenz und Unterschied bedachten deklarativen Wissen als vielmehr im prozeduralen Wissen, nicht im „knowing that“, sondern im „know how“:Footnote 6 in den alltäglichen Verrichtungen, in den eingeübten Aktivitäten und in jenen Routinen, die zu vertraut und unscheinbar sind, als dass sie bedenkenswert erscheinen. So hat etwa die programmatische und theoretische Problematisierung der Autor-Kategorie sehr viel mehr Aufmerksamkeit auf sich gezogen als deren erstaunlich ungebrochenes Weiterleben in Interpretationsverfahren;Footnote 7 und die geläufige Privilegierung eines ‚weiten‘ gegenüber einem ‚engen‘ Literaturbegriff hat die normativen Gewohnheiten (z. B. der Erwartung besonderer epistemischer Leistungen von ‚Literatur‘) ebenso wenig wie die Verfahren der literaturhistorischen Kodifizierung tiefgreifend verändertFootnote 8 – im Gegenteil: Es lässt sich gerade unter der Bedingung einer digitalen Erweiterung von Untersuchungskorpora ein eher konservatives, konventionelles Aufmerksamkeits- und Selektionsverhalten feststellen.Footnote 9

Für die Frage nach einer Digitalen Literaturwissenschaft ist dieser Befund in zweierlei Hinsicht relevant: Zum einen stellt sich die Frage nach den Quellen der Praxis,Footnote 10 mithin danach, inwiefern digitale Analyseverfahren das literaturwissenschaftliche Alltagsgeschäft erhellen. Konkret: Inwiefern sind die Ausweitungen und die (derzeit) damit einhergehenden Limitierungen des Untersuchungsdesigns durch korpusanalytische Verfahren für eine praxeologische Beobachtung der Germanistik in besonderer Weise aufschlussreich? Eine gewisse analytische Flachheit, die aus Perspektive einer nicht immer gut informierten Kritik an den Digital Humanities grundsätzlich behauptet wird,Footnote 11 könnte sich nicht nur als Vorteil erweisen, weil damit die enorme Ausweitung des Blicks erkauft wird, sondern weil dies auch zur Untersuchung von Aspekten zwingt, die trivial erscheinen und gerade deswegen einen ungewohnten Blick auf die Selbstverständlichkeiten eines Fach erlauben. Zum anderen sollte sich die Titelfrage unseres Beitrags („Was verändert sich eigentlich?“) gerade auch im Blick auf die Digitalisierung stellen. Wie also lassen sich entsprechende Veränderungen beschreiben, wenn das prozedurale Wissen fokussiert und der Kollektivsingular ‚die Germanistik‘ ebenso vorsichtig verwendet würde wie ‚die Digitalisierung‘?

Als Experimentierfläche haben wir die Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (DVjs) ausgewählt.Footnote 12 Dies hat zunächst einen pragmatischen Grund: Es liegt eine stichprobenartige quantitative Analyse der Zeitschrift für den Zeitraum von 1960 bis 2009 vor, die die oben genannten Hypothesen stützt,Footnote 13 nämlich den Befund einer stabilen und normalen Heterogenität. Der vorliegende Beitrag kann einige dieser Befunde als Vorlage nutzen und sie mit Verfahren der digitalen Analyse in einer Serie von ‚Experimenten‘ überprüfen – allein dieses Vorgehen ist bereits charakteristisch für die Einstellung vieler Digital Humanists.Footnote 14 Für unsere Korpusanalyse haben wir die DVjs folgendermaßen aufbereitet: Die Texte wurden aus dem PDF-Format in TEI-Dokumente konvertiert, wobei vor allem einige wichtige Strukturelemente (Überschrift, Absatz, Fußnoten) ausgezeichnet wurden.Footnote 15 Außerdem wurden innerhalb der Fußnoten die einzelnen bibliographischen Referenzen mit einem regelbasierten Verfahren extrahiert. Insgesamt handelt es sich um rund 2234 Dateien, die Aufsätze enthalten, welche in der DVjs von 1923 bis 2009 erschienen sind. Das Korpus besteht aus rund 25.686.069 Tokens, also Worten und Satzzeichen.Footnote 16

Neben den pragmatischen Gründen unserer Experimentalanordnung gibt es eine Reihe von Eigenschaften, die die DVjs als geeigneten Analysegegenstand auszeichnen: Die Zeitschrift reagiert auf eine Phase der Fachgeschichte, in der der Methodenpluralismus offensiv reflektiert wird, sodass konzeptionell neue Formen der Disparität akzeptabel erschienen. Die DVjs reagierte darauf affirmativ: Sie erkannte die „verschiedenen Richtungen der Literaturgeschichte“ an, und zwar als „lebendiges Nebeneinander“, das für die „heutige Lage dieser Wissenschaft charakteristisch“ sei. Zwar wurden Editionsprojekte, Miszellen, „alles Reinbiographische“ und ‚bloße‘ „Materialsammlungen“ ebenso ausgeschlossen wie „rein stoffliche Quellenuntersuchungen“, gleichwohl galt der Grundsatz, dass „philologische Strenge und Gewissenhaftigkeit selbstverständliche Voraussetzung bleiben müssen“.Footnote 17 Mit anderen Worten: Die DVjs entwickelte ihr Profil durch einen produktiven Umgang mit Spielräumen (etwa zwischen ‚positivistischer‘ Mikrologie und ‚geistesgeschichtlichen‘ Syntheseversprechen, die in den 1920er Jahren in die Krise geraten waren).Footnote 18 Sie eignet sich daher gut für die Untersuchung der Einheit oder Disparität von Literaturwissenschaft. Dies gilt gerade auch deswegen, weil die Zeitschrift zwar einen eindeutigen Schwerpunkt im germanistischen Bereich hat, sich aber dezidiert als interdisziplinäres Unternehmen versteht und sich in unterschiedlichen Graden um Internationalität bemüht.

Dass die DVjs immer mehr gewesen ist als eine „Zeitschrift für deutsche Philologie“, stellt eine technische Herausforderung dar: Sie enthält von Anfang an und bis heute neben Texten aus den Bereichen älterer und neuerer deutscher Literaturwissenschaft auch Beiträge aus anderen Philologien, z. B. der Anglistik und der Romanistik, aber auch Studien aus anderen Nachbardisziplinen, z. B. aus der Musikwissenschaft und vor allem in den ersten Jahrzehnten aus der Philosophie. Seit den 1960er Jahren enthält sie auch Beiträge in englischer Sprache. Aus der Perspektive einer quantitativen Analyse sind dies Störvariablen, insbesondere weil keine Metadaten existieren, die es erlauben, die Fach-Gruppen systematisch zu kontrollieren. Daher war es notwendig, in einem ersten Schritt diese Metadaten automatisch zu erheben, was aber nicht in der feinen Granularität möglich war, die wünschenswert wäre. Zuerst wurden die Texte nach ihrer Sprache unterteilt. Von den mehr als 2200 Beiträgen sind rund 2040 in deutscher Sprache verfasst und 185 in englischer Sprache.Footnote 19 Um die Fächer zu erkennen, haben wir rund 200 Texte manuell als mediävistisch, neuphilologisch oder sonstig gelabelt, allerdings sind die Klassen sehr ungleichgewichtig vertreten: neuphilologisch: 127, mediävistisch: 46, sonstig: 35. Grundlage für die Erkennung, die sogenannten Features, waren alle Wörter. Dennoch ist es erstaunlich, dass die Accurracy der Erkennung recht niedrig liegt, nämlich durchschnittlich nur bei 75 %.Footnote 20 Für die im Folgenden diskutierten Untersuchungen wurden sämtliche deutschsprachigen oder die deutschsprachigen neuphilologischen Texte verwendet.

Ein zweiter Aspekt, der die DVjs als Gegenstand auszeichnet, liegt in der programmatischen Kontinuität, die jedoch nur in bestimmten Hinsichten auch als pragmatische Beständigkeit gedeutet werden kann. Tatsächlich agiert die Zeitschrift auf eine relativ stabile Weise als Teil des Sozialsystems ‚Wissenschaft‘ und lässt sich von außen wenig irritieren. Dies verhindert einerseits nicht, dass sich Anschlüsse zum Nationalsozialismus ergeben, weil die Germanistik ohnehin in großen Teilen Affinitäten zu dessen Gedankengut und Vokabular aufwies.Footnote 21 Andererseits mussten bei der Fortsetzung der DVjs in der Nachkriegszeit nach der erzwungenen Pause in den Jahren 1945 bis 1948 erneut relativ wenige Anpassungen vorgenommen werden. Die Periode zwischen 1933 und 1945 markierte konzeptionell kaum eine Zäsur, auch wenn kosmetische Anpassungsleistungen erbracht wurden und Erich Rothacker, einer der beiden ersten Hauptherausgeber, ein begeisterter Nationalsozialist war, der antisemitische Ausgrenzungen befördert hat.Footnote 22 In einem Gutachten der Reichstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums jedenfalls wurde 1938 bemängelt, dass sich nach Lektüre der DVjs nicht der Eindruck einstelle, 1933 habe sich „in Deutschland […] manches geändert“, vielmehr erscheint es dem ‚Amt Rosenberg‘ so, als verschließe sich das Periodikum „bewusst und hermetisch gegen jeden Hauch der Gegenwart“.Footnote 23 Ähnliches galt für die Kontinuität über die politische Grenze des Jahres 1945 hinweg.Footnote 24 Entsprechend bestätigte ein Verlagsprospekt zur Fortsetzung der DVjs im Jahr 1949 die Programmatik von 1923, ergänzt um die Wertschätzung für die bereits vor 1945 vertretenen und von der Werkimmanenz geadelten „Interpretationen“, mit einem neuen Akzent auf komparatistischen Interessen sowie mit einer verringerten Reserve gegenüber „Funden“.Footnote 25

