1 Vom literarischen Werk zum literarischen Netzwerk? Zur Einführung in ein Problem der Netzliteraturwissenschaft

Der digitale Medienwandel und insbesondere die Etablierung Sozialer Medien bringen neue literarische Phänomene und einen Wandel der literarischen Kommunikation mit sich. Wenn eine Digitale Literaturwissenschaft auch diese Entwicklungen zu ihrem Gegenstandsbereich zählt, muss sie sich fragen, inwiefern sie bestehende Konzepte, Begriffe und Methoden der Literaturwissenschaft adaptieren kann oder modifizieren muss, um diesem Wandel gerecht zu werden – zumal die Buchwissenschaft noch 2015 als Desiderat markiert, dass die „Erforschung […] der Vernetzung von Lesemedien und Lesern […] bisher in keiner angemessenen Relation zur Bedeutung von Digitalität und Vernetzung im Alltag der Menschen steht“.Footnote 1 Auf dem DFG-Symposium 2017 Digitale Literaturwissenschaft haben sich – neben dem vorliegenden Beitrag – noch drei weitere Beiträge mit literarischen bzw. medialen Produktionen beschäftigt, die ohne eine vernetzte digitale Kommunikation nicht funktionieren würden. Dabei wurden u. a. das kollektive Schreibprojekt Tausend Tode Schreiben (Julia Nantke), eine offene Annotationsplattform populärer Lieder namens genius.com (Alexander Nebrig) sowie Modeblogs wie journelles.de oder cestclairette.com (Jörg Schuster) als mögliche Gegenstände einer Digitalen Literaturwissenschaft reflektiert.Footnote 2

Die Präsentation und Diskussion dieser vier Beiträge legen nahe, dass sich unter den Verhältnissen einer literarischen Online-Kommunikation Fragestellungen ergeben, mit denen sich eine noch zu konstituierende ‚Netzliteraturwissenschaft‘ als Teilbereich der Digitalen Literaturwissenschaft befassen müsste:Footnote 3 Welche Begriffe und Konzepte helfen bei der Analyse der interaktiven bzw. kollaborativen netzliterarischen Produktionen? Inwiefern verändern sich die Beziehungen von Autor*innen und Leser*innen? An welche literaturhistorischen Traditionslinien schließen diese Phänomene an und mit welchen etablierten literaturwissenschaftlichen Begriffen und Modellen lassen sie sich angemessen beschreiben?

Diesen Fragen will sich dieser Beitrag zuwenden, indem er nach dem Verhältnis literaturwissenschaftlicher Werkbegriffe zur vernetzten literarischen Online-Kommunikation fragt. Ein Symposium zur Gegenwart des literarischen Werkbegriffs stand 2015 im Schloss Herrenhausen unter dem Titel Wiederkehr des Werks?: Während einzelne Vorträge für die Restauration des Werkbegriffs als eines zentralen Begriffs der Literaturwissenschaft plädierten (u. a. Werner Wolf), interessierten sich andere für die verschiedenen Praxen und Akteure, die bei der Zuschreibung der Werkförmigkeit an literarische Gegenstände eine wichtige Rolle spielen.Footnote 4 Für das Verhältnis des Werkbegriffs zur Online-Welt zeigte Alexander Starre, „dass das digitale Zeitalter den Status des ‚Werks‘ und das Beschreibungsparadigma ‚Werk‘ destruiere, indem auch mit flüchtigem Text und daher mit einer Ästhetik des Augenblicks gearbeitet wird. Dies führe zu einer Neuverhandlung der am Werk beteiligten Akteure.“Footnote 5

Dieser allgemeinen Beobachtung will der vorliegende Beitrag genauer nachspüren, indem er von der Beobachtung ausgeht, dass sich durch den Wandel vom gedruckten Buch zum digitalen Text und durch die Potenziale der vernetzten Online-Kommunikation nicht nur die mediale Form der Literatur, sondern auch die literarische Kommunikation zwischen Autor(texten) und Leser(texten) nachhaltig verändert. Es kann gezeigt werden, dass sich die noch immer wirksame Vorstellung eines statischen Werks, das durch die Autorintention definiert und schriftlich fixiert worden ist, für den Bereich der Netzliteratur als problematisch erweist. Im Gegensatz dazu hilft ein dynamischer Werkbegriff, die neuen Formen der netzliterarischen Kommunikation und insbesondere die Relevanz der Benutzerschnittstellen adäquat zu beschreiben.

Dabei nimmt dieser Beitrag eine diskursanalytische Perspektive ein – Foucaults Beschreibung der Autorfunktion untersucht in ähnlicher Weise auch die diskursive Konstruktion des Werkbegriffs.Footnote 6 Dieser Ansatz interessiert sich nicht für einen ontologischen oder materiellen Status des Werkbegriffs, sondern für seine strukturelle Funktion in einem diskursiven Ordnungsgefüge: ‚Werke’ erscheinen diskursanalytisch als „machtimprägnierte, künstlich-kunstvoll hergestellte disperse Einheiten, die sich wesentlich aus Differenzen ergeben“. Die Kategorie ‚Werk‘ verfolgt eine „aktive Sinnordnungspolitik“ und wirkt disziplinierend: „Die Diener des Werks sind zugleich die Herren der Interpretation.“Footnote 7 Aus einer kritischen Perspektive rücken daher – neben dem literarästhetischen Diskurs – insbesondere die Diskurse des digitalen Publizierens und der Literatur in Sozialen Medien, der literatur- und buchwissenschaftliche sowie der juridische Diskurs in den Mittelpunkt, denn Begriffe wie ‚Werk’ oder ‚geistiges Eigentum’ nehmen in verschiedenen Diskursen unterschiedliche Bedeutungen an, die dann wiederum in literarischen oder philosophischen Texten interdiskursiv vermittelt werden.Footnote 8

Indem dieser Beitrag auch den juridischen Diskurs reflektiert, verweist er auf die gesellschaftspolitische Dimension des digitalen Wandels und auf die Notwendigkeit, Begriffe und Modelle, die als Dispositive spezifische Literaturkonzepte, geisteswissenschaftliche Schulen und literaturbetriebliche Geschäftsmodelle stützen, zu problematisieren. Dies scheint umso wichtiger, als breit wahrgenommene literatur- und medienwissenschaftliche Arbeiten zum Themenfeld dieses Beitrags entweder für die Bewahrung traditioneller Konzepte plädieren, wie zum Beispiel jenes des ‚geistigen Eigentums‘, und dieses in scharfer Abgrenzung von den digitalen Produktions- und Rezeptionsformen verteidigen,Footnote 9 oder konstatieren, dass gegenwärtig noch keine angemessenen Aussagen über die Digitalisierung getroffen werden könnten.Footnote 10 Dass eine Netzliteraturwissenschaft sich zu diesen Debatten anders positionieren muss, scheint evident. Dieser Beitrag will eine solche Position für den Werkbegriff entwickeln.

