1 Vorbemerkungen

Digitalität, verstanden als die „Verwendung digitaler Verfahren und Technologien in der geisteswissenschaftlichen Forschungspraxis“,Footnote 1 konfrontiert die Betroffenen mit Herausforderungen, deren Ausmaß zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch schwer absehbar ist. Chancen und Risiken liegen in diesem Bereich sehr eng beisammen. Bestandsaufnahmen haben deshalb unter Bedingungen, in denen sich immer mehr Forschende auf die technischen und methodischen Möglichkeiten der Digitalität einlassen und diese damit dynamisch weiterentwickeln, notgedrungen einen vorläufigen Charakter. Dies gilt umso mehr, als sich die Funktionen der Digitalität in einem komplexen Gefüge von „Referenzialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität“ bewegen.Footnote 2 Neben den technischen Verfahren einerseits (Algorithmizität) und den damit bearbeiteten Gegenständen andererseits (Referentialität) prägen sich Rollenmuster und Verhaltensnormen aus, mit denen Nutzer diese Instrumentarien handhaben, auf die jeweiligen Gegenstände zugreifen und miteinander interagieren (Gemeinschaftlichkeit). Gerade solche mit der Entwicklung der Technik und dem objektbezogenen Zugriff verbundenen Interaktionsformen unterliegen in einer Phase sich dynamisch fortentwickelnder Digitalität einer kontinuierlichen Ausdifferenzierung. Digitalität lässt sich dabei definieren als ein „Set von Relationen, das heute auf Basis der Infrastruktur digitaler Netzwerke in Produktion, Nutzung und Transformation materieller und immaterieller Güter sowie in der Konstitution und Koordination persönlichen und kollektiven Handelns realisiert wird“.Footnote 3 Traditionelle Profile wie jene von Produzenten, Nutzern, Rezipienten beginnen sich zunehmend zu überlagern, indem Produzenten von Algorithmen etwa auch deren Nutzer sind, Nutzer von digitalen Daten auch die Rolle von (interpretierenden) Rezipienten übernehmen, Rezipienten der Digitalität aber ihrerseits zu neuen Produzenten werden können. Derartige Interferenzen haben ihren Ursprung in gesellschaftlich-technischen Entwicklungen und wirken wiederum selbst auf gesellschaftliche Prozesse zurück.

Die Literaturwissenschaft partizipiert an solchen technischen und sozialen Entwicklungen und sieht sich mit der Herausforderung konfrontiert, die in ihrem Zuständigkeitsbereich einwickelten Begriffe und Methoden kritisch zu hinterfragen. So haben etwa angesichts der erwähnten Überlagerung von Produzenten-, Nutzer- und Rezipientenrollen konventionelle Sender- und Empfängermodelle nur noch beschränkte Gültigkeit. Aber auch grundlegende Verfahren wie das Sammeln von wissenschaftlichen Daten (colligere), deren Auslese und Auswertung (eligere) und letztlich die Basistechnik des Lesens (legere) unterliegen grundlegenden Modifikationen und erfahren eine neue Einschätzung. Angesichts der Möglichkeit, mithilfe elektronischer Verfahren immer größere Datenmengen zu verarbeiten, steht der Vorgang des Lesens selbst zur Disposition.Footnote 4 Er kann von einem kognitiven individuellen Vorgang an Maschinen ausgelagert werden. Aus dem Close Reading als einer extremen Praxis formaler Literaturanalyse ist unter den gegebenen technischen Bedingungen ein Distant Reading geworden, dessen diagrammatisch visualisierte Ergebnisse neue Sichtweisen (wenn auch nicht immer grundstürzend neue Erkenntnisse) in Bezug auf literaturwissenschaftliche Gegenstände ermöglichen.Footnote 5 Nicht als ein ‚Lesen auf Distanz‘ sondern als eine Erschließung umfangreicher Textkorpora reichen solche lexikographischen und texthermeneutischen Verfahren bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts zurück, als der Jesuitenpater Roberto Busa damit begann, die Schriften des Thomas von Aquin mithilfe computergestützter Konkordanzen aufzubereiten. Zurecht gilt Busa mit dem von ihm initiierten Index Thomisticus inzwischen gemeinhin als der Begründer der Digital Humanities als einer wissenschaftlichen Disziplin.Footnote 6

Der vorliegende Beitrag unternimmt es, die eingangs erwähnte Digitalität angesichts ihrer technischen, sozialen und epistemologischen Konsequenzen als eine ‚Herausforderung der Literaturwissenschaft‘ zu begreifen. Ganz bewusst soll dabei die ‚Lesbarkeit‘ der litteratura, das heißt eines (vorwiegend) aus litterae – also aus Schriftzeichen – bestehenden textuellen Gewebes im Fokus der Aufmerksamkeit stehen.Footnote 7 Mit diesem Stichwort sind texthermeneutische Verfahren aufgerufen, die seit den Sechzigerjahren im engeren oder weiteren Umfeld der Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik entwickelt worden sind und in jüngster Zeit ein neuerliches, durchaus auch kritisch geprägtes Interesse erfahren haben.Footnote 8 Die erwähnten Zugänge konkretisierten sich bekanntlich bei Hans Robert Jauß in einer als Provokation der Literaturwissenschaft präsentierten Rezeptionsästhetik (1967),Footnote 9 bei Wolfgang Iser in der Bestimmung des in der Textstruktur angelegten implizite[n] Leser[s] und damit einhergehend des Akts des Lesens (1972 und 1976),Footnote 10 und sie führten bei Hans Blumenberg zur grundsätzlichen Frage nach der Lesbarkeit der Welt (1981).Footnote 11 Diese Konturen sollen im folgenden zweiten Teil des Beitrags mit der gebotenen Kürze in Erinnerung gerufen werden. In einem dritten Abschnitt wird das Konzept der ‚Lesbarkeit‘ sodann mit einem Formexperiment konfrontiert, das einer der führenden französischen Repräsentanten der sogenannten ‚Postmoderne‘, mit der einige jüngere Vertreter der Gruppe Poetik und Hermeneutik in produktivem intellektuellen Austausch standen,Footnote 12 anlässlich einer Ausstellung am Pariser Centre Georges Pompidou durchführgeführt hat: Es handelt sich um die von Jean-François Lyotard (1985) präsentierte Schau Les Immatériaux, die sich den kulturellen Herausforderungen der damals erst in ihren Anfängen befindlichen Computertechnologie und ihrer ‚immateriellen‘ Präsentationsformen widmete.Footnote 13 Als Begleitprojekt inszenierte Lyotard unter dem Titel Épreuves d’écriture ein gemeinschaftliches Vorhaben, bei dem 26 französische Intellektuelle zu einschlägigen, mit den epistemischen Herausforderungen des Computerzeitalters in Zusammenhang stehenden Begriffen Stellung nehmen sollten – dies interaktiv in einer medialen, durch den Computer ermöglichten Kooperation.Footnote 14 In Auseinandersetzung mit den hier in einem mittlerweile über dreißigjährigen Abstand fassbaren Stellungnahmen und im Blick auf die (schriftlich dokumentierte) Performanz ihrer Interaktionen sollen in einem vierten Teil thesenartig Programmpunkte zu Literatur und Literaturwissenschaft im digitalen Zeitalter formuliert und damit zur Diskussion gestellt werden. Ein kurzer Ausblick soll den Beitrag beschließen.

2 Die Lesbarkeit der Welt

Denn es handelt sich ja nicht darum, die Werke des Schrifttums im Zusammenhang ihrer Zeit darzustellen, sondern in der Zeit, da sie entstanden, die Zeit, die sie erkennt – das ist die unsere – zur Darstellung zu bringen. Damit wird die Literatur ein Organon der Geschichte, und sie dazu – nicht das Schrifttum zum Stoffgebiet der Historie – zu machen, ist die Aufgabe der Literaturgeschichte.