Diese additive programmatische Ergänzung lässt erwarten, dass sich das Spektrum lediglich erweiterte und die Herausgeber ein noch umfangreicheres Integrationsangebot als zuvor anboten. Tatsächlich aber verbergen sich etwa hinter dem Stichwort ‚Interpretation‘ neue Schreibweisen; die Art der in der DVjs veröffentlichten Texte veränderte sich offensichtlich, und es fällt leicht, einen Beitrag von 1923 von einem Aufsatz des Jahres 2003 zu unterscheiden. Wie also bildet sich das programmatische Selbstverständnis in jenen Befunden ab, die sich aus einer Makroperspektive ergeben? Wie entwickelt sich die Zeitschrift unter der Federführung unterschiedlicher Herausgeber? Und wie korreliert die Entwicklung der Zeitschrift mit der Fachentwicklung? Verändern sich die Darstellungsformen bei gleichbleibend breitem Spektrum von Zugängen zur ‚Literatur‘, sodass die DVjs Einblicke in den Zustand der literaturwissenschaftlichen Germanistik insgesamt gewährt?

Diesem letzten Aspekt haben wir uns für den Zeitraum von 1960 bis 1980 über eine Netzwerkanalyse genähert, die mit den Daten der Germanistik operiert.Footnote 26 Geht man davon aus, dass „Fachzeitschriften“ das wissenschaftliche Feld strukturieren, „indem sie Fächer, Forschungsschwerpunkte und Gruppenbildungen sichtbar machen […]“,Footnote 27 dann stellt sich die Frage, wie man diese Strukturen identifiziert – angesichts der sehr großen Datenmengen, die Zeitschriften produzieren: Gilt die DVjs zurecht als „führende[] literaturwissenschaftliche[] Zeitschrift Deutschlands“?Footnote 28 Ein Blick in das Verlagsarchiv der DVjs im Deutschen Literaturarchiv, Marbach a.N., unterstützt diese Einschätzung insofern, als die Herausgeber aus einem beträchtlichen Überangebot auswählen können und stets mehr Ab- als Zusagen verteilen. Dieser Befund zeigt zudem, dass den Zeitschriftenmachern erhebliche Gestaltungsmöglichkeiten zur Verfügung standen.

Die Analyse von Zeitschriften- und Kopublikationsnetzwerken auf Grundlage der Germanistik, des „Internationalen Referatenorgans mit bibliographischen Hinweisen“, bestätigt den Stellenwert der DVjs.Footnote 29 Dabei muss einkalkuliert werden, dass sich das bedeutende Informationsmedium, wie die Dokumente des Redaktionsarchivs (DLA, Marbach a.N.) zeigen, vergeblich um Vollständigkeit bemüht – die Verantwortlichen machen sich darüber keine Illusionen.Footnote 30 Gleichwohl sind sich alle Akteure über das Ziel einig, möglichst umfassend über germanistische Publikationen zu informieren, und die Nutzer schätzen den Informationsgehalt entsprechend ein.Footnote 31 Diese Unschärfe vorausgesetzt, haben wir gefragt, welche Autoren mit je eigenen Beiträgen gemeinsam in einer Zeitschrift und zugleich in einer anderen Zeitschrift vertreten sind. Wir vermuten, dass sich daraus erkennen lässt, welche Zeitschrift(en) die Akteure als Publikationsort privilegieren und damit von der Fachcommunity für am wichtigsten gehalten werden. Auf das Netzwerk von Zeitschriften, das sich auf Grundlage von gemeinsamen Autoren ermitteln lässt, wurde das netzwerkanalytische Gruppierungsverfahren der Community Detection bzw. Clique Detection angewendet.Footnote 32 Dieses Verfahren ordnet Zeitschriften einer gemeinsamen Gruppe zu, sofern eine möglichst große Anzahl von Autoren jeweils Beiträge in möglichst vielen Zeitschriften der betreffenden Gruppe veröffentlicht hat.Footnote 33 Tatsächlich ergab sich aus diesem quantitativen Verfahren eine intuitiv plausible Gruppierung von Zeitschriften, bei der die DVjs hinsichtlich verschiedener netzwerkanalytischer KennzahlenFootnote 34 auf vorderen Plätzen rangiert und zusammen u. a. mit den folgenden Periodika einer gemeinsamen Gruppe zugeordnet wird: Zeitschrift für deutsche Philologie, Euphorion, Germanisch-romanische Monatsschrift, Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, Wirkendes Wort, Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur, Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur. Im Gesamtnetzwerk ist diese Gruppe, die wir provisorisch als ‚A-Zeitschriften‘ bezeichnen, wie in Abb. 1 platziert.Footnote 35

Abb. 1
figure 1

Kern des Zeitschriftennetzwerks aufgrund gemeinsamer Autoren 1960–80Footnote

(Liste der Zeitschriftentitel im Anhang). Die Breite der Verbindungslinien ist ein Zeichen für die Menge der Autoren, die in beiden Zeitschriftengruppen publizieren.

Wir haben uns einer korpusanalytischen Untersuchung der DVjs in drei Schritten genähert: In einer ersten Gruppe von ‚Experimenten‘ geht es darum, wie sich die Verarbeitung von Forschung über die Zeit hinweg geändert hat, untersucht auf der Grundlage der Fußnotenmenge. In der zweiten Gruppe werden auf einer sehr einfachen Grundlage, der Länge der Texte und Fußnoten, Schlussfolgerungen über die Veränderungen der Arbeitsweisen gezogen. In der dritten und umfangreichsten Gruppe geht es um die Entwicklung des sprachlichen Verhaltens in der Literaturwissenschaft und um die Frage, ob sich diese Entwicklung als Formierung einer Wissenschaftssprache beschreiben lässt. Uns scheint es wichtig, auch über die gescheiterten Experimente zu berichten, also jene Versuche, die Ergebnisse erbracht haben, die wir nicht sinnvoll interpretieren konnten. Das ist das Thema des vorletzten Abschnitts. Zuletzt versuchen wir, die Erfahrungen in der gemeinsamen Arbeit zu reflektieren, um abstrahiert von unserem direkten Forschungsgegenstand der Frage nachzugehen, wie sich die Arbeit von Literaturwissenschaftlern, die Fachgeschichte betreiben, dadurch verändert, dass sie quantitative Verfahren verwenden.

2 Erstes Experiment: Mengenverhältnisse und die Wahrnehmung von Forschung

In einem ersten Schritt haben wir uns auf die Analyse von Fußnoten konzentriert (Abb. 2). Hintergrund waren zum einen allgemeine Überlegungen zum Status der Anmerkungspraxis: In Anmerkungen artikuliert sich eine Art ‚zweite Stimme‘ wissenschaftlicher Personen, der zum Teil sehr strikte Regeln auferlegt werden (etwa beim Prinzip konsequenter Zitationsweise), die sich aber auch mehr Freiheiten als die ‚erste Stimme‘ des Haupttextes erlauben kann, etwa bei der Formulierung von Mutmaßungen oder persönlicher Kommentare.Footnote 37 An diesem im Seitenbild ausgewiesenen Ort werden eigene, verwandte und fremde Wissensansprüche modalisiert und vermittelt; hier zeigt sich das Gespür für ein angemessenes und ausreichendes Maß an Dialogizität und Vielstimmigkeit, für die Fähigkeit zur Situierung einer Forschungsfrage im Forschungszusammenhang, zur Perspektivierung ‚epistemischer Dinge‘ und zur Verwaltung jener Grenze, die ‚Wissenschaft‘ von ihren Umwelten trennt und die den Raum markiert, der für Positionierungen einer Scientific Persona zur Verfügung steht. Von wesentlicher Bedeutung ist dabei die Dokumentation von Anbahnungsleistungen (Lektüre von Primär- und vor allem Sekundärliteratur), die zur ‚eigenen‘ Erkenntnis geführt haben. Mit einem Wort: Anmerkungen geben wichtige Hinweise auf das Ethos,Footnote 38 mit dem ein Beitrag verfasst wurde.Footnote 39 Anmerkungen leisten also sehr viel und verdeutlichen in nuce die ganze Multinormativität literaturwissenschaftlichen Arbeitens, bei dem es nicht nur um ‚Wahres‘ und ‚Falsches‘ geht, sondern auch um Richtiges, Passendes, Fruchtbares, Interessantes, Spannendes, Relevantes u. v. a. m.Footnote 40 Angesichts dieser Implikationen, so unsere Vermutung, werden selbst scheinbar einfache Daten (Anzahl, Länge, Verteilung etc.) zu implikationsreichen, im Prinzip deutungsbedürftigen Indikatoren.Footnote 41

Abb. 2
figure 2

Durchschnittliche Anzahl der Fußnoten

Diese Einschätzung deckt sich mit Befunden des DVjs-Archivs: Die Herausgeber nehmen die angemessene Reflexion auf den Forschungsstand sehr wichtig. Immer wieder weisen sie Beiträger darauf hin, dass ihr Aufsatz nicht angenommen wird, weil er unzulänglich mit Sekundärliteraturbelegen ausgestattet ist, oder fordern Autoren von Beiträgen, die sie annehmen möchten, zu Ergänzungen auf. Die Menge der Fußnoten hat also etwas damit zu tun, wie sich ein Beitrag und damit die Zeitschrift insgesamt in der ‚Wissenschaft‘ platziert.