2 Werk, Text, Netzwerk: Statische und dynamische Konzeptionen des literarischen Werkbegriffs

Der Werkbegriff kann nur sinnvoll problematisiert werden, wenn er in seiner gewachsenen Bedeutung differenziert wird. Dazu werde ich zunächst in einem kursorischen historischen Rückgriff seine antike Begriffsbildung und Konzeptionen eines geschlossenen, statischen Werks beschreiben sowie in einem zweiten Schritt literaturwissenschaftliche Entwürfe eines dynamischen und pragmatischen Werkbegriffs.

2.1 Fixierte Druckwerke, das Werk als Produkt und die Werkherrschaft der Autor*innen: Statische Werkbegriffe

Etymologisch leitet sich der Werkbegriff aus dem altgriechischen Ϝέργον (érgon) ab, er bezeichnet das Ergebnis einer produktiven Tätigkeit. In der Rhetorik setzt die Geschichte des heutigen Werkbegriffs mit der geformten mündlichen Rede ein, die in Ereignis und Rezeption unterteilt wird: „Die Werkhaftigkeit der Rede manifestiert sich primär nicht in einem die Zeit überdauernden Objekt, sondern kommt im Vortrag […] bzw. in der durch ihn bewirkten Anschlußhandlung des Publikums zum Ausdruck.“Footnote 11 In Platons Phaidros findet sich das berühmte Zwiegespräch über die Redekunst zwischen Sokrates und Phaidros, in dem Sokrates begründet, weshalb die Redekunst unbedingt den Schriftwerken vorzuziehen sei: Die Erscheinungsweise und Qualität eines Werks wird von Platon in Relation zu ihrer medialen Form und zu seiner Wirkung auf das Publikum bewertet.Footnote 12

Für Martin Kölbel wiederum setzt die Geschichte des Werkbegriffs mit der Eudemischen Ethik von Aristoteles an. Er verweist auf Aristoteles’ fundamentale Differenzierung aller menschlichen Handlungen nach Zweck oder Ziel, analog dazu werde das Werk von Aristoteles als eine Tätigkeit oder aber als Ergebnis einer Handlung bestimmt.Footnote 13 Hier ist bereits die später in der Reflexion der literarischen Kommunikation wichtige Unterscheidung von Produktionsprozess und dem nach dem Plazet des Autors bzw. der Autorin veröffentlichten Text angelegt, allerdings habe sich als „wirkungsmächtige Denotation“ des Werkbegriffs „die eines selbstständigen, dingartigen Produkts [durchgesetzt], das durch seine materielle Beschaffenheit von seinen Produktionsbedingungen freigestellt ist.“Footnote 14

In dieser Traditionslinie steht die Vorstellung eines „Erzeugnis[ses] mit einer einmaligen, unantastbaren und endgültig fixierten Gestalt“, die sich allerdings erst deutlich später etabliert, Ostermann setzt dies im italienischen Humanismus des 14. Jahrhunderts an.Footnote 15 Ein solches Verständnis des literarischen Werkbegriffs konzentriert sich auf das Produkt schriftstellerischer Tätigkeit und versteht dieses weniger als Teil einer literarischen Kommunikation denn vielmehr als eigenständige, entrückte und also statische Entität. So konstatiert die Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, beim literarischen Werk handele es sich um

das fertige und abgeschlossene Ergebnis der literarischen Produktion, das einem Autor zugehört und in fixierter, die Zeit überdauernder Form vorliegt, so daß es dem Zugriff des Produzenten ebenso enthoben ist wie dem Verbrauch durch den Rezipienten.Footnote 16

Der literarische Werkbegriff entwickelt in dieser Lesart eine Nähe zum Werkbegriff im Militärwesen, dort meint das ‚Werk‘ den mit Wällen und Gräben befestigten geschlossenen äußeren Teil einer Festung.Footnote 17

Die Einführung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert verändert die mediale Gestalt, die Distributions- und die Archivierungsformen literarischer Werke nachhaltig: Ihre Schriftkörper werden grundlegend anders gestaltet, die Differenzierung zwischen (Autor-)Handschrift und (Verlags-)Druckversion definiert sowohl die Autorintention zur Veröffentlichung als auch die Warenförmigkeit des Druckwerks. Bis heute stellt sich für gedruckte literarische Bücher daher die Frage, inwiefern die Autor*innen auch die materiale Gestaltung des Buches – u. a. seine Ausstattung oder Typographie – bestimmt haben: Alexander Starre schlägt die Bezeichnungen ‚Buchwerk‘ und ‚bibliographischer Autor‘ für solche Fälle vor,Footnote 18 Annika Rockenberger und Per Röcken rücken aus editionsphilologischer Sicht den „material text“ in den Vordergrund, dessen Materialität umfasse „alle chemischen und/oder im weitesten Sinne physikalischen Eigenschaften des Dokuments und der Schrift, einschließlich graphisch-visueller Eigenschaften der Schriftzeichen“.Footnote 19 Die Autorschaft eines Werks konstituiert sich aus dieser Sicht nicht nur durch die Produktion einer sprachlichen Form und der Inhalte, sondern auch durch die materielle Gestaltung eines literarischen Werks.

Die Autorschaft eines Werks gewinnt Ende des 18. Jahrhunderts eine neue Bedeutung, denn das literarische Werk wird in einer Ordnungsstruktur positioniert, in der Autorname, Titel sowie Erscheinungsort und -jahr zentral stehen.Footnote 20 Die das Werk prägende und somit gestärkte Rolle des Autors, die in der Rechtswissenschaft als „urheberrechtliche Prägetheorie“ firmiert,Footnote 21 wird zu einer zentralen Figur bei der Etablierung des modernen Literaturbetriebs mit seinen Instanzen und Institutionen: Das sind vor allem die Verlage und der Buchhandel. Deren Geschäftsmodelle basieren auf dieser spezifischen Ökonomie des Autor-Werk-Verhältnisses, die ab den 1770er Jahren in literarischen und philosophischen Diskursen intensiv diskutiert und ab den 1830er Jahren im juridischen Diskurs als ‚Urheberrecht‘ gefasst wird: Hier wird zwischen der Gedankenform, der geistigen Ausgangsidee eines Werkes, die eine Autorin in sich trägt, und ihrer Materialisierung im gedruckten Werk unterschieden. Diese besondere Qualität, ein eigentümliches Werk – also einen besonderen ästhetischen Gegenstand – in sich gedacht zu haben, wird zum Begründungsmoment des ‚geistigen Eigentums‘, das der Autor unabdingbar an seinem Werk behält und das ein „Zeitalter der Werkherrschaft“Footnote 22 durch die Autor*innen begründet. Streng genommen ist dieses Werk als Idee bereits im Geiste des Autors bzw. der Autorin innerlich präsent, ohne überhaupt veräußert zu sein, weshalb „die gegenständliche Ausführung des Werkes, das sichtbare Original, bereits die erste Vervielfältigung“Footnote 23 ist. Zwar kann die Autorin die Nutzungs- und Verlagsrechte an ihrem Werk veräußern, die geistigen Eigentumsrechte an ihrer ‚Schöpfung‘ verbleiben jedoch bei ihr, weshalb sie auch den Nachdruck regulieren kann.