Aus diesem in einer Fußnote zitierten Fazit von Walter Benjamins Aufsatz über Literaturwissenschaft und Literaturgeschichte (1931) entwickelt Hans Robert Jauß unter anderem sein Konzept des „Erwartungshorizont[s]“, vor dem sich jede literarische Erfahrung, auch diejenige in einer z. B. zeitlich oder örtlich bedingten hermeneutischer Distanz, vollziehe.Footnote 15 Ziel einer „Literaturgeschichte des Lesers“Footnote 16 müsse es sein, diesen „Erwartungshorizont zu objektivieren“.Footnote 17 Ermöglicht werde diese Objektivierung durch synchrone Schnitte im Gang durch die Literaturgeschichte, als Stationen „im Vorher und Nachher der Diachronie“.Footnote 18 Auf diese Weise lange die literarische Erfahrung auch beim „historischen Standort des gegenwärtigen Betrachters, alias Literaturhistorikers“ an; ebenso müsse der jeweilige „Interpret seine eigene Erfahrung ins Spiel bringen“.Footnote 19 Aus dieser die literaturwissenschaftliche Methodik und Literaturrezeption vermengenden Auffassung leitet Jauß schließlich die „gesellschaftliche Funktion der Literatur“ ab, bei der „die literarische Erfahrung des Lesers in den Erwartungshorizont seiner Lebenspraxis eintritt […] und damit auch auf sein gesellschaftliches Verhalten zurückwirkt“.Footnote 20 Durch diese am jeweiligen Erwartungshorizont bemessene, fortwährende gesellschaftliche Funktion der Literatur würden auch „Wege zukünftiger Erfahrung eröffnet“.Footnote 21

Die notwendige Voraussetzung eines solchen Prozesses sei, wie Jauß in Anlehnung an Harald Weinrich, wiederum in einer Fußnote, festhält, eine prinzipiell vor dem Hintergrund literatursoziologischer Prämissen in Rechnung zu stellende „Leserrolle, die im Werk implizit enthalten ist“.Footnote 22 Wolfgang Iser hat dieses Konzept der ‚Leserrolle‘ bekanntlich zum Begriff des ‚impliziten Lesers‘ ausgestaltet, der im literarischen Text entworfen ist. In Der Akt des Lesens beschreibt er (in Anlehnung an Roman Ingardens Begriff der ‚Unbestimmtheitsstellen‘) die Funktionen von Leerstelle und Negation: Die Leerstelle bewege sich auf einer syntagmatischen Achse der Textstrategie, indem der Leser bei seiner Interaktion mit dem Text dazu aufgerufen werde, einzelne Textsegmente und Darstellungsperspektiven miteinander zu kombinieren. Mittels seiner Vorstellungskraft fülle der Leser die vom Text offen gelassenen Lücken. Er favorisiere dabei einzelne in den Textsegmenten angelegte Positionen, mache sie zum „Thema“, während er andere marginalisiert, indem er ihnen den „Charakter des Horizonts“ zuweise.Footnote 23 Auf diese Weise werde die „Struktur der Leerstelle“ zum „Konstitutionsmodus des Textes im Lesevorgang“ und „ermöglicht […] die Beteiligung des Lesers am Vollzug des Textgeschehens“.Footnote 24 Leerstellen auf einer paradigmatischen Achse der Textstrategie fasst Iser unter dem Begriff der ‚Negation‘. Hierbei handele es sich um ein in Texten bspw. im Rahmen von Tugendkatalogen aufgerufenes Normenrepertoire, das den Handlungserfolg einer Figur – angesichts der Konfrontation mit einer korrupten Umwelt – nicht gewährleisten könne und deshalb im Vollzug der Lektüre ‚negiert‘ werde (Iser nennt den Protagonisten Abraham Adams in Henry Fieldings Roman Joseph Andrews als Beispiel).Footnote 25 Während die auf einer syntagmatischen Achse organisierte Leerstelle einer Textstrategie der „Aussparung“ unterliege, werde die auf einer paradigmatischen Achse organisierte Negation mittels einer Textstrategie der „Aufhebung“ erreicht.Footnote 26 In beiden Fällen werde dabei „der formulierte Text durch Unformuliertes gedoppelt“ – eine Doppelung, die Iser „als die Negativität fiktionaler Texte bezeichnet“.Footnote 27 Die so gefasste Negativität zeichne sich dadurch aus, dass sie „als das Unformulierte ein noch Unbegriffenes markiert“ und „dadurch den Leser in eine Beziehung zum Text“ setze; Negativität ermögliche es auf diese Weise, „unser Mittendrinsein im Leben“ bzw. „die Welt zu transzendieren“.Footnote 28 Die von Jauß veranschlagte „gesellschaftliche Funktion der Literatur“ (s. o.) weicht damit einem Akt des Lesens, der, indem er die Lebenspraxis übersteige, sich dieser gerade enthebe. Der so verstandene Akt des Lesens lässt Raum für eine „Aleatorik“, in der „die Kombinationsmöglichkeiten nicht festgelegt“ sind; er erweist, dass es „den einen Sinn fiktionaler Texte nicht gibt“, dass vielmehr diese Ermangelung „in den verschiedensten Kontexten immer wieder Sinn zu geben vermag“.Footnote 29

Hans Blumenberg bezieht diesen ‚Akt des Lesens‘ auf das – über die verschiedenen historischen Epochen seit der Bibel und den Kirchenvätern bis in die eigene Gegenwart nachweisbare – Konzept von der „Lesbarkeit der Welt“: der Auffassung, die Welt sei als Text oder Buch zu lesen. Literarische Erfahrung, wie sie Jauß und Iser als hermeneutischen Prozess und Transzendenz des Lebens formulieren, wird dabei mit der Erfahrung von Welt konfrontiert, dies unter dem ausdrücklichen Vorbehalt, dass eine solche Erfahrung auch unter dem Verdacht einer „Abmagerung“ gelebter Erfahrung stehen könne.Footnote 30 Blumenberg kommt dabei von seinen metaphorologischen Ansätzen her; er fasst ‚Lesbarkeit‘ als eine „Metapher für das Ganze der Erfahrbarkeit“.Footnote 31 „Bücherwelt und Weltbuch“ stehen in einem permanenten Spannungsverhältnis: „Zwischen den Büchern und der Wirklichkeit ist eine alte Feindschaft gesetzt. […] Die geschriebene und schließlich gedruckte Tradition ist immer wieder zur Schwächung von Authentizität der Erfahrung geworden“.Footnote 32 Diese in der Lesbarkeit der Welt früh formulierte Auffassung geht durchaus auch mit einer kritischen Sicht auf die von Jauß und Iser im Blick auf die Rezeption und den Akt des Lesens pointierte literarische Erfahrung einher: „Erfahrung wird angelesen, aber gerade nicht die eigene“.Footnote 33