Bei der Analyse der durchschnittlichen Fußnotenzahl eines Textes pro Jahr zeigen sich drei bemerkenswerte Sachverhalte:

  1. 1.

    Die Anzahl der Fußnoten nimmt über den Untersuchungszeitraum zu. Die Entwicklung verläuft nicht kontinuierlich, sondern geschieht in Sprüngen, sodass man von drei Phasen sprechen kann, die in sich relativ homogen sind, während sie sich untereinander signifikant unterscheiden. Homogen bleibt dabei das starke, aber gleichbleibende Schwanken der durchschnittlichen Fußnotenmenge. Der Umfang des Anmerkungsapparats pendelt um einen Mittelwert mit relativ hohen Abweichungen. Zu fragen bleibt, mit welchen Textsorten, Gegenständen, Methoden oder Fachrichtungen (z. B. ÄdL oder NdL) die unterschiedlichen Ausschläge korrelieren. Bei welchen epistemischen Dingen muss eine ‚Forschungslage‘ umfassend mitgeführt werden und wo nicht? Gibt es bestimmte Zugriffe, die als so originell gelten, dass sie aus dem bewährten Spiel ausscheren und sich den Bezug darauf ersparen dürfen?Footnote 42 Gehen die Abweichungen eher zugunsten oder zuungunsten ausführlicher Anmerkungsapparate, und zeigen sich hierbei im Lauf der Zeit Trends in die eine oder in die andere Richtung?

  2. 2.

    Entscheidend ist für uns zunächst, dass die Fußnotenanzahl innerhalb eines bestimmten Spektrums bleibt. Dies deckt sich mit der Hypothese, dass in einem Fach wie der literaturwissenschaftlichen Germanistik generell sehr viel, aber nicht alles möglich ist, wenn man dazugehören will. Es gibt ein normales Maß an Varianz, das sich jedoch über einen Zeitraum von ca. einem Jahrhundert relativ wenig verschiebt oder sogar annähernd gleichbleibt. Die These radikal zunehmender und daher krisenhafter Diversität bestätigt sich in dieser Hinsicht nicht. Zugleich lässt sich beobachten, dass die Anzahl der Fußnoten generell ansteigt. Offenbar wächst der Erkenntnishaushalt, der mitgeführt, beachtet und verwaltet wird. Man muss mehr im Blick behalten, berücksichtigen und vielleicht auch kognitiv verarbeiten. Bedeutet dies, dass der argumentative Aufwand steigt? Oder entwickeln sich alternative Formen, mit denen etablierte Wissensansprüche verabschiedet und eigene Innovationsansprüche erhoben werden (etwa durch bestimmte Belegstrategien wie kumulative Fußnoten, allgemeine Verweise etc.)? Lassen sich Rückschlüsse auf das Bewusstsein der ‚Fortschrittlichkeit‘ des Fachs ziehen?

  3. 3.

    Zu den bemerkenswertesten Ergebnissen der Fußnotenzählung gehört schließlich der Befund, dass die Quantität nicht kontinuierlich ansteigt, sondern sich in zwei Schüben vollzieht: Ein erster Schub datiert auf die Zeit ‚um 1960‘, ein zweiter Schub ereignet sich ‚um 1990‘. Es liegt nahe, die Hinweise auf wissenschaftshistorische Etappen als Indizien für Modernisierungsprozesse und -phasen zu deuten, die womöglich mit Generationenwechseln zu tun haben. Dies gilt zumindest für die wichtige Transformationsphase der Nachkriegsgermanistik. Diese Entwicklung bezieht etwa Oliver Sill auf umfassende und tiefgreifende „gesellschaftliche[] Modernisierungsprozesse“, in denen die traditionellen Bildungswerte und Bildungstitel, die für den Status der literaturwissenschaftlichen Germanistik in ihrer Phase der Etablierung und Konsolidierung von zentraler Bedeutung waren, an Relevanz einbüßen.Footnote 43 Diese Veränderungen betreffen diverse Faktoren auf sehr unterschiedlichen Ebenen: die steigende Zahl von Studierenden, der Ausbau des Personals in Forschung und Lehre, der zunehmende Legitimationsdruck angesichts der politischen Kontamination der Fachgeschichte, die Reform der Deutschlehrerausbildung und anderer Studiengänge, die Neubestimmung von Gegenstandsbereichen, intensivierte methodische Reflexion, Zweifel an der Praxisrelevanz u. v. a. m.Footnote 44 Entsprechend verortet Sill diese historische Gelenkstelle in die Zeit zwischen „1965 und 1980“.Footnote 45

Wir haben an dieser Stelle kein Gegenangebot zu unterbreiten, halten es aber für bemerkenswert, dass sich der von uns festgestellte Veränderungsschub mit Blick auf die Wahrnehmung von Forschung und damit auf die Platzierung im literaturwissenschaftlichen Kommunikationszusammenhang weder zeitlich noch in der beschriebenen Eskalationsdynamik mit dem intuitiv plausiblen Befund von Sill deckt (Befunde, auf die wir unten eingehen, stimmen damit hingegen eher überein). Damit könnte die Stabilität der Phase zwischen ‚um 1960‘ und ‚um 1990‘ darauf hindeuten, dass bestimmte Praktiken, Genres und Medien von institutionellen Veränderungen nicht (direkt) beeinflusst werden und sich zudem gegenüber theoretischen und programmatischen Veränderungen relativ resistent erweisen. So sollten etwa die Evolution des Sozialsystems ‚Wissenschaft‘ und der Institution ‚Universität‘ differenziert behandelt werden.Footnote 46 Dies entspräche der oben referierten Diagnose, der zufolge die Entwicklung der DVjs relativ autonom verläuft und sich ‚von außen‘ nicht leicht irritieren lässt. So etwas wie eine ‚Umbruchphase‘ ereignete sich jedenfalls aus der Fußnotenperspektive der Germanistik nicht rund um das magische Datum ‚1968‘. Entsprechend wären weder ältere Bezugskonzepte zu privilegieren, die ‚1945‘ als Zäsur annehmen, noch neuere soziologische und sozialhistorische Modelle, die den entscheidenden strukturgeschichtlichen Wandel auf die 1970er Jahre datieren.Footnote 47 Vielmehr sollten dann eher solche Konzepte priorisiert werden, die in den 1950er Jahren ansetzen.Footnote 48 Wie auch immer man sich entscheidet: Die quantitative Analyse wirft mit Blick auf die Konzeption der germanistischen Wissenschaftsgeschichte in ihren Kontexten zahlreiche Fragen von erheblicher Tragweite auf.

3 Zweites Experiment: Längenverhältnisse und ‚Passung‘ von Beiträgen

Ein letzter Befund zu den Fußnoten betrifft nicht deren Anzahl, sondern deren zunehmende Länge (gemessen wurde die Länge in Anzahl der Zeichen, also Buchstaben, Satzzeichen, Leerzeichen usw.; Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Durchschnittliche Länge der Fußnoten

Hier zeigt sich eine klare steigende Tendenz, die zumindest ab 1950 bei ungefähr gleicher Varianz recht kontinuierlich ist und somit keines der bislang erwähnten Diskontinuitätsmodelle stützt. Der Umstand, dass sich hier die beiden Phasen nicht finden, die die Entwicklung der Fußnotenmengen indiziert, wirft die Frage auf, welchen alternativen Entwicklungslogiken die Menge und die Länge von Fußnoten folgen könnten.