Diese Autor-Werk-Ökonomie wirkt bis heute – als Urheber-Schöpfung-Verhältnis – im deutschen Urheberrecht fort, das sich auf den Schutz der Urheber konzentriert (§ 1), die als „Schöpfer des Werkes“ (§ 7) bestimmt werden. Der Werkbegriff ist dabei sowohl auf den persönlichen Schöpfungsakt als auch auf eine Mindestqualität (‚Schöpfungshöhe‘) des Gegenstands ausgerichtet: „Werke im Sinne dieses Gesetzes sind nur persönliche geistige Schöpfungen.“Footnote 24 Zu beachten ist dabei, dass die Schöpfungshöhe im Regelfall bereits von Werken „mit einer geringen Gestaltungsintensität“ und von besonders kurzen Texten wie Werbeslogans erfüllt sein kann.Footnote 25 Ein solcher Begriff des literarischen Werkes als fixiertes, enthobenes und geschütztes Produkt eines (individuellen) Schöpfungsprozesses, das der intentionalen Werkherrschaft der Autoren unterworfen ist und sich in der medialen Form des fixierten Druckwerkes zeigt, legitimiert somit zugleich die heute vorherrschenden juridischen und buchökonomischen Rechts- und Geschäftsmodelle.

Auch einige wirkungsmächtige editionsphilologische Ansätze korrelieren mit diesem auf die Autorintention und die drucktechnische Fixierung ausgerichteten Werkbegriff. Gunther Martens bezieht sich in seiner editionsphilologischen Beantwortung der Frage, wie das literarische Werk – als Gesammeltes Werk, Gesamtwerk oder einzelnes Werk – zu bestimmen sei, auf die Autorintention. Über die Umwandlung eines Texts in ein Werk bestimme die Autorin, denn die Textgenese sei nur eine Vorstufe des Werks. Die Einheit des Werks jedoch „legt allein durch seinen Entschluß, einen Text zu veröffentlichen, der Autor fest.“ Ein solchermaßen konstituiertes Werk sei vor allem bestimmt durch seine „Grenze“, denn es „setzt in seinem Begrenzt-Sein uns als Interpreten und Editoren Grenzen.“Footnote 26 Carlos Spoerhase bezeichnet den „Eintritt des Textes in die soziale Ordnung“Footnote 27 allgemein als Werksozialität. Die Werkherrschaft der Autor in beginnt bei ihm dort, „wo der Autor dem Interpreten hermeneutisch relevantes Material vorenthalten kann“,Footnote 28 und endet dort, „wo der Kommunikationsakt geschlossen wird“ und die Autorin der Leserin kein zusätzliches Material mehr bereitstellen kann, letztlich also durch die nach dem Ableben des Autors ausgelöste „endgültige Versiegelung des Werks“.Footnote 29

2.2 Schreiben und Lesen als Prozess. Literaturwissenschaftliche Entwürfe eines dynamischen Werkbegriffs

Daneben etablieren sich auch eher pragmatische literaturwissenschaftliche Entwürfe eines dynamischen Werkbegriffs. In der Moderne werden die Abgeschlossenheit des einzelnen Werks und seine Enthobenheit durch Theorien der Intertextualität oder der durch Leser zu füllenden Leerstellen relativiert und sein prinzipiell offener Charakter, seine Unbestimmtheit, fokussiert.Footnote 30 Bei der Auseinandersetzung mit diesen in der Philosophie, der Literaturwissenschaft und der Editionsphilologie entwickelten Versuchen, einen pragmatischen oder dynamischen Werkbegriff zu entwerfen, helfen (editions-)philologische Differenzierungen des Werkbegriffs sowie die Nutzung von Para-, Kon- und Intertexten zur Bestimmung eines Werks sowie von populärkulturellen und poststrukturalistischen Ansätzen zur Relativierung des statischen Werkbegriffs.

Zunächst muss der Werkbegriff binnendifferenziert werden, da er verschiedene Ebenen besitzt. Spoerhase hat 2007 vorgeschlagen, fünf Ebenen des Werkbegriffs zu unterscheiden: erstens das Gesamtwerk, also alle (noch ungeordneten) textlichen Hinterlassenschaften eines Autors oder einer Autorin, die als Überlieferung (Patrimonium) zu bezeichnen wären; zweitens der als veröffentlichbares Ausgangsmaterial hieraus produzierte Text, der „in einer verbindlichen Leseordnung“ sortiert worden ist. Dieser Text kann dann drittens durch vier Kriterien zum Werk (Opus) qualifiziert werden:Footnote 31 durch „einen Titel (paratextuelles Kriterium), […] einen Veröffentlichungsakt (institutionelles Kriterium), […] die Autorabsicht (intentionales Kriterium) oder […] seinen Geschlossenheitsgrad (Anfang und Ende) bzw. Vollendungsgrad (ästhetisches Kriterium).“Footnote 32 Schließlich gibt es viertens von einem Opus eine bestimmte Ausgabe (Œuvre) sowie fünftens von einem spezifischen Œuvre ein jeweiliges Exemplar.Footnote 33 Diese Differenzierung ist zwar vor allem aus editionsphilologischen Grundannahmen abgeleitet worden und privilegiert problematische Größen wie die Autorabsicht oder den Geschlossenheitsgrad, kann jedoch gerade deshalb als Folie für die spätere Problematisierung eines Werkbegriffs genutzt werden, der sich aus der Bestimmung des Werks als Opus ableitet und literarästhetisch wie buchökonomisch und juridisch folgenreich ist.