Blumenberg verfolgt die von der Buchmetapher geleistete Herstellung der Totalität von Erfahrung an verschiedenen geistesgeschichtlichen Stationen, von denen einige hier im Blick auf die in den folgenden Kapiteln darzulegenden Phänomene von ‚Digitalität‘ herausgegriffen werden sollen. Dabei lässt sich vorab daran erinnern, dass die in der Informatik übliche Kodierung mit zahlensymbolischen Chiffren in der Begrifflichkeit von Digits ihrerseits in metaphorischer Verwandtschaft mit einer altchristlichen Buch- bzw. Schriftmetapher steht: ‚Die Welt ist wie ein von Gottes Finger geschriebenes Buch‘ („universus enim mundus […] quasi quidam liber scriptus est digito Dei“).Footnote 34 Der Satz wird unter dem Namen des in Paris wirkenden Mönchs Hugo von St. Viktor tradiert.Footnote 35 Das darin dokumentierte Analogieverhältnis von der ‚Welt als Buch‘ (Erschaffen als Schreiben) geht auf die griechisch-römische Deutung des biblischen Heilsgeschehens zurück, die das Christentum seit seinen Anfängen prägte und die es im wirkmächtigen Einfluss der Patristik zu einer Buchreligion machte. Das ‚Buch der (heiligen) Schrift‘, das ‚Buch des Lebens‘ bzw. das ‚Buch der Leben‘ sind Metaphern, die in dieser Frühzeit entwickelt und von Kirchenvätern wie Augustinus tradiert wurden.Footnote 36 Doch auch die (kosmische) Natur wurde mit der Buchmetapher gefasst – als zweites Buch, welches neben das ‚Buch der Schrift‘ trat. Für dieses Konzept steht das Hugo von St. Viktor zugeschriebene Zitat. Es dokumentiert beispielhaft eine seit dem Hochmittelalter in den Vordergrund tretende Auffassung, der zufolge die Natur aus dem Gedanken Gottes hervorgegangen sei und folglich „nicht durch Anschauung, sondern durch Denken verstanden, nämlich ‚gelesen‘ werden kann“.Footnote 37

Mit der Säkularisierung der Neuzeit, die sich bereits im mittelalterlichen Aristotelismus und den spätmittelalterlichen Laienbewegungen anbahnt,Footnote 38 löst sich die Natur aus dem Zugriff der göttlichen Schreibhand. Das 17. Jahrhundert sucht eine Weltformel zu ergründen und entwirft mit Leibniz’ Ars combinatoria das „Programm einer exakten und vollständigen Darstellung aller gedanklichen Möglichkeiten“.Footnote 39 Damit einher geht die Idee einer „Universalbibliothek aller durch Kombinatorik erzeugbaren Bücher“;Footnote 40 eine solche ideale „kombinatorische Bibliothek hätte keinen Leser“.Footnote 41 Später mündet diese Auffassung in die „imaginäre Totalintelligenz von Laplace“, der am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert ein Konzept des Determinismus entwirft, das „von jedem beliebigen Gesamtzustand der Welt eines gegebenen Zeitpunkts her den Gesamtzustand zu jedem beliebigen anderen Zeitpunkt, gleichgültig ob in Vergangenheit oder Zukunft zum gegebenen Zeitpunkt liegend, kalkulatorisch bestimmen“ könne.Footnote 42 Als ‚Laplace’scher Dämon‘ findet dieses Konzept Verbreitung. Der in solcher Kombinatorik und Kalkulatorik manifestierte Universalanspruch konkretisiert sich buchstäblich in den voluminösen Bänden der Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts, namentlich in jener von Diderot und d’Alembert: „Wie sähe das dem absoluten Aspekt äquivalente System aus? Es wäre ein ungeheuerliches Buch (un volume immense) […]. Die vollkommene, nämlich aperspektivische Enzyklopädie wäre die Verdoppelung der Natur selbst, das ‚Buch von der Natur‘ in Idealkonkurrenz mit dem ‚Buch der Natur‘“.Footnote 43 Der Artikel „Encyclopédie“ in der Encyclopédie von Diderot und d’Alembert sieht angesichts der stetig anwachsenden Masse von Büchern einen Moment vorher, „wo es nahezu ebenso schwierig sein werde, sich eine Auskunft aus einer Bibliothek zu beschaffen, wie an der Welt selbst“.Footnote 44

Unter den von Blumenberg angeführten Stationen sei hier – bei verwegener Aussparung großer Epochen wie der Klassik, Romantik und Frühmoderne – nur noch das Schlusskapitel der Abhandlung berührt, in dem der „genetische Code und seine Leser“ zum Thema werden:Footnote 45 Im Blick auf Erwin Schrödingers Konzept des ‚aperiodischen Kristalls‘ und dessen Überführung in die elegante Struktur einer Doppelhelix durch James Watson und Francis Crick betont Blumenberg erneut den metaphorischen Charakter des gewählten Modells: „Die Komplementarität der Nukleotide Adenin und Thymin einerseits, Guanin und Cytosin andererseits ging unter dem Begriff der Paarigkeit der Basen, des base-paring, in die ersten Modellvorstellungen von der Doppelsträngigkeit der DNA ein“.Footnote 46 Die Reproduktion der DNA fassen die Biochemiker in der Terminologie der Buchschriftlichkeit, es wird „abgelesen, kopiert oder übersetzt“.Footnote 47 Aber ist es möglich, „den genetischen Code seiner metaphorischen Herkunft zu entziehen“? – fragt Blumenberg.Footnote 48 „Wenn Schrödinger die Gesamtheit der genetischen Faktoren im Zellkern als codierte Schrift ansah, wer war dann der metaphorisch unvermeidliche Leser ihres Textes?“Footnote 49 Schrödingers Rückgriff auf den Laplace’schen Dämon mitsamt dessen universalem Determinismus erscheint Blumenberg an dieser Stelle nicht überzeugend, ja prekär. So führt der beschrittene Weg durch die ‚Lesbarkeit der Welt‘ angesichts des Modells vom ‚genetischen Code‘ ins Offene: Wird letzterer seines metaphorischen Status entkleidet, muss es als Korrektiv zur „Verderblichkeit der Texte“ (sc. des genetischen Codes) einen der negativen Entropie entgegenwirkenden „sortierenden Dämon“ geben: „Seine triage verbindet Lesen im Konzept und Auslesen im Substrat“.Footnote 50 Die ‚Lesbarkeit der Welt‘ birgt in der Ermächtigung der naturwissenschaftlichen Erkenntnis das Potenzial der Auslese, der Selektion. Der ‚genetische Code‘ als Metapher bemäntelt in einem illusorischen ‚Als-ob‘ die wissenschaftliche Vereinnahmung der Natur angesichts der Möglichkeit einer künstlichen Züchtung des Erbguts – so suggerieren es Ausführungen auf den letzten Seiten von Blumenbergs Abhandlung: „[E]s war, als sperrte sich die Natur gegen die Endgültigkeit ihrer Verwissenschaftlichung, gegen die ‚Reinheit‘ der Theorie als das Kriterium ihrer Autonomie“.Footnote 51

Blumenbergs Entwurf einer Lesbarkeit der Welt fasst das ‚Buch der Natur‘ als eine Ermöglichung der Welterfahrung im Zeichen der Schrift, welche den Zugriff auf die Welt zugleich gewährt und verstellt. Es bleibt – wie beim genetischen Code – eine „Lücke zwischen Metapher und Modell“,Footnote 52 es bleibt ganz grundsätzlich eine Kluft zwischen Erlesen einerseits und Erfahren andererseits, zwischen „Bücherwelt und Weltbuch“, zwischen „den Büchern und der Wirklichkeit“.Footnote 53 Diese Spannung aber potenziert sich, wenn die Bücherwelt zu einer digitalen Welt mutiert. Die damit verbundenen Konsequenzen für das Lesen und dessen Erforschung, die Wissenschaft der litterae, soll im Folgenden anhand eines mittlerweile ebenfalls historischen Fallbeispiels betrachtet werden, bei dem die Schrift buchstäblich ‚auf den Prüfstand‘ geraten ist.