Es mag auf den ersten Blick zu trivial erscheinen, sich solche Fragen zu stellen. Die Relevanz von quantitativen Verhältnissen erschließt sich jedoch aus der Perspektive des Archivs. Die dort artikulierten Bewertungspraktiken der DVjs-Herausgeber charakterisiert, dass sie bei der Annahme oder Ablehnung ein ganzes Ensemble von Normen zur Geltung brachten, und dies eben auch unter Bezugnahme auf Quantitäten. Die Kriterien gruppieren sich dabei nur lose um Qualitäten wie ‚wahr‘ oder ‚richtig‘. Entscheidend ist das Gespür dafür, welche Beiträge zum Profil der DVjs in einem Gefüge von Zeitschriften ‚passen‘,Footnote 49 und für diese Einschätzung waren eben auch quantitative Verhältnisse ausschlaggebend. PassungsproblemeFootnote 50 wurden zum Teil dem Gegenstand angelastet: Die Herausgeber stellten dann fest, ein Forschungsobjekt sei zu wenig ‚bedeutend‘, ‚wesentlich‘ oder ‚zentral‘, um angesichts eines Überangebots von Beiträgen in der DVjs behandelt zu werden. Zum Teil liegt es aber auch an der Art und Weise, wie mit einem epistemischen Ding umgegangen wurde. Als Hauptkriterium diente dann die Einschätzung der Innovationsleistung eines Aufsatzes, die am bisherigen Forschungsstand gemessen wurde.Footnote 51

An dieser Stelle ist die bereits erwähnte Aufmerksamkeit der Herausgeber für Anmerkungen bemerkenswert: Regelmäßig listete Paul Kluckhohn Titel auf, die von einem Beiträger noch verarbeitet werden sollten. Die Entscheidung über die Passung eines Beitrags hing also auch mit (intuitiv bemessenen) quantitativen Kriterien zusammen. Nur bei angemessener Ausstattung mit Fußnoten, so das Argument, ließe sich ein wissenschaftlicher Innovationsanspruch erheben. Die Verbindung von ‚Innovation‘ und ‚Wissenschaftlichkeit‘ meint die Einbettung epistemischer Aktivitäten in das Sozial- und Kommunikationssystem ‚Wissenschaft‘. Anmerkungen sorgten dafür, dass die Zeitschrift insgesamt ihren ‚Stellenwert‘ auf dem Feld der literaturwissenschaftlichen Publikationsmedien bewahren konnte. Die Menge und vielleicht auch die Länge von Verweisen war daher für die Annahme oder Ablehnung auch deswegen von Bedeutung, weil es dabei um die Passung für das avisierte Zielpublikum ging: Bemängelt wurde etwa, wenn ein Beitrag sich an ein ‚weiteres Publikum‘ richtete, also an Adressaten, die keine oder zu wenige ‚wissenschaftliche‘ Interessen verfolgten – für diese Gruppe konnte man gern auf Forschungsreferenzen verzichten oder sie nur unvollständig anführen.

Noch in einer zweiten Hinsicht arbeiteten die Herausgeber stetig mit quantitativen Kriterien: Bei den Rückmeldungen an (potenzielle) Beiträger spielte die Länge der angebotenen Aufsätze eine zentrale Rolle: So gut wie jeder wurde zu Kürzungen aufgefordert. Die Herausgeber reklamierten mithin ein Gespür dafür, wieviel Platz die ‚passende‘ Thematisierung eines ‚passenden‘ Gegenstandes in der DVjs in der Regel beanspruchen durfte. Ein Blick auf die durchschnittliche Länge der Texte in einem Jahr zeigt erhebliche Schwankungen (Abb. 4).

Abb. 4
figure 4

Durchschnittliche Länge der Texte (in Zeichen)

Erneut ergibt sich ein bekannter Befund: Die Länge der Aufsätze pendelt trotz großer Schwankungen um ein relativ gleichbleibendes Mittelmaß. Wichtig ist dabei, dass den Herausgebern offenbar Spielräume zur Verfügung standen. Mehr Platz nahmen sie sich z. B. für Themenhefte. Auch Forschungsberichten, die viele der sehr langen Texte (über 300.000 Zeichen) ausmachen, wurde eine Sonderrolle zugestanden.

Aus unseren Untersuchungen ergeben sich mehrere Anschlussfragen. Besonders interessant wäre es, wenn ein systematischer Zusammenhang zwischen der Länge der Texte und anderen Faktoren hergestellt werden könnte. Kandidaten für solche Faktoren sind unserer Einschätzung nach aufgrund der Sichtung der Herausgeber-Korrespondenz und der Untersuchung der ungewöhnlich langen Texte folgende: Zugeständnisse an bestimmte Beiträger (z. B. besonders renommierte oder persönlich eng verbundene Autoren), generische Aspekte (z. B. Sonderstatus der Forschungsberichte), inhaltliche Faktoren (z. B. das Interesse an bestimmten Gegenständen wie etwa hochkanonischen Autoren oder neuen Forschungsobjekten) oder an innovativen Konzepten (z. B. bestimmte Theorien oder Methoden bzw. Zugänge zu Gegenständen, die damit korrelieren).

Eine letzte Beobachtung zu Längenverhältnissen leitet zu unserem dritten Experiment über, das sich mit Indikatoren für die Verwissenschaftlichung germanistischer Fachprosa befasst: Die Satzlänge kann als Hinweis auf die Komplexität der Sprache gesehen werden (Abb. 5).Footnote 52

Abb. 5
figure 5

Durchschnittliche Satzlänge (in Token)

Blickt man auf die Entwicklung der Satzlängen von DVjs-Beiträgen, ergibt sich folgendes Bild: Die mittlere Satzlänge scheint in den ersten Jahrzehnten recht stark zuzunehmen, in der Mitte des Jahrhunderts fällt sie dann ab und ab 1970 steigt sie wieder markant an, um von dort an auf einem hohen Niveau zu bleiben, wenn auch mit einer leicht sinkenden Tendenz. Das ist ein erster möglicher Beleg für die grundsätzliche These, die im nächsten Abschnitt diskutiert wird: nämlich dass sich erstens die Wissenschaftssprache der Literaturwissenschaft im Verlauf des 20. Jahrhunderts veränderte und dass sich zweitens in den 1970er Jahren ein Verwissenschaftlichungsschub ereignete, zu dem auch eine komplexere Syntax gehört. Man könnte also aufgrund dieser ersten Datenexploration die These aufstellen, dass sich hier zwei Tendenzen überlagern: Zum einen nimmt die Satzlänge aufgrund der allgemeinen Veränderung der Schriftsprache seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ab (eine Auswertung von wissenschaftlich-technischen Texten errechnet folgende durchschnittliche Satzlängen: 1850: 32,00 Worte | 1900: 23,58 Worte | 1920: 22,72 Worte | 1940: 19,6 Worte | 1960: 19,9 Worte). Zum anderen entwickelt sich in den 1970er Jahren ein neues Stilideal, das zu ähnlich hohen Satzlängen führt wie am Anfang des 20. Jahrhunderts.Footnote 53

Auch diese Beobachtung deckt Forschungsbedarf auf: Erstens haben wir hier neben den kontinuierlichen und diskontinuierlichen Progressionsmodellen einen dritten Typus von Veränderung vor uns, sodass sich die Frage stellt, wie diese Entwicklungsformen aufeinander abgestimmt werden können. Zweitens sind die literaturwissenschaftlichen Texte aus den 86 Jahren von 1923 bis 2009 durch mehrere sich überlagernde Tendenzen in der Geschichte der deutschen Sprache bestimmt, und einige der beobachteten Phänomene lassen sich wohl nur unter Berücksichtigung dieses weiteren Kontextes angemessen erklären. Zugleich hat aber – drittens – die Fachsprache der Literaturwissenschaft ihre sehr eigenen Entwicklungsaspekte, zumindest soweit man das aufgrund dieses eingeschränkten Korpus feststellen kann. Darauf wollen wir im Folgenden eingehen.

4 Drittes Experiment: Wissenschaftssprache

Diesen Abschnitt können wir nicht wie zuvor mit Archivfunden unterfüttern, weil zunächst rechtliche Probleme zu klären sind.

Die „Semantik der ‚Szientifizierung‘“ wurde von Rainer Rosenberg in einem einschlägigen Aufsatz behandelt. Im Anschluss an Klaus-Michael BogdalFootnote 54 diagnostiziert er einen grundlegenden Wandel der Wissenschaftsauffassung und – korrelierend dazu – der Wissenschaftssprache. Im Zuge einer zeittypischen „Wissenschaftseuphorie“ sei die „lebensphilosophische Auffassung von den Geisteswissenschaften“ ebenso verabschiedet worden wie der Typus des „eingeweihten“ Interpreten. Um die „Modernisierung der Disziplin“ zu befördern, habe man den „Anschluß an die internationale Wissenschaftsentwicklung“ gesucht und diesen bei der „Rationalität“, „Methodologie“ und „Begrifflichkeit“ von Sozialgeschichte und Strukturalismus gefunden.Footnote 55 Diese Methodenangebote versprachen „verifizierbare Ergebnisse“ bzw. „empirisch-analytisch lösbare Aufgabenstellungen“ sowie insgesamt eine „Versachlichung“, die sich nicht nur an der abnehmenden Zahl von „Interpretationen“ ablesen lasse, sondern sich vor allem auch in der „Distanz“ zwischen wissenschaftlicher Diktion und „der Sprache des literarischen Textes“ artikuliere.Footnote 56 Während sich noch der Wortschatz der Nachkriegsgermanistik im Wesentlichen aus dem „allgemein[]“ verfügbaren „Bildungsgut“ gespeist habe, favorisierten strukturalistisch und sozialhistorisch gestimmte Wissenschaftler Äußerungen, die auf „Allgemeinverständlichkeit“ ostentativ verzichteten, „sich radikal von der Redeweise der Dichtungsausleger absetzten und […] auf sprachliche Professionalisierung hinausliefen“ – Erkennungsworte wie „Code, Signifikant, Signifikat, Referent, Denotation, Automatisierung, Verfremdung, literarische Reihe usw.“ kursieren seit dieser Zeit.Footnote 57