Eine breitere Perspektive auf den Werkbegriff kann man einnehmen, wenn man dem Ausgangspunkt von Steffen Martus‘ Studie zur Werkpolitik folgt, dass sich das Werk „‚um 1800‘ als zentrale, auf einen Autor zugeordnete Instanz für die literarische Kommunikation“Footnote 34 etabliert, um der Marktförmigkeit der literarischen Kommunikation gerecht zu werden. Über die Werkherrschaft des*r Autors*in, die diese*r durch den intentionalen Akt der Veröffentlichung und die Verfügungsgewalt über zusätzliches, hermeneutisch relevantes Material erlangt, stellt Martus seinen Begriff der ‚Werkpolitik‘, der die Herrschaftsverhältnisse über einen Text nicht unmittelbar dem Autor zuschreibt, sondern allgemeiner voraussetzt, „daß es überhaupt um Aushandlungen von Mächtigkeit geht, wenn sich Leser und Autoren mit einem Werk beschäftigen.“Footnote 35 Auf diese Weise rückt nicht nur das spezifische Autor-Text-Verhältnis zur Bestimmung eines Werks ins Zentrum, sondern eine Vielfalt institutioneller und kommunikativer Praxen. Dazu zählt Martus u. a. auch die Philologie, den Buchmarkt, das Bibliothekswesen, die Literaturkritik und die Leserschaft.

Bei solchen Analysen kann die Bestimmung von Werken in ihren para-, kon- oder intertextuellen Zusammenhängen helfen. Beispielsweise erwächst der ästhetische Wert der experimentellen Literatur vor allem aus der Qualität der ausgewählten Zitate sowie der Form der Montage.Footnote 36 Gérard Genette hat mit dem Begriff des Paratexts eine Kategorie eingeführt, die die von der Autorin (mit)gestalteten Werkelemente neben dem ‚eigentlichen‘ Werk differenzierbar macht. Genette unterscheidet dabei Peritexte, also Elemente im direkten Umfeld des Werkes, wie Titel, Motto oder Danksagung, sowie Epitexte, das sind Elemente außerhalb des Werkes, zum Beispiel Autorinterviews zum Buch in anderen Medien oder die begleitende Verlagswerbung.Footnote 37 Annette Gilbert hat am Beispiel der Auseinandersetzungen über den Satz von Katharina Hackers Alix, Anton und die anderen (2009) zwischen der Autorin und dem Suhrkamp Verlag gezeigt, dass die „zunehmende (Verantwortungs-)Übernahme der Text- und Buchgestaltung durch die Autoren und die wachsende Ausdifferenzierung paratextueller Strategien […] auch von philologischer und bibliothekarisch-archivarischer Seite Berücksichtigung finden“Footnote 38 müsse – wobei die Voraussetzung dieses Wandels die digitalen Textproduktionsmittel sind, die gleichsam zu den Autoren hin sozialisiert werden.

Eine weitere Problematisierung des Werkbegriffs ist mit der Kritik des literarischen Kanons verbunden: Der enge Bezug auf eine Autorintention und die formale Abgeschlossenheit eines literarischen Textes, die im statischen Werkbegriff angelegt sind, präferieren hochkulturelle ästhetische Autorschafts- und Literaturmodelle. Helmut Schmiedt hat eine Krise des Werkbegriffs konstatiert, indem er populärkulturelle Phänomene wie den Blues oder die Jugend- und Unterhaltungsliteratur kursorisch untersucht hat. Er sieht seine Hypothese bestätigt, dass sich „Gedanken zur Degradierung der Instanz ‚Autor‘ und zur Auflösung des Werkbegriffs […] mit unseren Beispielen aus der U-Kultur trefflich und handfest belegen“ lassen.Footnote 39 Im Bereich der Jugend- und Unterhaltungsliteratur erreiche die Neube und Überarbeitung der Texte ein solches Maß, „dass man vom ursprünglichen Text nur noch als von einer Vorlage für freie Improvisationen der Bearbeiter reden kann.“Footnote 40

Schließlich hat Roland Barthes paradigmatisch eine Bewegung Vom Werk zum Text eingefordert: Während das Werk zum Gegenstand der Philologie bzw. einer hermeneutischen Interpretation werde, versteht Barthes den Text strukturalistisch als „dezentriert, ohne Verriegelung“, als „ein System ohne Ende noch Zentrum“.Footnote 41 Während das Werk ein Konsumgut sei, das eine klare Abstammung aufweise, löse der Text eine Lust bei den Leser*innen aus. Barthes ersetzt die enge Verbindung von Autor und Werk durch das lustvolle Verhältnis von Leser und Text: „[D]ie Gesellschaft postuliert eine Gesetzlichkeit des Bezugs zwischen dem Autor und seinem Werk […]. Der ‚Text‘ hingegen wird ohne die Einschreibung des ‚Vaters‘ gelesen.“Footnote 42 Barthes wählt, als nähme er das World Wide Web vorweg, als Metapher für den Text jene des ‚Netzes‘Footnote 43 und konstatiert, dass „der ‚Text‘ verlangt, daß man versucht, die Distanz zwischen Schreibenden und Lesen aufzuheben“.Footnote 44 Dieser später von Barthes – auch durch seine aphoristische Darstellungsform – noch radikalisierte AnsatzFootnote 45 wurde im literaturwissenschaftlichen Diskurs über den Werkbegriff eher verhalten aufgenommen und selbst in interessierten Auseinandersetzungen problematisiert.Footnote 46

3 Vom Werk zum Netzwerk? Netzliteratur und Literaturplattformen

Wenn man Barthes‘ Präferenz des Textbegriffs gegenüber dem Werkbegriff ernst nimmt und pragmatisch auf die konkrete Nutzung der Begriffe ‚Werk‘ und ‚Text‘ im deutschsprachigen Raum schaut sowie die für unsere Fragestellung relevanten Kategorien ‚Daten‘ und ‚Netzwerk‘ hinzunimmt, lässt sich vorsichtig ein Umschwung der Begriffsnutzung seit 1950 konstatieren. Folgt man den Daten des Google Books Ngram Viewers für den deutschsprachigen Korpus von 1720 bis 2008, kann für den Werkbegriff ein Aufstieg ab 1720, ein Höhepunkt seines Gebrauchs in den 1770er Jahren sowie eine konstante Etablierung mit einem deutlichen Anstieg von 1900 bis 1950 gezeigt werden, allerdings seit 1950 eine kontinuierliche Abnahme seiner Verwendung. Im Gegensatz dazu nimmt die Nutzung der Begriffe ‚Text‘ und vor allem (und seit etwa 1995 noch zunehmend) ‚Daten‘ deutlich zu. Während 1950 (in einer Hochphase der werkimmanenten Literaturanalyse) der Werkbegriff wesentlich häufiger genutzt wurde als der ‚Text‘- und der ‚Daten‘-Begriff, werden beide in der Gegenwart häufiger aufgerufen als der Werkbegriff. Seit den 1990er Jahren gewinnt zudem der Begriff des ‚Netzwerks‘ eine immer größere Relevanz (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Eine vergleichende Übersicht über die quantitative Nutzung der Begriffe ‚Daten‘, ‚Werk‘, ‚Text‘ und ‚Netzwerk‘ im deutschsprachigen Korpus von Google Books für die Jahre 1720 bis 2008Footnote

Nicht case-insensitive, with a smoothing of 5, vgl. Google Books Ngram Viewer, Graph these comma-separated phrases: Daten, Netzwerk, Text, Werk, https://books.google.com/ngrams/graph?content=Daten%2C+Netzwerk%2C+Text%2C+Werk&year_start=1720&year_end=2008&corpus=20&smoothing=5&share=&direct_url=t1%3B%2CDaten%3B%2Cc0%3B.t1%3B%2CNetzwerk%3B%2Cc0%3B.t1%3B%2CText%3B%2Cc0%3B.t1%3B%2CWerk%3B%2Cc0 (letzter Aufruf 22.6.2019).