3 Épreuves d’écriture

Im Jahr 1985 kuratierte der französische Philosoph Jean-François Lyotard gemeinsam mit Thierry Chaput und Philippe Délis die Pariser Ausstellung Les Immatériaux (Centre Georges Pompidou, 28. März bis 15. Juli 1985). Sie hatte das Ziel, den von der neuen Telekommunikation und Informatik ausgelösten Wandel in den gesellschaftlichen Strukturen aufzuzeigen. Das Publikum gelangte auf fünf Wegen durch einen Parcours von insgesamt 61 Stationen und wurde dabei mit Bereichen des alltäglichen Lebens und der Ästhetik konfrontiert (z. B. Schachspiel, Bekleidungsstoffe als ‚zweite Haut‘, Lichtästhetik, ‚Selbsterzeugung‘ durch einen Roboter).Footnote 54 Über Installationen wie Bild- und Filmprojektionen, Computerterminals und multimediale Einrichtungen erfolgte eine regelrechte Immersion in die damals neuen Technologien. Eine systematische Lenkung der Besucher war dabei nicht beabsichtigt. Vielmehr trat Lyotard „im Duktus eines philosophischen Lehrers (auf), dessen zentrales Anliegen es ist, seine Schüler so weit zu verunsichern, dass sie einer eigenen Auseinandersetzung nicht mehr ausweichen können“.Footnote 55

Der Titel Les Immatériaux bezog sich auf die stoffliche Eigenart, die elektronische Daten gegenüber der Materie traditioneller Kommunikationsformen aufweisen: „eine Struktur, in der der herkömmliche Gegensatz zwischen Geist und Materie keinen Platz mehr hat“.Footnote 56 Konsequent spielte Lyotard dabei mit der in dem Wort ‚Materie‘ enthaltenen indogermanischen Wurzel „mât“, die ‚mit der Hand machen, messen, bauen‘ bedeutet.Footnote 57 Er teilte jedem der oben erwähnten fünf Wege einen mit dieser Wurzel in Zusammenhang stehenden Begriff zu, wobei er die Semantik dieser Begriffe auf Kommunikationsmodelle, wie jene von Harold D. Lasswell und Roman Jakobson, bezog.Footnote 58 Auf diese Weise ergab sich eine Begriffskonstellation von maternité (Sender) – materiel (Empfänger) – matrice (Code) – matériau (Kanal) – matière (Referent). Aus der Kombination dieser Begriffe resultierte ein weiterer Begriff, der als ‚immaterielles‘ Dazwischen jedoch keinem der fünf Wege zugeordnet war: message (Nachricht).Footnote 59

Das Ausstellungskonzept lässt in seiner Eigenart Theoreme erkennen, mit denen sich Lyotard seit den späten Siebzigerjahren einen Namen als Philosoph der ‚Postmoderne‘ gemacht hatte. In La Condition postmoderne (1979) hatte er das Ende der grands récits (der großen sinnstiftenden Erzählungen der Moderne wie jener der Aufklärung oder der hegelianisch-marxistischen Geschichtsphilosophie) erklärt.Footnote 60 In dem kurz vor der Ausstellung erschienenen Werk Le différend (1983) war der ‚Widerstreit‘ inkommensurabler Sprachspiele Thema: Eine übergeordnete Instanz, die einen solchen ‚Widerstreit‘ schlichten oder auch nur reglementieren könnte, gebe es nicht mehr.Footnote 61 Die Ausstellung Les Immatériaux konfrontierte diese Ansätze mit dem Einbruch der neuen Technologien in die ‚postmoderne‘ Gesellschaft. Auf „halbfrei zu wählen(den)“ Wegen, „nicht gezwungen, aber doch geleitet“,Footnote 62 sollten sich die Besucher den medialen Herausforderungen der Gegenwart stellen. Die „mât“-Begriffe wiesen dabei in ihrem Wechselspiel auf eine neue, noch unbekannte Welt.

Bestandteil des Ausstellungskonzepts war ein Schreibexperiment, das Lyotard unter dem Titel Épreuves d’écriture durchführte. Es ist unter dem gleichnamigen Titel als Begleitband zur Ausstellung dokumentiert.Footnote 63 Vor Beginn der Ausstellung beauftragte Lyotard 26 französische Intellektuelle, sich an der Erstellung eines „petit lexique des immatériaux“ zu beteiligen.Footnote 64 In den Monaten September bis Dezember 1984 waren Schriftsteller, Wissenschaftler, Künstler, Philosophen und Linguisten aufgefordert, Begriffe, die im engeren oder weiteren Zusammenhang mit dem Kommunikationsmodell der Ausstellung und den neuen Technologien standen, zu erläutern – dies an dem für die meisten von ihnen noch ungewohnten Personal Computer. Die Teilnehmenden bezogen zum individuellen Gebrauch ein Gerät des Typs Olivetti M20, auf dem sie ihre Beiträge verfassen und über eine Postverbindung an einen Zentralcomputer (Typ Olivetti M24) senden konnten. Dort wurden die Aufzeichnungen gesammelt und allen anderen Beiträgern zur Verfügung gestellt, so dass diese reagieren und ein interaktiver Austausch entstehen konnte. Lyotard ging es dabei um nicht weniger als eine Inszenierung seines Konzepts des ‚Widerstreits‘ unter den neuen technologischen Bedingungen: „Il fallait que l’atelier des divergences devînt un laboratoire des différends“.Footnote 65

Zugleich sollten dabei die Möglichkeiten eines Mediums erprobt werden, das Lyotards Kollege Jacques Derrida, der seinerseits an dem Experiment teilnahm, wenige Jahre zuvor zum zeichentheoretischen Leitbegriff einer damals noch analogen Kultur erhoben hatte: die ‚Schrift‘. Der Titel Les Épreuves d’écriture lässt sich unter diesen Vorzeichen als durchaus mehrdeutiger Begriff lesen: als ‚Prüfungen‘ oder, wie oben vorgeschlagen, als ‚Prüfstand der Schrift‘. Zugleich handelt es sich um ‚Schriftproben‘, die in dem neuen Medium der Informatik abgegeben werden. Eine besondere Paradoxie besteht dabei darin, dass der französische Ausdruck „épreuve“ auch einen ‚Probe-‘ oder ‚Korrekturabdruck‘ bezeichnet und damit auf das alte, damals noch konventionelle Medium der Drucktechnik verweist. Diese Paradoxie ist in dem Begleitband zudem auch performativ fassbar, denn die ‚Lexikoneinträge‘ und der im Zuge ihrer interaktiven Anfertigung dank der elektronischen Technologie erfolgte flexible Austausch sind ihrerseits in einer erstarrten Schriftform, dem in Druck vorgelegten Begleitband, dokumentiert. Die Reaktion und Rezeptionsformen der Ausstellungsbesucher, welche die Texte der Épreuves d’écriture an den Bildschirmen im Centre Pompidou lesen konnten, ist erst gar nicht erhalten. Eine solche inadäquate Überlieferungsform erinnert an vergleichbare Paradoxien etwa in der handschriftlichen Tradierung mittelalterlicher Lyrik, die sich, oftmals ohne Melodien und erst recht ohne den Kontext der Aufführung unter körperlich Anwesenden, nur im Medium der Schrift erhalten hat.Footnote 66

Für das angestellte ‚Schriftexperiment‘ hat Lyotard feste Regeln vorgegeben:Footnote 67 Aus der Liste von 50 Wörtern im Umfeld der Problematik von Les Immatériaux mussten die Teilnehmenden mindestens 15 bis 20 in Einträgen von zwei bis zehn Zeilen bearbeiten (eine Zeichenzahl, wie in der gegenwärtigen digitalen Kommunikation üblich, war nicht vorgegeben). Da die Teilnehmenden über den Zentralcomputer am Centre Pompidou miteinander verbunden waren, sollten sie die Lektüre der fremden Einträge zur Revision ihrer eigenen Beiträge nutzen, aber auch auf die fremden Einträge, deren Revision und Diskussion reagieren. Sie waren eigens dazu aufgerufen, die aus dieser Situation resultierende Erfahrung eines kollektiven Schreibens zu kommentieren.Footnote 68 Das Experiment hatte also auch eine Metaebene, in der die Bedingungen des Schreibens im neuen Medium und die dabei ermöglichten sozialen Prozesse reflektiert werden sollten.