Diese Beobachtungen sind ebenso heuristisch fruchtbar wie die Vermutung, dass die „Semantik der ‚Szientifizierung‘“ seit den 1980er Jahren mit der Neigung zum Poststrukturalismus sowie nachfolgend zur Verkulturwissenschaftlichung der Germanistik wieder „relativiert“ werde und „Versuche der Wiederannäherung an den literarischen Diskurs“ zu beobachten seien.Footnote 58 Wie aber lässt sich eine so raumgreifende These operationalisieren? Man wird sie nur prüfen können, wenn man sie in mehrere Aspekte zerlegt. Der linguistischen Forschung haben wir einige Kriterien entnommen, die als typisch für Wissenschaftssprache gelten: Terminologisierung, -ung-Derivate und -bar-Adjektive, dass-Sätze, Vermeidung von ‚ich‘ sowie argumentatives Sprachverhalten.Footnote 59

4.1 Terminologisierung

Es gehört, wie wir oben bereits angemerkt haben, zu den weithin geteilten Einsichten der Wissenschaftsgeschichte der literaturwissenschaftlichen Germanistik, dass um 1960 ein wesentlicher Einschnitt zu verzeichnen ist, der nicht nur den Grad der Verwissenschaftlichung, sondern auch die Terminologie betrifft, dass also „spätestens seit Ende der sechziger Jahre von einem generellen Umbau der Semantik in der bundesdeutschen Literaturwissenschaft die Rede sein kann“.Footnote 60 Auch in diesem Zusammenhang gehen wir von allgemeineren Überlegungen zur Terminologiepraxis aus: Fachbegriffe gelten als Zeichen der Wissenschaftlichkeit.Footnote 61 Sie stehen für Fachkompetenz und bestimmte szientifische Ideale, die sich leicht mit dem Leitcode wahr/falsch verbinden lassen. Es gibt jedoch alternative Einschätzungen, die sich am pädagogischen Leitcode vermittelbar/unvermittelbar orientieren: Nicht selten wird literaturwissenschaftliche Terminologie als unnötiges Vermittlungshindernis behandelt. Im Blick auf Mengenverhältnisse sind daher zunächst die Spielräume bemerkenswert: Bei aller Wertschätzung von Fachbegriffen kann man auch weitgehend ohne literaturwissenschaftliche Terminologie auskommen. Wo aber und wann gilt dies, im Blick auf welche Publikationsformen und Publika?

Zur ersten Erkundung von Terminologiepraktiken haben wir die Lemmaliste der zweiten Auflage des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte (1958–1984) und des Reallexikons für Literaturwissenschaft (1997–2003) digitalisiert und dann geprüft, wie groß der Anteil der Wörter der Texte eines Jahres ist, der sich dieser Lemmata bedient.Footnote 62 Unsere These lautete, dass wir einen Rückgang der Begriffe des RL 1958 ff. (Anzahl der Lemmata: 401) über den gesamten Zeitraum beobachten können sowie einen Anstieg der Begriffe aus dem RL 1997 ff. (Anzahl der Lemmata: 923). Um diesen Effekt zu verdeutlichen, haben wir die Schnittmenge, also die Begriffe, die in beiden Listen zu finden sind, vorher entfernt. Die Ergebnisse bestätigen unsere These nicht (s. Abb. 6).

Abb. 6
figure 6

Begriffe, die nur im RL 1958 ff. vorkommen

Die Begriffe des RL 1958 ff. nehmen nicht ab; im Gegenteil, es zeigt sich ein fast stetiger Zuwachs der Verwendung nach 1960. Die Begriffe, die nur im RL 1997 ff. stehen, zeigen dagegen keine klare Tendenz (s. Abb. 7).

Abb. 7
figure 7

Begriffe, die nur im RL von 1997 ff. vorkommen

Tatsächlich kann man sich fragen, ob nicht unsere Ausgangshypothese über die Terminologie, die sich in den Lemmata niederschlägt, falsch ist. Zum einen ist unklar, wann die Lemmata der zweiten Auflage des RL, deren Bände über ca. 25 Jahre verteilt erschienen, festgelegt worden sind. Vor allem aber dürfte bereits die Lemmaliste des RL 1958 ff. als Ausdruck eines Bemühens zu verstehen sein, die Terminologie des Fachs nicht nur retrospektiv zu sichern, sondern auch prospektiv für eine Weiterentwicklung zu sorgen. Mit anderen Worten: Das Lexikon signalisiert den Bedarf an und das Bedürfnis nach fachsprachlicher Veränderung. Daher sollten nicht die Unterschiede, sondern die Gemeinsamkeiten zwischen den Fassungen des RL von 1958 ff. und 1997 ff. betont werden. Träfe dies zu, müsste sich eine zunehmende Aufnahme der Terminologie über die Zeit hinweg zeigen, wenn man prüft, wie groß der Anteil der beiden Lemmalisten an den Worten eines Textes ist (Umfang der vereinigten Lemmalisten: 1173).

Was sich in Abb. 8 recht eindeutig ablesen lässt, ist ein signifikanter Anstieg um 1970 und seitdem eine stetige Abnahme auf hohem Grundniveau, während in den Jahren davor nur ein sehr starkes, aber tendenzloses Schwanken der Werte auf niedrigem Grundniveau zu beobachten ist.

Abb. 8
figure 8

Begriffe, die in einem der beiden Reallexika vorkommen

Die Schnittmenge der beiden Listen enthält die Begriffe, die ohne Zweifel den Kern der Terminologie des Faches ausmachen – also die Begriffe, die von den 1950er Jahren an bis in die späten 1990er Jahre für zentral erachtet wurden.

Auch hier zeigt sich der Unterschied zwischen der Zeit vor den 1970er Jahren und danach (s. Abb. 9). Man kann also sagen, dass diese Terminologie tatsächlich noch immer wesentlich für das Fach ist, selbst wenn womöglich ein kleiner Rückgang nach 2000 zu erkennen ist.

Abb. 9
figure 9

Begriffe, die im Reallexikon 1958 und zugleich im Reallexikon 1997 vorkommen

Eine einfache Gegenprobe gibt einen Hinweis darauf, wo ein Problem unseres Ansatzes liegen könnte. Im Folgenden wird der Anteil der Worte, die oben als typisch für den Strukturalismus genannt wurden („Code“, „Signifikant“, „Signifikat“, „Referent“, „Denotation“, „Automatisierung“, „Verfremdung“), über die Jahre verfolgt (s. Abb. 10).

Abb. 10
figure 10

(Nach Rosenberg 2003)

Typische Begriffe des Strukturalismus.

Anders als die enge Bindung der Begriffe an den Strukturalismus vermuten lassen würde, sehen wir hier, beginnend in den späten 1960er Jahren, tatsächlich eine ansteigende Verwendung bis in die 2000er Jahre hinein. Das spricht dafür, dass diese Begriffe nicht Teil einer spezifischen Methode sind, sondern in das allgemeine Vokabular des Fachs eingegangen sind.Footnote 63 Allerdings muss man sich, wie ein Blick auf die y-Achse der Grafik zeigt, klar machen: Der Anteil der Begriffe ist relativ klein. Das bestätigt auch ein Blick auf die absoluten Zahlen. Die Begriffe kommen in folgender Häufigkeit vor:

Signifikant: 147 | Referent: 94 | Code: 71 | Signifikat: 16 | Automatisierung: 5 | Denotation: 3 | Verfremdung: 2.

Auch hier wurde zwar, wie oben erläutert, jeder Begriff pro Beitrag nur einmal gezählt, aber seit 1960 sind ca. 1400 Beiträge erschienen. In ähnlicher Weise haben wir uns der poststrukturalistischen Terminologie zugewandt.Footnote 64 Hier steigt die Zahl der Vorkommnisse; die Terminologie wird häufiger und auch nach der Jahrtausendwende genutzt, wenngleich leicht abnehmend (s. Abb. 11).

Abb. 11
figure 11

Typische Begriffe des Poststrukturalismus

Wird die Liste der 20 häufigsten Begriffe in den Blick genommen,Footnote 65 dann wird deutlich: Erneut haben einige auch eine allgemeine Bedeutung (z. B. „Philosophie“, „Sinn“, „Schrift“, „Werk“, „Natur“, „Kultur“, „Element“, „Fülle“) bzw. müsste hier die Wortklasse berücksichtigt werden, um sicherzustellen, dass das Wort in seiner terminologischen Verwendung auftaucht (z. B. „selbst“, „macht“).

Spezifische Listen, die charakteristisch für eine Theorie sind, ergeben also sehr viel deutlicher Tendenzen und Entwicklungslinien. Dies gilt auch für das spezifische Untersuchungsvokabular der Narratologie. Im Folgenden zeigt sich, wie die Begriffe der Erzählforschung, ebenfalls ab den 1960er Jahren, zunehmend Bestandteil des literaturwissenschaftlichen Sprachgebrauchs werden,Footnote 66 und zwar angesichts der Werte der y-Achse sehr viel häufiger als die Grundbegrifflichkeit des Strukturalismus (s. Abb. 12).