Diese Daten geben allerdings lediglich eine grobe Übersicht und erlauben nur vorsichtige Thesen. Man müsste auf Basis spezifischer Textkorpora aus verschiedenen Bereichen der Literaturwissenschaft die konkrete Verwendung dieser Begriffe analysieren. Simone Winko hat in einer empirischen Studie zur Anwendung des Werkbegriffs auf Texte von Heinrich von Kleist in der literaturwissenschaftlichen Praxis in ähnlicher Weise konstatiert, dass der Werk- vom Textbegriff abgelöst worden sei und vor allem noch als Sammelbegriff für das Œuvre genutzt werde. Allerdings würden „Werk-Merkmale wie Intentionalität […] auch auf die synonym verwendeten Begriffe wie ‚Text‘, editorische Bezeichnungen, den Autornamen oder Gattungsbezeichnungen übertragen.“Footnote 48

Für Einführungswerke in die Computerphilologie bzw. die Digital Humanities lässt sich vorsichtig eine Präferenz für andere Begriffe konstatieren: Fotis Jannidis nutzt den Werkbegriff nur im Kontext des gedruckten Ausgangstextes, ihm gegenüber stellt er ‚digitale Texte‘, ‚elektronische Texte‘, ‚elektronische Editionen‘ oder ‚Informationsbestände‘;Footnote 49 in einer anderen Einführung wird der Werkbegriff im Register nicht geführt, dort finden sich jedoch Begriffe wie ‚Daten‘, ‚Datensatz‘, ‚Digitalisat‘, ‚Textkorpora‘, ‚Volltext‘.Footnote 50 Jenseits dieser Korpusbeobachtungen, die einen Wandel vom Werkbegriff zu Konzeptionen von ‚Text‘ und ‚Daten‘ nahelegen, sollen im Folgenden grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis von Werkbegriffen und netzliterarischen Phänomenen angestellt werden.

3.1 Netzliteratur und Literaturplattformen: Organisation, Administration und Benutzungsschnittstellen

Die digitale Gesellschaft und ihre Medien werden als eine ‚Netzwerkgesellschaft‘ bzw. ‚Netzwerkkultur‘ gefasst,Footnote 51 der dezentralen Struktur des World Wide Web entsprechend. Während Jay David Bolter schon 1991 auf den ‚flüssigen‘ und dynamischen Charakter des elektronischen Schreibens hinweist und eine interaktive Computer-Literatur beschreibt,Footnote 52 konstatieren zur Jahrtausendwende deutschsprachige Literaturwissenschaftler, dass die kommunikative Vernetzung und das kooperative Schreiben von Autoren und Lesern die Literatur im elektronischen Raum bzw. die Netzliteratur (mit)bestimmen werde.Footnote 53 Simone Winko grenzt dezidiert eine ‚digitalisierte (Buch-)Literatur‘ und eine ‚digitale Literatur‘ einerseits von einer „Netz-Literatur“ andererseits ab: Letztere bildet eine spezifische Untergattung der digitalen Literatur und benötigt das „Vermittlungsmedium“ Internet, „um zu funktionieren.“ Eine solche digitale Literatur, die die interaktiven Kommunikationsformen des Internets nutzt, kann „neue Möglichkeiten der Interaktion zwischen Text und Leser, aber auch der Kommunikation von Lesern miteinander“ hervorbringen.Footnote 54

Während Winko 2009 den Begriff der ‚Netzliteratur‘ in die Untergattungen ‚Hyperfictions‘, ‚Maschinenpoesie‘ und ‚Mitschreibeprojekte‘ differenziert, haben sich durch die Wucherung der Sozialen Medien inzwischen vor allem intensivierte netzliterarische Kommunikationsweisen, also ‚Mitschreibeprojekte‘, entwickelt. Unter anderem lassen sich „Formen nutzergenerierter Texte“ in Medienformaten wie Weblogs, Microblogs, Wikis und Forenbeiträgen beschreiben,Footnote 55 wobei zwei verschiedene Kommunikationsweisen zu unterscheiden sind: einerseits Formen des digitalen kollaborativen Schreibens von Autor*innen und Leser*innen sowie andererseits Social-Reading-Plattformen, auf denen Leser*innen gemeinsam Texte rezipieren und kommentieren. In beiden Fällen erhalten die Leser*innen Zugang zu einem digitalen Text auf einer Literaturplattform, die es ihnen ermöglicht, den Leseakt als Schreibakt zu vollziehen (z. B. als Kommentar bei Weblogs, als eigenen Text in Foren oder als Teil eines Kollektivtexts in Wikis) und diesen Schreibakt – in unterschiedlicher Form – gleich wieder öffentlich zu machen (für alle Leser*innen oder für eine ausgewählte Gruppe).

Zwar werden die größten Umsätze auf dem elektronischen Literaturmarkt weiterhin mit Formaten gemacht, die als ‚E-Books‘ das gedruckte Buch und seine medialen Implikationen imitieren, zunehmend öffnet sich jedoch auch die Buchwissenschaft der Netzliteratur und ihren Erscheinungsweisen. Svenja Hagenhoff und Axel Kuhn verstehen digitale Lesemedien entsprechend nicht mehr als ‚Leseobjekte‘, sondern vielmehr als eine „dynamische Ausprägung[en] unterschiedlicher Eigenschaften“,Footnote 56 die nicht als eine modifizierte Form gedruckter Medien, sondern „als eigenständige Lesemedien mit spezifischer Kommunikationsfunktion“Footnote 57 zu betrachten seien. Aus einer solchen Perspektive wandelt sich das literarische Kommunikationsmodell von einer individuellen Buchautorschaft zur Autor-Leser-Interaktion in Sozialen Medien und von der Zentrierung des Werks als der zentralen (Verkaufs-)Größe des Buchmarkts hin zu literarischen Kommunikationsnetzwerken auf Webplattformen.