Das Resultat dieses ‚Widerstreits‘ ist im Begleitband Les Épreuves d’écriture in der Weise dokumentiert, dass die Beiträger der einzelnen Artikel mit einem Namenkürzel aufgeführt sind; eine ergänzende Ziffer zählt sämtliche Beiträge der Beteiligten durch. Auf diese Weise wird es ermöglicht, die einzelnen Stellungnahmen exakt zu identifizieren und mit der Formel „X répond à Y“ miteinander in Beziehung zu setzen (so in einer Liste am Beginn eines jeden Artikels). An den Rändern der einzelnen Beiträge stehen Namenkürzel und Ziffern, ergänzt durch eine Datumsangabe (linker Rand), und Verweise auf die Antworten (rechter Rand).

Zu den 26 Autoren gehören neben Derrida etwa der Maler Daniel Buren, der Schriftsteller Michel Butor, der Soziologe Bruno Latour oder der Anthropologe und Linguist Dan Sperber; auffällig ist aus gegenwärtiger Sicht die geringe Zahl an beteiligten Frauen, die mit den Philosophinnen Christine Buci-Glucksmann und Isabelle Stengers vertreten sind. Zu den von diesem Kollektiv bearbeiteten Begriffen zählen einschlägige Termini wie code, dématerialisation, écriture, espace, langage, métamorphose oder réseau, die teilweise auch in Kombination begegnen; auf einige dieser Stichwörter wird im Folgenden zurückzukommen sein.

In einem Nachwort zieht Lyotard zusammen mit einigen Mitarbeiterinnen Bilanz.Footnote 69 Dabei wird deutlich, dass es den Initiatoren vor allem darum gegangen war, die angesichts der neuen Technologie manifeste Änderung des Schreibens zu beobachten („une altération ambiante de l’activité d’écrire“).Footnote 70 Das Nachwort, welches das Privileg eines übergeordneten Beobachterstandpunkts besitzt, versteht sich dabei mit einer gewissen Bescheidenheit als Teil der vorausgehenden, im Rahmen des Experiments entstandenen Texte. Daraus legitimiert sich auch, dass es in die Betrachtungen des folgenden Kapitels entsprechend integriert werden kann. Die vier Hauptabschnitte des Nachworts seien im Folgenden kurz zusammengefasst:

Unter dem Doppelstichwort „matériau, matériel“ werden Leitbegriffe des der Ausstellung zugrundeliegenden Kommunikationsmodells aufgegriffen, hier jedoch bezogen auf das Medium und den Kanal der elektronischen Kommunikation.Footnote 71 Angesichts der neuen Technologie seien die Beiträger in die Rolle von ‚Novizen‘, ja von Kindern versetzt worden („infantilisation“). Die mit anderen Computern vernetzte Arbeit am Bildschirm setze den Text sofort in Umlauf („on place déjà le texte dans le réseau de sa circulation“); die mühsame Arbeit des „écrivain-artiste“ auf dem Papier mit den zugehörigen Schreibspuren von Streichungen, Korrekturen, Einfügungen sei nicht mehr fassbar.Footnote 72

Aber auch der Empfänger („destinataire“) solcher Nachrichten sei eine unbestimmbare, zumindest nicht im traditionellen Sinne bestimmbare Größe:Footnote 73 In dem neu entstandenen Bezugsnetz des Austauschs von Botschaften werden die Leser ihrerseits zu Co-Autoren, die nicht mehr daran glaubten, dass ein solcher Schreibprozess je an sein Ende gelangen könnte – und damit im traditionellen Sinne ‚lesbar‘ („lisible“) sei. Doch während der Autor sich noch der Illusion hingeben könne, immerzu nur sein eigener Leser zu sein, verschwinde die Privatheit des Schreibens im netzwerkartigen Gefüge der Co-Autorschaft: „Le public envahit le privé, la singularité du contenu se dissipe sous le regard collectif“.Footnote 74

Damit stünden der Status von Autorschaft und ‚Autorität‘ („auteur“ – „son statut propre, l’autorité“) zur Disposition.Footnote 75 Der Autor scheine seine Herrschaft über das von ihm Geschriebene zu verlieren („La maîtrise de l’auteur sur son écrit paraît illusoire“); die neue Situation des Schreibens habe zu Unvorhergesehenem („l’aléa y est inclus comme un risque à courir“) und Unordnung („désordres“) geführt.Footnote 76 Erfahrene Beteiligte seien mit dieser Situation souverän, ja spielerisch umgegangen und hätten ihre gewohnte Schreibart beibehalten; doch hätten nicht alle Beteiligten die vorgegebenen Regeln aufrichtig befolgt, einige hätten sich zurückgezogen.

Was die Schrift („écriture“) betreffe, so bleibe ihr Status offen:Footnote 77 „à qui, à quoi est due l’écriture?“ – einige Autoren bedienten sich der Schrift („se servir“), andere stellten sich in ihren Dienst („se trouver à son service“).Footnote 78 Unter den Bedingungen der neuen Technologien bedeute dies, dass die in der Schrift übermittelten Botschaften transparenter würden, die Sprache zugleich einfacher und klarer. Umgekehrt müssten die elektronischen Sprachmaschinen, um es mit den vormaschinellen Sprachen aufnehmen zu können, komplexer werden. Die Funktion der Schrift („le service de l’écriture“) – und damit, so wird man folgern dürfen, die Leistungsfähigkeit einer Schriftkultur – erwiesen sich gerade in ihrem Vermögen zur Komplexität. Der Prüfstand, auf den Lyotard die ins digitale Medium übertragene Schrift mit dem Experiment der Épreuves d’écriture gestellt hat, führt damit zu einem insgesamt optimistischen Ergebnis.Footnote 79

Gegenüber den hermeneutischen Ansätzen aus dem Umfeld der Gruppe Poetik und Hermeneutik, wie sie eingangs mit der literarischen Erfahrung der ‚Rezeption‘ (Jauß), der Lektüre von ‚Leerstellen‘ (Iser) und der metaphorischen Tragweite einer ‚Lesbarkeit der Welt‘ (Blumenberg) vorgestellt wurden, zeigt sich hier der Neuansatz von Lyotards Erprobung der Schrift: Ihr Gebrauch im Kontext der ‚Immaterialien‘ neuer Technologien bringt Medium, Sender und Empfänger der ausgetauschten Botschaften in ein neues Verhältnis und verändert deren Status. Letztlich wird dabei auch die Rolle der Schrift als Instrument und Determinante neuen Funktionen zugeführt. Mit der historischen Distanz von über dreißig Jahren ermöglicht das von Lyotard initiierte Schreibexperiment einen Blick auf die Bedingungen der Schrift und ihrer Lesbarkeit angesichts der Transformation in das digitale Medium. Vergangene literatur- und kulturwissenschaftliche Avantgarden wie die von Jauß angeregte Rezeptionsästhetik oder der von Lyotard inszenierte ‚Widerstreit‘ im elektronischen Netzwerk der ‚Immatériaux‘ bergen das Potenzial als prämaturierte Beschreibungen von Bedingungen der Digitalität gelesen werden zu können. Im Dialog mit den Épreuves d’écriture und den ihnen vorausgehenden Ansätzen zur ‚Lesbarkeit der Welt‘ sollen deshalb im Folgenden einige Herausforderungen an eine digitale Literatur und Literaturwissenschaft formuliert werden. Literatur und Literaturwissenschaft, die sich unter den digitalen Bedingungen ohnehin annähern werden, sollen dabei unter den Prämissen einer partiellen Überlappung in den Blick genommen werden.Footnote 80

4 Herausforderungen einer digitalen Literatur(wissenschaft)

Es „ist in einer kurzen Zeitspanne, in jener, die uns von den siebziger Jahren trennt, ein neuer Mensch geboren worden. Er oder sie […] kommuniziert nicht mehr auf die gleiche Weise, nimmt nicht mehr dieselbe Welt wahr, lebt nicht mehr in derselben Natur, nicht mehr im selben Raum“ – mit diesen Worten beschreibt der Philosoph Michel Serres die medialen und sozialen Kommunikationsformen einer seit etwa der Jahrtausendwende in Erscheinung tretenden „vernetzten Generation“.Footnote 81 Welche Veränderungen die Lesbarkeit von Schrift und damit Literatur und Literaturwissenschaft unter solchen Bedingungen erfahren, sei in den folgenden fünf Punkten thesenhaft skizziert.