Abb. 12
figure 12

Typische Begriffe der Erzähltextanalyse

Auch hier zeigt sich allerdings, dass die häufigsten Worte keineswegs nur terminologisch gebraucht werden:

„geschichte“: 1.609 | „roman“: 1.234 | „welt“: 1.189 | „dauer“: 1.078 | „sprachlich“: 969 | „struktur“: 908 | „geschehen“: 891 | „element“: 838 | „erzählt“: 760 | „systematisch“: 728 | „beziehung“: 688 | „gedanken“: 648 | „gestaltung“: 578 | „situation“: 528 | „realistisch“: 509 | „erzählen“: 503 | „modell“: 408 | „strukturell“: 401 | „verfahren“: 398 | „story“: 395.

Auf die gesamten Lemmalisten bezogen, ergibt sich daraus die Vermutung, dass deren jeweils kompletter Einsatz wohl zu grob ist: Die Lemmata müssen klassifiziert werden, dabei sollte zumindest etwa zwischen Begriffen der Textanalyse (Metrik, Narratologie usw.), historischen Begriffen (Gattungen, Epochen usw.) sowie Theoriebegriffen unterschieden werden. Ein weiteres Manko des hier verfolgten Ansatzes besteht darin, dass die verwendeten Listen sehr stark von der individuellen Einschätzung eines Philologen abhängen. Um hier allgemeineres Wissen in den Blick zu nehmen, könnte in einem nächsten Schritt von sehr kleinen konsensfähigen Listen mit diskriminativen Begriffen ausgegangen werden, um diese Listen dann mittels Word-Embedding-Modellen zur Ermittlung des jeweils nächsten Nachbarn systematisch zu erweitern.

4.2 Weitere Merkmale von Wissenschaftssprache

Neben der Verwendung einer wissenschaftlichen Terminologie gibt es weitere Indikatoren, die für die deutsche Wissenschaftssprache typisch sind. Wie oben erläutert, werden wir hier nur eine kleine Auswahl in den Blick nehmen und dabei feststellen, dass sich ein durchaus widersprüchliches Bild ergibt.Footnote 67 Substantive, die auf ‚-bar‘ enden, bzw. Adjektive, die auf ‚-ung‘ enden, nehmen keineswegs zu; im Fall der Substantive kann wohl sogar von einer Abnahme gesprochen werden (s. Abb. 13).

Abb. 13
figure 13

Entwicklung der Worte mit der Endung ‚-bar‘ bzw. ‚-ung‘

Anders scheint es sich mit der direkten Vermeidung von Verweisen auf den Autor zu verhalten, also einem der drei ‚Verbote‘ in der Wissenschaftssprache, wie Harald Weinrich es formuliert hat.Footnote 68 Abb. 14 zeigt die Häufigkeit der Wörter „ich“, „mich“, „mein“, „wir“, „unser“, „uns“. Hier kann man die erwartete Abnahme deutlich sehen:

Abb. 14
figure 14

Entwicklung der Autor-Referenzen („ich“, „mich“, „mein“, „wir“, „uns“, „unser“)

Allerdings ergibt sich sofort ein anderes Bild, wenn die Wortliste aufgespaltet wird und nur die Verweise auf die erste Person Singular in die Zählung einfließen. Hier zeigen sich deutliche Schwankungen ohne Tendenz, d. h. in germanistischen Fachtexten ist das Verweisen auf das ‚Autor-Ich‘ keineswegs weniger üblich geworden (s. Abb. 15).Footnote 69

Abb. 15
figure 15

Entwicklung der Autor-Referenzen („ich“, „mich“, „mein“)

Der Trend, der in der ersten Grafik zu erkennen war, kam durch die Personalpronomina im Plural zustande. Deren Verwendung scheint deutlich aus der Mode gekommen zu sein (s. Abb. 16).

Abb. 16
figure 16

Entwicklung der Autor-Referenzen („wir“, „uns“, „unser“)

Diese Art der Bezugnahme könnte als altmodisch gelten, sodass ein Geschmackswandel hier womöglich sehr viel wirkungsvoller als das sogenannte deklarative ‚Verbot‘ ist.

Fassen wir zusammen: Von den Merkmalen, die der Wissenschaftssprache zugeschrieben werden und die wir derzeit erfassen können,Footnote 70 finden sich in der literaturwissenschaftlichen Sprachverwendung, wie sie sich in den Artikeln der DVjs niederschlägt, drei von vier nicht vor: Die Verwendung von ‚ich‘ hat keineswegs abgenommen, die Substantivbildung mit der Endung ‚-ung‘ wird zunehmend gemieden und die Adjektive mit der Endung ‚-bar‘ weisen in ihrer Verteilung keine klare Tendenz auf. Lediglich in der Verwendung von terminologischen Begriffen kann man eine klare Zunahme sehen, auch wenn offensichtlich noch viel Detailforschung notwendig ist, um die Unterschiede zwischen der Verwendung von historischen Begriffen (z. B. der Rhetorik oder ‚Metrik‘) und systematischen Analysebegriffen (z. B. der Erzähltheorie) und Theoriekonzepten (z. B. den Begriffen des Strukturalismus) besser zu verstehen. Um eine so anspruchsvolle These wie die von Rainer Rosenberg zur Szientifizierung der germanistischen Literaturwissenschaft mit Mitteln der Korpusanalyse zu bestätigen, zu modifizieren oder infrage zu stellen, ist es noch zu früh.

5 Experimente ohne Befund

In diesem kurzen Abschnitt soll über die Experimente zumindest berichtet werden, die keine brauchbaren Ergebnisse erbracht haben. Die Bandbreite ist dabei recht groß. Ein wichtiger Bereich betraf den Einsatz stilometrischer Verfahren: So hat die Exploration der deutschsprachigen Daten nicht das erhoffte Clustering nach Teilfächern gezeigt, wahrscheinlich weil es sich hier nicht um stilistische, sondern um rein inhaltliche Unterschiede handelt.Footnote 71 Der Versuch, mit Burrows' Delta ein weiteres, ansonsten sehr bewährtes Mittel für die Stilanalyse zu verwenden, führte ebenfalls zu keinem direkt fruchtbaren Ergebnis.Footnote 72 Ausgehend von der Beobachtung, dass sowohl Theodor W. Adorno als auch Emil Staiger stilistisch wirkmächtige Autoren waren, haben wir ausgewählte Texte der beiden (Adorno: Noten zur Literatur sowie die Ästhetische Theorie, Staiger: Die Kunst der Interpretation) im Kontext von 180 zufällig ausgewählten Aufsätzen zwischen 1950 und 1985 ausgewertet.Footnote 73 Staigers stilistisch nächster Nachbar war ein Text von Erich Auerbach, sein zweitnächster Nachbar eine Rezension von ihm selbst, danach folgte ein Text von Leif Ludwig Albertsen. Die Texte von Adorno fanden sich nicht in einem Cluster und ihre jeweils nächsten Nachbarn sind in keine für uns sinnvolle Beziehung mit Adorno zu bringen. Die nachfolgende Recherche und das notwendige Feintuning der Daten sind so aufwendig, dass wohl nur in einem eigenen Projekt geklärt werden könnte, ob dieser Ansatz erfolgreich ist.

Ähnlich vorläufig sind unsere Ergebnisse bezüglich der Analyse von argumentativen Indikatoren.Footnote 74 Aus der qualitativen Forschung haben wir eine Reihe von solchen Indikatoren übernommen:

„weil“ | „daher“ | „also“ | „deshalb“ | „damit“ | „somit“ | „da“ | „denn“ | „wenn“ | „folglich“ | „demzufolge“ | „Folgerung“ | „erschließbar“ | „erschließen“ | „Grund“ | „Gründe“ | „begründen“ | „begründet“.Footnote 75

Allerdings zeigte sich keine Entwicklung der Argumentation über die Zeit. Das änderte sich auch nicht, als diese Liste mittels Word Embeddings auf Grundlage der Wikipedia von 18 auf 82 Worte erweitert wurde. Das könnte einerseits darauf hindeuten, dass sich die sprachlichen Spuren der Argumentation in diesem Zeitraum nicht änderten, es könnte aber auch sein, dass der Bezug zwischen diesen Worten und der Argumentation als sprachlichem Verhalten zu komplex ist, um durch eine simple Auszählung erfasst zu werden.