Dabei entstehen neue literarische Organisationsformen, wie Gesine Boesken für diese Literaturplattformen konstatiert, die auf „ein dezidiertes Plattform-‚Management‘“ angewiesen sind, zu dem die jeweilige „Netiquette“, „spezifische Plattform-Regeln“ sowie die Etablierung von „Administratoren […] und Moderatoren“ gehören.Footnote 58 Solche interaktiven Plattformen sind wiederum auf spezifische Benutzungsschnittstellen angewiesen, diese „übersetzen digital gespeicherten Code in maschinenlesbare Zeichen, gestalten Inhalte und zeigen diese an“.Footnote 59 Neben den eigentlichen literarischen Inhalt, der im Codex des gedruckten Buches eine festgelegte typographische Darstellung findet, tritt bei digitalen Lesemedien mit den Benutzungsschnittstellen eine Größe, die eine spezifische „Bereitstellungsqualität“ besitzen kann, wenn sie sich als „gestaltbar[]“ erweist.Footnote 60

Favorisiert der Begriff des ‚statischen Werks‘ gerade die (drucktechnische) Fixierung des literarischen Textes, ist die besondere Qualität der Benutzungsschnittstelle, dass sie eine vernetzte Kommunikation und ein Um- bzw. Weiterschreiben des Textes ermöglicht. Die Geschäftsmodelle der Netzliteratur beziehen sich folglich nicht mehr auf die Produktion und Distribution eines gedruckten Buchwerks, sondern auf die Einbettung des literarischen Gegenstands in eine Netzkommunikation. Folglich experimentieren Autoren als Self-Publisher, aber auch Netzverlage sowie Anbieter von Literaturplattformen und Start-ups mit Geschäftsmodellen wie Crowdfunding, Crowdsourcing, Flatrate, Freemium, Open Source, Pay-per-Use oder Pay What You Want,Footnote 61 die sich weniger auf die Werkförmigkeit des Gegenstands als eher auf seine Benutzungsschnittstellen und teilweise auch auf die Ermöglichung einer Anschlusskommunikation fokussieren.

3.2 Fan-Fiction und Social Reading: Werkbegriffe und juridische Probleme

Phänomene wie die Fan-Fiction, die Twitteratur, Litblogs mit Kommentarfunktion, literarische Crowdfunding- und/oder Crowdsourcing-Projekte oder auch die kollaborativen Annotationen zur Netzliteratur sowie die Formen der Online-Literaturkritik, z. B. auf Plattformen wie Goodreads oder Mojoreads, könnten Gegenstände genauerer Analysen sein.Footnote 62 Dabei wäre es wichtig, die Gegenstände nicht nur in ihrer Oberflächendarstellung, sondern auch in ihrer eigentlichen Form, dem jeweiligen Code wahrzunehmen; Martin Stobbe plädiert in diesem Sinne für den Erwerb einer „Procedural Literacy“.Footnote 63 Wenn man bspw. den Quellcode der Kommentare zu einem Blogposting auf dem Litblog Die Dschungel. Anderswelt von Alban Nikolai Herbst liest,Footnote 64 fällt es schwer, diesen im Kontext des Werks – also den Kommentar zum Posting im Kontext des Litblogs – zu rubrizieren: Die Kommentare könnten einerseits als eigenständige Werke mit einer Autorfunktion bewertet werden, andererseits gehören sie eindeutig zum Kommunikationszusammenhang des Litblogs, der als Medienformat auf diese Formen der Interaktion angelegt ist. Man könnte nun das Ausgangsblogposting als Werk und die Kommentare als fremdproduzierten Peritext bewerten; für die Fälle einer echten Autor-Leser-Kommunikation über die Kommentarfunktion erscheint eine solche Differenzierung jedoch ebenfalls unangemessen.

Zudem ergibt sich hier die auch juridische Frage, welche Elemente einer solchen Blogstruktur als Teile des Werks zu fassen wären: Während die literaturbetriebliche Werkzuschreibung an Bücher und Artikel über die Zuweisung einer ISBN oder einer ISSN erfolgt, die allerdings explizit nicht für Online-Datenbanken, Webseiten, E-Mails vergeben werden können, wären diese mit einem Digital Object Identifier (DOI) dauerhaft und eindeutig zu bezeichnen und aufzufinden.Footnote 65 Es ist allerdings weiterhin undeutlich, inwiefern die einzelnen Elemente der Autor-Leser-Kommunikation – z. B. im Kontext eines Litblogs – auch mit einem DOI zu versehen wären.

Diese grundsätzlichen kategorialen und urheberrechtlichen Probleme zeigen sich paradigmatisch bei der Fan-Fiction, die im deutschsprachigen Raum zum Beispiel auf der Plattform FanFiktion.de entsteht: Hier schreiben Leser*innen bzw. Zuschauer*innen ihre liebsten Bücher, Comics, Computerspiele, Filme und Fernsehserien weiter, indem sie sich eng an das Narrativ und/oder einzelne Figuren anlehnen. Die Fan-Fiction hat für eine große Schreibproduktivität vor allem junger Leser*innen gesorgt und bereits spezifische Merkmale ausgeprägt: eine hohe Intensität an gegenseitigen Kommentaren (als doppeltes Social Reading: erstens des Ausgangstexts, zweitens der Produktionen innerhalb der Community), spezifische Veröffentlichungsrhythmen und Rollen (‚Beta-Leser‘ fungieren als Lektor*innen) sowie eigenständige Formate wie Mitmachprojekte oder Schreibwettbewerbe.Footnote 66

Allerdings ist die strukturelle Nähe der Fan-Fiction zu ihrer Vorlage urheberrechtlich bedenklich, weshalb die Fan Fiction Studies als ein zentrales Merkmal der Fan-Fiction den Willen, offensiv das Recht zur kreativen Nachnutzung zu proklamieren, definieren: „[F]ans are self-consciously organizing and establishing their rights to create transformative works.“Footnote 67 Dennoch sind die aktiven Leser-Autoren der Bedrohung ausgesetzt, dass ihre Fan-Fiction als Plagiat bewertet und sie entsprechend bestraft werden können. Reißmann u. a. schlagen – im Kontext ihrer Empirical Legal Studies zur Fan-Fiction – vor, gleich mehrere Annahmen des deutschen Urheberrechts kritisch zu überprüfen, die sich auf den juridischen Werkbegriff und seine Bedeutung für das Urheberrecht beziehen (ich führe die ersten vier von sechs Vorschlägen auf): Überprüft werden sollte

  • die Fixierung auf den Individualschöpfer;

  • das vermutete starke ‚persönliche Band‘ zwischen dem Schöpfer und seinem Werk;

  • das von einer rigiden Bestimmung von Selbstständigkeit geprägte Werkverständnis;

  • der mit Blick auf Werkarten und Schaffensprozesse favorisierte one-size-fits-all-Ansatz des deutschen Urheberrechtgesetzes […].Footnote 68

Zumindest die ersten beiden Punkte interferieren direkt mit dem im literarischen und im literaturwissenschaftlichen Diskurs präsenten statischen Werkbegriff. Die Fan-Fiction als eine produktive Praxis, die den Leseakt zu einem Schreibakt macht, steht repräsentativ für die Schwierigkeiten, die der statische und auf die Verbindung von Autor und Werk fixierte Werkbegriff für eine digitale literarische Kommunikation mit sich bringt, in der Autor*innen und Leser*innen sowie Leser*innen und Leser*innen enger zusammenrücken und die sich in öffentlichen Formen einer kollaborativen Textproduktion niederschlägt.