4.1 Netzwerke

Das von Lyotard inszenierte Experiment der Épreuves d’écriture führte die Beteiligten in einer digitalen Vernetzung zusammen, die zuallererst die Revision bereits verfasster Beiträge befördern sollte; die entsprechende Regel lautete: „il vous appartient […] d’enchaîner à quelque fin que ce soit (réfuter, compléter, moduler, etc.), sur vos premières définitions“.Footnote 82 Das so verstandene ‚Verknüpfen‘ („enchaîner“) veranlasste die Beteiligten, ihre Einträge zu überarbeiten, was sich gelegentlich in der Bereitstellung neuer Textversionen niederschlug. Ein solches Vorgehen ist etwa in einem lakonisch-frivolen Gedicht des Soziologen Jean-Claude Passeron belegt („on vit avec le vent virer structuraliste/Une marée, une manif […]“), das der Verfasser, angeregt durch einen Beitrag des Philosophen François Recanati (über den fiktiven Fund eines Baudelaire-Gedichts), nachträglich in seiner Binnenstruktur erweitert hat.Footnote 83 Diese Interaktion erfolgt bezeichnenderweise unter dem Stichwort métamorphose, und sie wird von der Philosophin Christine Buci-Glucksmann mit Begriffen der Molekularbiologie (mutants) und des Schriftwesens (écriture) sowie mit einem hintersinnigen Neologismus (difficulture) kommentiert: „Serions-nous devenus des mutants? […] Mais est-ce bien encore la dernière version? Métamorphose infinie […], Écriture d’écritures […]‚ Difficulture“.Footnote 84

Dieses Beispiel illustriert nicht nur anschaulich die Interaktionsweise der an dem Schreibexperiment Beteiligten, sondern es belegt mit Passerons Gedichtbeitrag auch die Unfestigkeit der unter digitalen Bedingungen produzierten Texte. Lyotard verknüpfte diese Unfestigkeit konsequent mit dem Konzept eines multirelationalen Textgefüges, das im Zusammenwirken der Beteiligten entsteht und zu vielfältigen, letztlich unplanbaren und im Prinzip ‚endlosen Metamorphosen‘ (vgl. das Zitat von Buci-Glucksmann) führen kann. Eine solche Netzwerkbildung erinnert an den Begriff des ‚Rhizoms‘ („Rhizome“) als eines unkontrolliert wuchernden Wurzelwerks, den Gilles Deleuze und Félix Guattari wenige Jahre zuvor eingeführt hatten.Footnote 85

Dieser rhizomartige Netzwerkbegriff hat eine syntaktische und eine pragmatische Dimension, da einzelne Zeichenfolgen und die darin erfolgenden Aussagen verknüpft werden (Syntagmatik), dies jedoch abhängig von der Interaktion der Zeichenbenutzer (Pragmatik). Bedeutung (Semantik) erwächst erst aus diesem multirelationalen Wechselspiel. In der Einleitung zu den Épreuves d’écriture erinnert Lyotard an die Großstadterfahrung, wie sie Walter Benjamin unter anderem im Rückgriff auf Baudelaire in seinem ‚Passagenwerk‘ festgehalten hat. Leitbegriffe wie „la rue“, „la foule“, „[le] nombre et […] l’isolement“, „[le] passant“ kennzeichnen diese Erfahrung, die auch für den Verkehr und die Kommunikation in digitalen Netzwerken Geltung beanspruchen dürfen.Footnote 86 Entsprechend emphatisch fallen die Einträge zum Stichwort réseau (‚Netz‘) in den Épreuves d’écriture aus, wo das Netzwerk in seinen vermittelnden, distributiven, aber auch dissoziierenden Funktionen definiert wird.Footnote 87

In den Netzwerken führt die elektronische Verfügbarkeit von Texten zu einer enormen Beschleunigung des Datenaustauschs. Die Reproduktion des Gelesenen trägt den Anschein der zeitlichen, mitunter auch medialen ‚Unmittelbarkeit‘; aus den Lesern können auf diese Weise die im Nachwort evozierten Co-Autoren werden: „l’informatique autorise la reproduction immédiate“.Footnote 88 Es ist davon auszugehen, dass die Leerstellen, wie sie Iser als zentrales Konstituens des ‚Akts des Lesens‘ beschrieben hat, in den Sog dieser Beschleunigung geraten. Der digitale Kontext ermöglicht ein ‚unmittelbares‘ Füllen der Leerstellen durch Leser, die in der Rolle von Co-Autoren diese Füllung ihrerseits verschriftlichen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass auch Isers Konzept der Leerstellen die Idee eines (textuellen) Netzwerks zugrunde liegt, dessen Bestandteile durch Verknüpfungsleistungen miteinander in Bezug gesetzt werden. Erfolgt dieser Vorgang in einem digitalen Netzwerk (Syntagmatik), an dem multiple Benutzergruppen teilhaben (Pragmatik), so vervielfacht sich die Füllung der Leerstellen in einem potenziell ‚immediaten‘ Verschriftlichungsvorgang. Leerstellen werden dabei nicht nur ‚unmittelbar‘ gefüllt, sondern es werden zugleich immer neue Leerstellen produziert, die eine neuerliche Füllung ermöglichen. Die Doppelung des formulierten Textes durch Unformuliertes, wie sie Iser mit dem Begriff der ‚Negativität‘ beschreibt,Footnote 89 wird dabei gleichermaßen beseitigt wie jeweils neu reproduziert. Unter digitalen Bedingungen gilt diese ‚immediate‘ Füllung und Reproduktion für alle Leser, die ihrerseits zu Reproduzenten von Texten werden, also für nicht-professionelle und professionell-wissenschaftliche Leser gleichermaßen.

4.2 Simulation

Die im vorigen Abschnitt angesprochene Doppelung lässt sich (unter einer veränderten Verwendung dieses Begriffs) im digitalen Kontext auch für jene Form der ‚Erfahrung‘ veranschlagen, wie sie Blumenberg unter der Perspektive der ‚Lesbarkeit der Welt‘ in Betracht gezogen hat. Für das enzyklopädische Zeitalter des 18. Jahrhunderts setzte Blumenberg eine Verdoppelung der Welt bzw. der Natur in den Bänden der Enzyklopädie an; letztere stehen auf diese Weise „in Idealkonkurrenz mit dem ‚Buch der Natur‘“.Footnote 90 Die digitale Repräsentation der Welt hat eine solche Verdoppelung längst umgesetzt; sie bietet eine Universalbibliothek des Wissens, in der ein Maßstabsverhältnis von 1:1 gegenüber der sogenannten empirischen Wirklichkeit möglich scheint. Selbst eine Vervielfachung des Maßstabs auf der Zählerseite in Größenordnungen wie 10.000:1 oder 100.000:1 scheint potenziell denkbar – dies unter der Voraussetzung, dass die dabei erfasste empirische ‚Wirklichkeit‘ als eine simulierte kodiert und zur Darstellung gebracht wird.