6 Einen Schritt zurück

Nachdem wir bislang relativ ungebrochen Wissenschaftsgeschichte betrieben haben, wollen wir zum Abschluss die Frage diskutieren, inwieweit sich unsere Arbeits- und Sichtweise durch Digitale Literaturwissenschaft verändert hat. Wir haben uns von unterschiedlichen Seiten dem Thema einer korpusanalytisch verfahrenden Untersuchung der literaturwissenschaftlichen Germanistik genähert. Diese Unterschiede haben unsere Diskussionen bestimmt, aber uns ist nicht ganz klar, wie wir die Effekte gut beschreiben und vielleicht sogar erklären können. Es zeigte sich, dass viele der scheinbar naheliegenden Begriffe eigentlich quer zu oder doch nicht ganz passend für unsere Wahrnehmungen zu sein scheinen. So liegt es etwa nahe, den Unterschied durch die Differenz zwischen ‚hermeneutisch‘Footnote 76 einerseits und ‚empirisch‘Footnote 77 andererseits zu beschreiben. Mit dieser unpassenden Dichotomie verwickeln sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler jedoch in unfruchtbare Grabenkämpfe. Denn es ist – allein angesichts der großen Bedeutung von Autopsie – offensichtlich, dass zur philologischen Praxis empirische Teilpraktiken gehören.Footnote 78 Mit dem Abkürzungsbegriff ‚empirisch‘ ist daher in der Regel sehr viel mehr gemeint, als das Wort auf den ersten Blick anzeigt (ein Gefüge von Praktiken, disziplinären Grenzziehungen, Normen u. v. a. m.). Eine weitere Komplexitätssteigerung entsteht dadurch, dass empirisch-quantitative Datenanalyse ihrerseits keineswegs immer nach dem idealtypischen Reglement einer kritisch-rationalen Thesenfalsifizierung vollzogen werden muss. In der Distant Reading-Praxis, wie sie etwa zum Teil in den Reports des Stanford Literary Lab oder den Arbeiten der dlina-Gruppe dokumentiert ist,Footnote 79 zielen Aktivitäten in erster Linie auf eine Exploration der Daten, ohne dabei stets ein empirisches Forschungsdesign zu verwenden, das systematisch auf den Test von Hypothesen setzt.Footnote 80

Der Ansatz von Smiljana AntonijevićFootnote 81 passt im Vergleich zu einfachen Dichotomien besser und entspricht unseren einleitenden Überlegungen: Sie hat den Einsatz von digitalen Werkzeugen im Workflow der Forschung (empirisch) untersucht. Die Arbeit aller Humanists lässt sich dieser Feldstudie zufolge schon seit einigen Jahren nicht mehr jenseits des Digitalen denken. Alltäglich ist der Einsatz digitaler Kommunikationsmedien (E-Mail, Skype u. a.); das Schreiben ist weitgehend vom Analogen ins Digitale migriert (nur am Anfang des Forschungsprozesses werden üblicherweise noch handschriftliche Notizen gemacht); die bibliographische Recherche läuft weitgehend über digitale Plattformen; auch bei der Lektüre verzichten nur die Allerwenigsten ganz auf digitale Repräsentationen und Annotationsverfahren. In vielen Fällen geht es dabei um graduelle Unterschiede. Es gibt jedoch einen großen Unterschied zwischen Humanists und Digital Humanists: den Einsatz von digitalen Verfahren bei der Analyse. Ausgehend von unseren Erfahrungen mit dieser Station des Forschungszusammenhangs versuchen wir im Folgenden, einige Herausforderungen und Spezifika unserer Zusammenarbeit zu beschreiben, wobei wir an dieser Stelle keinen Anspruch auf Systematizität und Vollständigkeit erheben wollen und können.

Ein merklicher Unterschied liegt unseres Erachtens in dem unterschiedlichen Grad an expliziter Prozesshaftigkeit der Forschung.Footnote 82 In der Philologiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts sind Mutmaßungen, unabgeschlossene Untersuchungen, offene Fragen, Spekulationen, vorläufige Ergebnisse etc. in der Regel etwas, das im Arbeitszusammenhang der Forschung entweder vor der Publikation seinen Ort hat oder in der Veröffentlichung an ganz bestimmten Stellen (z. B. in Fußnoten, Ausblicken oder auch in mündlichen Äußerungen). Hierbei spielen wohl auch medientechnische Gründe eine Rolle, zumindest gelten die Monographie und der Aufsatz auf Papier immer noch – und über Disziplinengrenzen hinwegFootnote 83 – als die renommierteste Form der Publikation.

Wichtig ist nun, dass an bestimmten Stellen der germanistischen Wissenschaftsgeschichte die explizite Prozesshaftigkeit akzeptiert wurde: Jacob Grimm etwa reklamierte für sich den „Mut des Fehlens“, Wilhelm Scherer schloss daran an und führte den „Anreger“ als Forschertypus ein. Beide wussten, dass sie damit das philologische Ethos provozierten.Footnote 84 Es handelte sich um Situationen, in denen zum einen die Fülle des erschlossenen Materials riskante Forschung probat erscheinen ließ und zum anderen neue analytische Verfahren und entsprechende theoretische Innovationen etablierte „Routinen“ in Frage stellten. Die Akzeptanz vorläufiger Ergebnisse, deren baldige Falsifikation zu erwarten war, basierte dabei auf dem Vertrauen auf Fortschrittlichkeit. Führt mithin die Skepsis gegenüber einer Wissenschaft, die als fortschreitender, vielleicht sogar akkumulierender Prozess konzipiert wird, ebenfalls dazu, dass ein entsprechend hoher Anspruch an die Dauerhaftigkeit des Publizierten gestellt wird?

Prozessualität und damit ein gekonnter Umgang mit Vorläufigkeit und der transitorischen Relevanz der eigenen Forschung ist mithin Teil von moderner Forschung überhaupt. Entscheidend ist indes, wie diese Aspekte in die Forschungspraxis eingehen, d. h. den Arbeitszusammenhang als Set von miteinander verknüpften Teilpraktiken beeinflussen. Das Besondere an den Forschungspraktiken der Digital Humanities besteht darin, dass die angeführten Aspekte nicht zu Teilen dominant werden, sondern geradezu kumulieren. Darin könnte ein Grund für die ‚Provokation der Literaturwissenschaft‘ liegen, die viele der allergischen Reaktionen etwa auf Verfahren des Distant Readings als aufschlussreiches Symptom erscheinen lassen. In der Praxis einer den Digital Humanities nahestehenden oder sich als Teil dieses Forschungszusammenhangs auffassenden Literaturwissenschaft sind nicht-analoge und nicht-monographische Publikationsformen gewöhnlich; sie steht der Herausforderung durch eine überbordende Fülle an Daten gegenüber; sie generiert in Bezug darauf ungewohnte theoretische Perspektiven; sie akzeptiert den produktiven Wert von als solchen markierten ‚Anregungen‘; und sie unterhält ein entsprechend positives Verhältnis zum Fortschreiten der Wissenschaft. Die Vorläufigkeit des jeweiligen Forschungsbeitrags etwa wird von vielen Forschern vertreten, weil auf verschiedenen Ebenen die Übertreffbarkeit und Verbesserbarkeit sehr deutlich erlebt wird: Am Ende einer Forschungsetappe, die für publikationswürdig gehalten wird, kann man zumeist schon deutlich sagen, wo man ansetzen müsste, um das bisher Erreichte eventuell noch zu übertreffen.Footnote 85 Das hat etwas mit der Erstellung und Aufbereitung der Daten zu tun – nicht nur erweitern sich Zug um Zug die zur Verfügung stehenden Korpora, auch deren Erschließung regt zugleich selbst zu immer feineren Beobachtungsleistungen an. Und natürlich bleibt die explosionsartige Fortentwicklung von Algorithmen nicht ohne Wirkung auf das Wissenschaftsethos.

Ein weiterer Punkt, der uns beachtenswert erscheint, betrifft die unterschiedlichen Bedürfnisse, begriffliche und theoretische Klärungen vor der Durchführung der Analyse vorzunehmen, das Ensemble von Praktiken also in einer bestimmten Weise zu arrangieren. Für die Reflexion der eigenen Praxis bei der Verwendung digitaler Verfahren war eine Sequenz von Experimenten für uns besonders aufschlussreich, die die Frage der sprachlichen Szientifizierung betraf: Ausgelöst wurde unser Interesse an der Terminologie u. a. durch die Frage, ob wir auf diese Weise den vermuteten Verwissenschaftlichungsschub Ende der 1960er Jahre und in den 1970er Jahren in einem Wandel der Praxis wahrnehmen können. Wir haben dazu die plausible Idee aufgegriffen, dies über die Verwendung einer Lemmaliste zu operationalisieren. Schon bei der ersten Datenexploration kamen wir jedoch zu dem Schluss, dass der Befund nicht aussagekräftig erschien. Unsere Lösung für dieses Problem, nämlich statt einer Gesamtliste nun Teillisten zu nehmen, lässt sich als neue Operationalisierung begreifen, die einfacher erklärbare Ergebnisse erzeugte.

Warum aber führte der erste Ansatz nicht zum Ziel? Wir haben infolge des fehlgeschlagenen Experiments gesehen, dass wir die Inhomogenität der literaturwissenschaftlichen Terminologie berücksichtigen müssen.Footnote 86 Gerade die unterschiedliche Verwendungshäufigkeit der Begriffe über die Zeit hinweg legt es nahe, den Komplex ‚Terminologie‘ nicht mehr als Einheit zu betrachten. Vorhandene Klassifikationsvorschläge mögen in bestimmten Situationen, z. B. in der Lehre, hilfreich sein, da sie zwar für die Forschungspraxis wenig Relevanz haben, aber doch der Selbstaufklärung sowie der Orientierung des wissenschaftlichen Ethos dienen. Im Zusammenhang mit der quantitativen Forschung verändert sich der Konkretisierungsbedarf jedoch radikal. Die Einsicht in Spezifika von Terminologiegruppen wird höchst relevant, da es sich hierbei um eine Variable handelt, die, wird sie nicht kontrolliert, die Ergebnisse verfälscht und unbrauchbar macht.