Im rechtswissenschaftlichen Diskurs werden diese Probleme zunehmend angegangen. Claudia Summerer empfiehlt in ihrer Arbeit ‚Illegale Fans‘ eine modifizierte Auslegung des § 24 UrhG, der garantiert, dass ein „selbständiges Werk, das in freier Benutzung des Werkes eines anderen geschaffen worden ist, […] ohne Zustimmung des Urhebers des benutzten Werkes veröffentlicht und verwertet werden“Footnote 69 kann. Da es im Fall der Fan-Fiction jedoch uneindeutig ist, inwiefern die Fan-Texte als ‚selbstständige Werke‘ zu fassen sind, schlägt Summerer vor, eine allgemeiner gehaltene „Ausnahmeregelung für kreative Werknutzungen“Footnote 70 zu ergänzen.

Während sich viele rechtswissenschaftliche Beiträge zwar vor allem mit urheberrechtlichen Schutz-, Sanktions- und Haftungsmaßnahmen im Kontext digitaler MedienFootnote 71 und dem Digital Rights Management als einem LösungsversuchFootnote 72 befassen, bemühen sich andere um eine differenzierte Auseinandersetzung mit den neuen Medienformaten und stellen dabei auch die zentrale Größe des Urheberrechts, wie die Vorstellung des komplexen Werks ‚Computerspiel‘ als einer individuellen Schöpfung, infrage.Footnote 73 Zudem zeichnet sich eine Tendenz ab, die „Unzulänglichkeiten des urheberzentrierten Individualitätskonzepts“Footnote 74 hervorzuheben: Malek Barudi zeigt in Autor und Werk, dass die vom Urheberrecht zentral gesetzte ‚Prägetheorie‘, der zufolge sich in einem literarischen Werk die individuelle Autorschaft erweise, nicht angemessen überprüfbar sei. Anstelle dessen plädiert er für den Bezug auf das Werk selbst und seine Abgrenzung von anderen Werken.Footnote 75

Für den spezifischen Bereich der Netzliteratur sind auch die Arbeiten von Axel Metzger relevant, der das Urheberrecht und die Freie oder Open Source Software (FOSS) miteinander in ein Verhältnis setzt. Eine Vergleichbarkeit der Phänomene ist gegeben, da beide auf die kollaborative Produktion sowie die offene Verfügbar- und Nachnutzbarkeit angelegt sind. Schon 2010 konstatierte Metzger eine starke Differenz zwischen „dem im Gesetz mit Nachdruck betonten Schöpferprinzip und der weniger prinzipientreuen Rechtsrealität“,Footnote 76 insbesondere für „dezentrale Urheberkollektive“Footnote 77 sei das Urheberrecht wenig hilfreich. In einem späteren Beitrag untersucht er diese Frage genauer am Beispiel der Wikimedia Foundation und stellt fest, dass die (offene) Lizensierung von Inhalten die führende Tendenz sei. In solchen Schreibnetzwerken seien allerdings die unterschiedlichen Autorfunktionen, Schreibrechte, „Streitbeilegungsmechanismen“, „Community-Regularien“ sowie deren „Auswirkungen […] auf die kreativen Prozesse“Footnote 78 zentral.

4 Literarische Netzwerkpolitik. Fazit und Ausblick

Der Werkbegriff als eine zentrale Kategorie der Literaturwissenschaft ist historisch und medial starken Wandlungen unterworfen, die jeweils die Ökonomie der literarischen Kommunikation – zwischen Autor*in, Werk/Text, den Instanzen und Institutionen des Literaturbetriebs und den Leser*innen – in unterschiedlicher Weise strukturiert haben. Zwar hat sich gezeigt, dass der Gebrauch des Werkbegriffs seit 1950 zurückgeht (und an seine Stelle Begriffe wie ‚Text‘ und ‚Daten‘ treten), seine Gehalte jedoch noch immer wirksam sind. Dazu konnte modellhaft ein statischer von einem dynamischen Werkbegriff unterschieden werden: Während im statischen Werkbegriff ein literarisches Werk vor allem auf die Autorintention bezogen und in der Form des fixierten Druckwerks als enthoben gedacht wird, beschreibt der dynamische Werkbegriff breitere und pragmatische literarische Kommunikationsmodelle: Das Werk steht zwischen Autor und Leser als Gegenstand einer Werkpolitik, in die auch andere Akteure eingreifen, und im Zusammenhang von Para-, Inter- und Kontexten.

Die Netzliteratur erscheint als ein vernetztes Soziales Medium, ihre neuen Formate wie die auf Literaturplattformen produzierten Fan-Fiction oder Litblogs intensivieren die Autor-Leser-Kommunikation und produzieren Textfragmente, deren Status noch erforscht wird.Footnote 79 Für eine Netzliteraturwissenschaft, die sich als Teildisziplin der Digitalen Literaturwissenschaft um die Analyse dieser netzliterarischen Phänomene bemüht, ist eine Untersuchung der Literaturplattformen und ihrer Benutzerschnittstellen unabdingbar: Wie sind diese gestaltet, welche (Mit-)Schreibrechte wurden an welche Rollen vergeben, welche Interaktivitätsoptionen bestehen, wie wird die Netzkommunikation reguliert? Die Perspektive wird verschoben: Der literarische Gegenstand ist weniger das mit einem Plazet des Autors versehene fixierte Produkt eines Schreibprozesses, sondern ein literarisches Kommunikationsnetzwerk, das (teilweise) seinen Produktionsprozess offenlegt und insbesondere seinen Rezeptionsprozess als einen des Mitschreibens anlegt – und gerade durch die Schnittstellennutzbarkeit seine Marktförmigkeit beweist.