In den Épreuves d’écriture wird der Weg von der empirischen Wirklichkeit zu deren gleichsam kartographischer Repräsentation in einem kurzen Dialog nachgezeichnet. Am Ende der Statements zum Stichwort réseau findet sich ein literarischer Beitrag des Schriftstellers Michel Butor, der eine Reise nach Nouméa in Neukaledonien evoziert. Aus kurzen Dialogpartien wird deutlich, dass zwei miteinander vertraute Personen eben einen Langstreckenflug um den halben Erdball antreten. Nach dem Start erscheinen den beiden Reisenden die bekannten Regionen Frankreichs mit den burgundischen Weinbergen und Flussläufen als eine wenn auch mit Unbestimmtheit wahrgenommene Landkarte: „Bientôt la Bourgogne. – Les vignes. – La Saône. – Tu es sûre que c’est la Saône ? – Je ne sais pas.“Footnote 91 In diesem literarischen Experiment wird eine Erfahrung beschrieben, die in der Perspektive des Flugs aus der empirisch-geographischen Wirklichkeit herausführt und die Wahrnehmung einer Karte simuliert.

Unter dem Stichwort simulation werden die „machines simulant le vivant“ thematisiert.Footnote 92 Viele der Beiträge sind dabei zeichentheoretisch orientiert. Analog zur Unterscheidung von ‚Bezeichnendem‘ und ‚Bezeichnetem‘ trennt der Philosoph Michel Tibon-Cornillot die Bereiche von Simulation und Simuliertem („le monde du simulateur, celui du simulé“); hinsichtlich der elektronischen Möglichkeiten des Computers („pour les machines“) unterscheidet er zwischen der künstlichen Darstellbarkeit („[le monde] de l’art, de la technique, bref de la culture“) und dem Darzustellenden („le vivant, la nature“).Footnote 93 Eine andere Sichtweise eröffnet der Naturwissenschaftler Paul Caro mit Erläuterungen zu der oben erwähnten Vergrößerung des Maßstabsverhältnisses: Die in einem elektronischen Mikroskop erfassten atomaren Strukturen müssen neu berechnet werden, um für das Auge überhaupt sichtbar zu werden. Die Instrumente passen sich den menschlichen Sinneskräften an und damit der mit den Sinnen wahrgenommenen Struktur einer Welt, in der – nach Descartes – ‚uns die Sinne täuschen‘.Footnote 94

Für die elektronische Darstellbarkeit der Welt hat dies eine Konzentration auf die bereits erwähnte Zeichenhaftigkeit der Simulation, genauer auf deren Bezeichnungsseite, zur Folge. Der Soziologe Bruno Latour diagnostiziert unter dem Stichwort langage im Zeitalter des Computers eine eigentliche Sprachrevolution: Was einst dem Bereich des Materiellen, Realen, Referenziellen zugeordnet war, hat sich auf jenen des Codes, der Sprache, des Zeichens verschoben. Die Sprache als Bezeichnendes selbst aber wird technisiert: auf Mikrochips gespeichert, auf Bits beschränkt und von Elektronen gesteuert.Footnote 95 Die in der Digitalisierung ermöglichte Simulation von Wirklichkeit tendiert dabei dazu, sich auf den Code als Zeichenträger zu reduzieren, während ihr die Referenzialität abhandenkommt oder zum bloßen durch Zeichen produzierten Konstrukt gerät. Ein solcher Konstrukt-Charakter aber führt dazu, dass Literatur und Literaturwissenschaft in einen Kreislauf der Selbstbezüglichkeit geraten können.

4.3 Kombinatorik – Aleatorik

Die Möglichkeiten der Produktion und Reproduktion des Codes als Zeichenträger erscheinen unbegrenzt. Die dabei wirksame Kombinatorik ist prinzipiell schon in den Entwürfen aus dem Kontext der Gruppe Poetik und Hermeneutik angelegt, wenn dort von den nicht festgelegten Kombinationsverfahren im Akt des Lesens (Iser) und der durch Kombinatorik erzeugbaren Universalbibliothek als Dispositiv der Lesbarkeit der Welt (Blumenberg) die Rede ist.Footnote 96 Unter den Voraussetzungen digitaler Texterzeugung potenzieren sich diese Kombinationsmöglichkeiten, da die gebildeten Zeichensequenzen in ihrer Unfestigkeit fortlaufend reproduziert und reorganisiert werden können. Aus der Tatsache, dass dieser Prozess nicht bzw. nicht zwingend von einem konsistenten Organisator (einem Individuum oder einer kohärenten Gruppe) gesteuert wird, ergibt sich ein hohes Maß an Beliebigkeit, das zu unvorhersehbaren, zufälligen Ergebnissen führen kann.

In den Épreuves d’écriture findet sich dafür, wie übrigens schon bei Iser im Zusammenhang mit dem ‚Akt des Lesens‘,Footnote 97 der Begriff der ‚Aleatorik‘. Im Nachwort weist Lyotard explizit auf diesen spezifischen Aspekt des an den Bildschirmen durchgeführten kollektiven Schreibexperiments hin: „l’aléa y est inclus comme un risque à courir“.Footnote 98 Unter den behandelten Stichwörtern kehrt der Begriff mit einer gewissen Regelmäßigkeit wieder.Footnote 99 Im Kontext der vorausgehenden Ausführungen seien davon nur zwei Stellen herausgegriffen, die sich ihrerseits auf das Schreiben in einem Computernetzwerk beziehen: Unter dem Stichwort simulation verweist Christine Buci-Glucksmann auf eine in der Postmoderne wirksame Semiotik der Oberfläche („chimères sémiotiques“ – „le mystère est dans la surface“), die mit einer prinzipiellen Unabschließbarkeit und Unvollständigkeit („incomplétude“) einhergehe – dies aber impliziere die Hinwendung zum Unfesten und Aleatorischen: „[le] retour à l’instable et à l’aléatoire“.Footnote 100 Und im Zusammenhang mit dem Stichwort auteur hält der Ökonom Marc Guillaume fest, dass auch die Autorschaft einer solchen Aleatorik unterliege: „l’auteur peut devenir improbable, aléatoire“.Footnote 101

Der Begriff des Autors, der im französischen Kontext der Zeit durch die wegweisenden Beiträge von Roland Barthes (The Death of the AuthorLa Mort de l’auteur, 1967/68) und Michel Foucault (Qu’est-ce qu’un auteur) vorgeprägt ist,Footnote 102 erscheint im Kontext der Épreuves d’écriture unter dem Primat einer im digitalen Medium vollzogenen Diffundierung von Co-Autorschaften.Footnote 103 Derrida bringt eben diesen Sachverhalt in einem einschlägigen Statement zum Ausdruck, wenn er im Kontext seiner Einlassung auf das Schreibexperiment fragt: „Y a-t-il un auteur dans cette entreprise commune?“Footnote 104 Das von Barthes und Foucault in den genannten Beiträgen diagnostizierte Verschwinden des Autors wird dabei konsequent mit den neuen technischen Möglichkeiten konfrontiert: „Ladite disparition de l’auteur passe peut-être toujours par l’expérience d’un tel dispositif socio-technique (machine à traitement de textes, central téléphonique anonyme, etc.).“Footnote 105 Zugleich macht Derrida darauf aufmerksam, dass der durch die technischen Möglichkeiten wenn nicht preisgegebene, so doch relativierte Begriff der Autorschaft im Kontrast zur persistenten Legalität des Autorenrechts steht: „tout reste encore signé, personne n’a le droit de toucher au texte de l’autre, notre copyright est très protégé comme au bon vieux temps de la modernité (17e–20e siècles)“.Footnote 106