Dieser Prozess erscheint uns typisch für quantitatives Arbeiten. In den hermeneutischen Alltagsroutinen der Forschung können Begriffe komplex zusammengesetzt sein. Für Eindeutigkeit wird in der Kommunikation aufgrund des Kontextes gesorgt. Im quantitativen Arbeiten aber sind die expliziten Differenzierungen tatsächlich direkt analyserelevant. Das führt schnell dazu, dass diese immer kleinteiliger werdende Forschung sich auf einen Grad der Erkenntnisreichweite beschränkt, der aus der anderen Perspektive nicht unbedingt interessant klingt. Entscheidend ist aber nicht die Frage, was man für mehr oder weniger aufregend hält, sondern dass sich hier ein ganz bestimmtes Gefüge von Teilpraktiken zu einer Praxis formiert: Während Praktiken des Theoretisierens (etwa Klassifizieren, Begriffsklärung etc.) in der breit etablierten literaturwissenschaftlichen Praxis nicht selten ein Eigenleben führen und andere Praktiken (z. B. Analyse) eher vermittelt anweisen oder orientieren,Footnote 87 sind sie im Bereich der quantitativen Analyse unmittelbar folgenreich. An diese Effektivität, verbunden mit Theoriebescheidenheit, muss man sich erst gewöhnen.

Abschließend wollen wir uns, nicht zuletzt aufgrund der hier reflektierten Erfahrungen sowie der erzielten vorläufigen (!) Ergebnisse, in einer im Rahmen der Digital Humanities oft diskutierten Frage positionieren: Werden die neuen digitalen Verfahren die analogen ersetzen? Zunächst erscheint uns eine Erinnerung an die großen Szientifzierungsversprechen der 1960er Jahre heilsam. In der Debatte um die Folgen der Digitalisierung für die Literaturwissenschaft kehren die entsprechenden Werte- und Normkonflikte wieder. Damit verbinden sich bestimmte Ideale ‚harter‘ empirischer Forschung (Verifikation bzw. Falsifikation, analytische Grundeinstellung u. a.) sowie ein Habitus der Sachlichkeit, der sich zumindest implizit von ähnlichen Einstellungen und Interessen abgrenzt, wie dies im Rahmen der Szientifizierung der 1960er Jahre bereits der Fall war – hier die ‚alte‘, dort die ‚neue‘ Germanistik. Der Weg führt dann vom einzelnen literarischen Werk zu Texten, die als Teil von größeren Textmengen interessieren; anstelle intensiver Auslegungsarbeit fokussiert sich die Forschung auf Strukturen, Regularitäten und Funktionen.Footnote 88 Das alles ist nicht falsch, aber es hat damals wie heute nie ‚die Germanistik‘ betroffen, weil das Fach noch nie eine homogene Einheit gebildet, sondern unterschiedlichen Arbeitseinheiten Möglichkeiten der Entfaltung geboten hat. Die Zukunft der Literaturwissenschaft wie die einiger anderer geistes- und kulturwissenschaftlicher Fächer dürfte daher eher in einem Neben- und Miteinander von quantitativen und qualitativen Verfahren liegen. In der Arbeit an diesem Text ist jedoch auch deutlich geworden, dass die Praxis der digitalisierten Analyse eine gewisse Eigengesetzlichkeit besitzt. Sie führt dazu, dass es für den individuellen Forschenden nicht immer einfach sein wird, die eine Methode neben der anderen routiniert zu praktizieren. Asymmetrien werden unvermeidlich sein. Damit aber ist ‚die Germanistik‘ schon immer gut zurechtgekommen.

Ergänzung 2021

Auch wenn es inzwischen Plädoyers für quantitative Fachgeschichten gibt,Footnote 89 so sind Beiträge zu einer korpusbasierten Fachgeschichte der Literaturwissenschaften immer noch selten. Das liegt sicherlich auch daran, dass nicht viele Zeitschriften und Monographien vor 2000 maschinenlesbar zur Verfügung stehen. Deshalb ist hier vor allem von den weiteren Arbeiten der Autoren des voranstehenden Beitrags zu berichten.

Eine umfangreiche netzwerkanalytische Studie ist der literaturwissenschaftlichen Bibliographie ‘Germanistik’ gewidmet.Footnote 90 Sie rekonstruiert zudem die Entstehungsgeschichte sowie die Redaktionspraktiken auf der Grundlage bislang unpublizierter Quellen: Die Communities in den Kopublikationsnetzwerken differenzieren sich deutlich entlang von Epochenschwerpunkten (Mediävistik, Barock/Frühe Neuzeit, NDL). Die NDL (ab der Aufklärungszeit) gliedert sich auf der gleichen Betrachtungsebene in mehrere Communities, die eine regionale Differenzierung aufweisen (etwa mit Schwerpunkt im Bereich ‚Österreichischer Literatur‘ oder eine englischsprachige NDL-Community), wie sie für das in unserem Beitrag gezeigte Netzwerk auf Grundlage der Zeitschriftenbeiträge von Autoren erkennbar waren. So existiert auch für dieses Netzwerk eine Community, in deren Zentrum u. a. Zeitschriften stehen, die in Österreich (Sprachkunst, Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins, Stifter-Jahrbuch) und Frankreich (Études Germaniques, Revue d’Allemagne, Recherches germaniques) erscheinen. Die im Beitrag vorgenommene Netzwerkanalyse zeigt, dass eine Betrachtung der von Autoren als Publikationskanäle gewählten Zeitschriften (bzw. der für die Publikation durch Zeitschriftenredaktionen ausgewählten Autoren) ungeachtet der beschriebenen Diversität eine Strukturierung der germanistischen Fachzeitschriften nahelegt. Umgekehrt weisen die Autorencommunities des Sammelbandnetzwerks charakteristische Profile u. a. hinsichtlich der Zeitschriften auf, in denen Beiträge der betreffenden Autoren veröffentlicht werden. Unter der Annahme, dass Sammelbände in der Germanistik mitunter auch ein Tagungsgeschehen und damit – im Gegensatz zu den einzelnen Ausgaben von Zeitschriften – tatsächliche soziale Kontakte abbilden, stellt sich damit für künftige Untersuchungen die Frage, ob und welche Wechselwirkungen zwischen Zeitschriften bzw., Zeitschriftenredaktionen und Tagungen bzw. Tagungsorganisatoren hinsichtlich ihrer Rolle als „Gatekeepers“ für den Zugang zu den Scientific Communities der Germanistik bestehen.

Der Beitrag von Jannidis, Konle und Martus setzt die korpusanalytischen Arbeiten im obenstehenden Aufsatz fort.Footnote 91 Den Ausgangspunkt bilden hier fünf Korpora: Deutschsprachige literaturwissenschaftliche Interpretations, die nach 2000 in der DVjs publiziert wurden sowie Interpretationen aus der DVjs aus den 1960er Jahren; Aufsätze einer sozialwissenschaftlichen Zeitschrift, einer historischen Zeitschrift und einer naturwissenschaftlichen Zeitschrift. Auffällig ist die leichte Separierbarkeit der Texte und zwar nicht nur auf der Grundlage von Inhaltswörtern – was zu erwarten ist -, sondern auch mit Funktionswörtern, ja sogar mit Part-of-Speech-Trigrammen, die eigentlich eher typische syntaktische Regelmäßigkeiten repräsentieren. Die Analyse der Wort- und Sätzlänge sowie anderer typischer Stilmerkmale legt einerseits die Vermutung nahe, dass die Literaturwissenschaft sich gleichsam als eine verspätete Wissenschaft in Nachfolge der Sozial- und Naturwissenschaften entwickelt, zeigt aber auf der anderen Seite, dass dieses Bild viel zu einfach ist, vielmehr die Geisteswissenschaften insgesamt wohl eine eigene Entwicklung haben. Blickt man auf die Wortlänge, den Anteil der Substantive oder die Satzlänge, dann finden sich Belege für das Bild des Nachzüglers u. a. im Prozess der Nominalisierung. Andererseits zeigt ein genauerer Blick auf die Substantive, dass die typischen Nominalisierungsbildungen in der Literaturwissenschaft ab- statt zugenommen haben. Ebenso spricht die – im Vergleich mit den Sozial- und Naturwissenschaften – auffällige Steigerung des Type-Token-Ratio dafür, dass die Entwicklung der literaturwissenschaftlichen Sprache – zumindest auch – von eigenen Tendenzen geprägt ist.

In letzter Zeit wurde vorgeschlagen, Veränderungen der Ähnlichkeit von Teilkorpora in der Wissenschaftsgeschichte als Indikatoren für die Intensität der historischen Umwälzungen zu verwenden.Footnote 92 Die Grundidee besagt, dass dort, wo die Ähnlichkeit abnimmt, größere Veränderungen vorliegen. Konle, Jannidis, Martus haben versucht, ein geeignetes Verfahren durch Simulationsexperimente zu identifizieren und dieses wiederum auf Texte der DVjs angewendet.Footnote 93 Sie kommen zu dem Ergebnis, dass die Entwicklungsgeschwindigkeit seit den 1950er Jahren zugenommen hat und in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren die auffälligste Veränderung wahrzunehmen ist, was einerseits fachgeschichtliche Selbstbeschreibungen stützt, andererseits jedoch die Vorstellung einer ständigen Sukzession von grundlegenden Innovationen oder gar von ‘Paradigmenwechseln’ in Frage stellt.