Diese Verschiebung vergrößert jedoch zugleich die Legitimationskrise der durch die urheberrechtliche Prägetheorie legitimierten Rechts- und Geschäftsmodelle des literarischen Publizierens. Für die literaturwissenschaftliche Arbeit wird es folglich weniger relevant, „Erkenntnisse aus der Forschung zu analogen Printmedien unreflektiert auf digitale Lesemedien übertragen“ und in eine Relation zu Größen wie „Text/Hypertext, Buch/E-Book oder Papier/Bildschirm“Footnote 80 zu setzen. Vielmehr sollte den spezifischen digitalen Bedingungen der netzliterarischen Produktion und Rezeption nachgegangen werden. Im Zentrum muss dabei die Analyse der Netzwerkpolitik stehen, also der literarischen Online-Kommunikationsnetze, auf Basis eines interdisziplinären Wissenstransfers zwischen Literatur-, Medien-, Buch- und Rechtswissenschaft.

Ergänzung 2021: Vom Werk zum Netzwerk? Differenzierung vs. Restauration vs. Überwindung des literaturwissenschaftlichen Werkbegriffs

Seit 2017 hat sich eine ‚Netzliteraturwissenschaft‘ noch intensiver formiert, die als Teil der Digitalen Literaturwissenschaft auf die Herausforderung reagiert, Literatur und literarische Kommunikation in Sozialen Medien bzw. im World Wide Web zu erforschen.Footnote 81 Ein wichtiger netzliteraturwissenschaftlicher Forschungsbereich beschäftigt sich mit der Frage, inwiefern sich durch die veränderten medialen und kommunikativen Bedingungen auch die Bedeutungen und Beziehungen zentraler literaturwissenschaftlicher Kategorien wie ‚Autorschaft‘, ‚Lesen‘ oder ‚Werk‘ wandeln.

Die Beziehungen zwischen kulturellen Produzent*innen und Leser*innen, der Status der künstlerischen ‚Werke‘ und die produktiven Rezeptionsprozesse im digitalen Raum müssen neu austariert werden. Wie dynamisch und gesellschaftlich brisant diese Kämpfe sind, zeigte sich 2019 in den Debatten über die neuen Urheberrechtsrichtlinien auf der Ebene der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsstaaten, insbesondere in den Kontroversen um das ‚Leistungsschutzrecht‘ und die ‚Uploadfilter‘. Vor diesen Hintergründen erscheint es unabdingbar, dass der durch die Digitalisierung veränderte Status literarischer Werkformen auch literaturwissenschaftliche Forschungsarbeiten hervorbringt, die entweder 1) eine Relektüre und Differenzierung des Werkbegriffs und seiner Geschichte intendieren oder aber 2) ihn explizit zu stärken versuchen oder aber 3) ihn in einer Auseinandersetzung mit netzliterarischen Phänomenen problematisieren bzw. neue Konzeptionen oder modifizierte Begrifflichkeiten vorschlagen.

Mit seiner Münsteraner Dissertationsschrift legt Thomas Kater eine Arbeit vor, die das ‚Werk‘ als Status und als Spezifikation von ‚Text‘ reflektiert und Grundlinien eines pragmatischen Werkbegriffs entwickelt, den er in ‚Werkstatusfunktionen‘ differenziert. Am Beispiel des Œuvres von Max Frisch untersucht Kater ästhetische, epistemische, moralische und rechtliche, politische und ökonomische Funktionen des Werkstatus.Footnote 82 Annette Gilbert befasst sich in ihrer Habilitationsschrift mit „Grenzfälle[n] literarischer Werkwerdung seit den 1950er Jahren“. Gilbert problematisiert Kategorien des Werkstatus, der Werkmaterialität und -integrität, der Werkzuschreibung und -identität und der Werksozialität und -autonomie am Beispiel von zahlreichen literarischen Gegenständen, die allesamt die Grenzen der Kategorie ‚Werk‘ herausfordern.

Auch der 2019 von Lutz Danneberg, Annette Gilbert und Carlos Spoerhase herausgegebene Band „Das Werk. Zum Verschwinden und Fortwirken eines Grundbegriffs“ stützt den Werkbegriff als eine zentrale Kategorie literaturwissenschaftlicher Arbeit mit zahlreichen differenziert argumentierenden Aufsätzen. Allerdings sei hier auch auf die Position von Werner Wolf verwiesen, der in besonderer Weise für die „Sinnhaftigkeit der Restauration bzw. Wiederverwendung des Werkbegriffs als eines Grundkonzeptes nicht nur der Literaturwissenschaft“ plädiert. Dazu greift er u. a. auf Vorstellungen der Einmaligkeit großer Kunstwerke, der künstlerischen Intention und der wichtigen Abgrenzung einer Hoch- von der Populärkultur zurück.Footnote 83

In eine andere Richtung weisen Forschungsarbeiten, die sich explizit um die Problematisierung des Werkbegriffs im Kontext der Netzliteratur oder des digitalen Publizierens bemühen. In der von Svetlana Efimova herausgegebenen Textpraxis-Sonderausgabe „Autor und Werk. Wechselwirkungen und Perspektiven“ (2018) sticht der Beitrag von Julia Nantke hervor, der am Beispiel der digitalen bzw. vernetzten Literatur nicht nur über kooperative Projekte und das Werk als Dialog nachdenkt, sondern auch über die (un-)begrenzten Anschlusskommunikationen in Mitschreibeprojekten, die Rolle der aktiven Leser*innen „zwischen Kommentatoren und Kollaborateuren“, über „Autorenkollektive“ und „Mensch-Maschine-Kollaborationen“ sowie über das Verhältnis von multiplen Autorschaften und digitalen Werken: „[D]as Paradigma multipler Autorschaft und daran geknüpft des dynamisierten Werks ermöglichen einen neuen Blick auf literarische Produktions- und Publikationsprozesse, die verstärkt in ihrer Netzwerkhaftigkeit perspektiviert werden“.Footnote 84

Schließlich zeigt das Working Paper „Digitales Publizieren in den Geisteswissenschaften: Begriffe, Standards, Empfehlungen“Footnote 85, das die AG Digitales Publizieren im DHd-Verband 2021 im Open Peer Review veröffentlicht hat, wie stark die veränderten Publikationspraktiken der Digital Humanities auch die Begrifflichkeiten verändern: In dieser Veröffentlichung, zu der auch Literaturwissenschaftler*innen beigetragen haben, wird der Werkbegriff nur noch zweimal genutzt (beide Male als ‚gedrucktes Werk‘ in Abgrenzung zum ‚digitalen‘ oder ‚elektronischen Text‘), während andere Konzeptualisierungen wie ‚Text‘ oder ‚Version‘ etwa zwanzig- bzw. dreißigmal herangezogen werden.