Die Erwähnung des Copyrights im Kontext der Autorschaft verweist auf ein besonderes Prinzip der Kombinatorik, das oben bereits mit dem Beitrag von Buci-Glucksmann zur „incomplétude“ digitaler Oberflächenphänomene (unter dem Stichwort simulation) angeklungen ist: Texte, aber auch Artefakte wie Bilder und Piktogramme, unterliegen einer fortlaufenden Reproduktion, innerhalb deren sie dupliziert, multipliziert und in der Multiplikation verändert werden können. Diese immer nur auf vorausliegende Zeichen verweisende Reproduzierbarkeit führt zu einer Umkehrung etablierter semiotischer Hierarchien („renversement des hiérarchies établies“), konkret zu einer Relativierung konventioneller Polaritäten der Kategorien von Bezeichnendem und Bezeichnetem: von Simulation und Realität, von Bild und Referent – „une relativisation des oppositions classiques entre simulation et réel, image et référent“.Footnote 107 Die elektronische Reproduzierbarkeit ermöglicht vielmehr die Kopie von Zeichenserien: „images d’images“, wie es Buci-Glucksmann am Beispiel ikonographischer Artefakte nennt.Footnote 108

Versteht man ‚Kopie‘ in ihrer etymologischen Bedeutung als ‚Menge‘ („copia“), so fällt auf, dass Michel Butor – im Bezug auf Texte – die Frage nach der zählbaren Menge von (Druck-)Exemplaren im digitalen Zeitalter als überholt ansieht: „(l)a question du nombre d’exemplaires serait définitivement dépassée“; der Text könne standortunabhängig überall zur selben Zeit sein: „le texte pourra être pratiquement partout à la fois“.Footnote 109 In einem Formexperiment spielen Paul Caro und Jean-Claude Passeron performativ die Möglichkeit durch, einen identischen Text, der bezeichnenderweise mit den Worten „(le) plaisir du rewriting“ endet, einmal unter dem Namen des einen, dann unter jenem des anderen Autors figurieren zu lassen.Footnote 110 Der Informatiker Mario Borillo reflektiert in einem Beitrag, der in einem Anhang mit Texten steht, die außerhalb des experimentellen Computernetzwerks entstanden sind,Footnote 111 über die Eigenart elektronisch hergestellter Kopien: Deren Bandbreite bewege sich zwischen ununterscheidbarer Identität nach dem Muster eineiiger Zwillinge („des jumeaux monozygotes indiscernables“) und einer kontrollierten Variabilität („variations contrôlées“), die gerade die Hervorbringung identischer Exemplare ausschließe.Footnote 112

Die Reproduzierbarkeit von Artefakten in identischen oder variablen Kopien stellt eine der zentralen Herausforderungen des digitalen Zeitalters dar. Sie bestimmt sowohl die Anfertigung von Texten als auch deren Weiterverarbeitung bis hin zu den Verfahren der (literaturwissenschaftlichen) Analyse und Interpretation. Letztere nehmen ihrerseits auf Prätexte als ihre Objekte oder als Vorlagen ihrer Argumentation Bezug. Die Rekombination von Zeichenfolgen in Form von Zitaten und Textmontagen bis hin zu aneignenden Formen wie Pastiche oder Plagiat spielt dabei eine wichtige Rolle. Eng damit verbunden sind Aspekte kollektiver bzw. fragmentierter Autorschaft und diffundierender Autorfunktionen. Reproduzierbarkeit und Autorschaft unterstehen in der digitalen Kultur den Gesetzen einer aleatorisch geprägten Rekombinatorik.

Die Kopie als Resultat einer kulturellen Praxis der Reproduktion findet dabei gerade in der aktuellen kultur- und literaturwissenschaftlichen Wahrnehmung eine hohe Aufmerksamkeit.Footnote 113 Der Vorgang des Kopierens reicht freilich weit zurück in die Geschichte der Produktion und Reproduktion von Artefakten. Als ein einigermaßen willkürlich ausgewähltes Dokument sei ein Abschnitt aus Flauberts nachgelassenen Notizen zu dem unvollendeten Roman Bouvard et Pécuchet (1880) angeführt, in dem mit satirischem Unterton eine universelle Kopierpraxis evoziert wird, die zugleich jeden reflexiv-kritischen Anspruch preisgibt:

Pas de réflexion ! copions ! Il faut que la page s’emplisse, que le ‹ monument › se complète. – Égalité de tout, du bien et du mal, du beau et du laid, de l’insignifiant et du caractéristique.Footnote 114

4.4 Künstliche Intelligenz

Die in dem Flaubert-Zitat angesprochene Mechanik und Totalität des Kopierens geht im digitalen Zeitalter mit der Schaffung universeller elektronischer Archive einher, die das individuelle Gedächtnis nicht nur entlasten, sondern dessen Kapazitäten in einem gewaltigen Maß übersteigen. Michel Serres hat diese Auslagerung des Gedächtnisspeichers an elektronische Datenträger im Bild des frühchristlichen Märtyrers Dionysius beschrieben, der (gemäß der Legendensammlung Legenda aurea) seinen Kopf nach der Enthauptung auf dem Pariser Montmartre nordwärts bis zum Ort des später nach ihm benannten Heiligtums St-Denis getragen haben soll: „Wie der heilige Dionysius seinen halslosen Kopf, so hält sie [gemeint ist die von Michel Serres im Märchenmotiv des kleinen Däumlings imaginierte ‚vernetzte Generation‘] ihre vormals internen, nun externalisierten Fähigkeiten in Händen“.Footnote 115 Die ausgelagerte Speicherung ermöglicht es, Daten jederzeit verfügbar zu halten, sie mit komplexen Suchmaschinen zu erschließen, und stellt damit traditionelle Techniken und Tugenden des Wissenserwerbs infrage. Gelangen wir damit auch an „das Ende der Ära des Wissens?“ – überlegt Serres lakonisch.Footnote 116

In den Épreuves d’écriture begegnet anstelle des von Serres gewählten Bildes der ‚Enthauptung‘ der Begriff der ‚Prothese‘, dem ein eigenes Stichwort gewidmet ist. Paul Caro bezeichnet die Medien des elektronischen Zeitalters als „prothèses de nos sens et de nos organes moteurs“ und konstatiert, wiederum in biologischer Begrifflichkeit, eine eigentliche Mutation in Bezug auf die memorialen Kräfte des Menschen: „une véritable mutation au sens biologique du terme“.Footnote 117 Die digitale Auslagerung des Gedächtnisspeichers, so der Schriftsteller Philippe Curval unter dem Stichwort mémoire, sei ein Zeichen der Ermüdung und ein Vorgang, der die mit dem Gedächtnisverlust einhergehenden Beschwernisse eher kaschiere: „Signe de fatigue. La mémoire est actuellement informatisée pour éviter les troubles physiologiques qu’engendre sa perte“.Footnote 118

Neben ihrer das Gedächtnis entlastenden Funktion ermöglichen die auf elektronischen Datenträgern abgelegten Texte, Bilder, Artefakte auch eine neue Art des Lesens und der Wahrnehmung. Die gespeicherten Daten werden ihrerseits mit elektronischen Verfahren weiterverarbeitet. Im Hinblick auf Texte kann eine solche Weiterverarbeitung nur noch bedingt als ‚Lesen‘ bezeichnet werden, eher als ein ‚Sammeln‘ („legere“ in seiner ursprünglichen Bedeutung).Footnote 119 Texte werden in der Verarbeitung durch elektronische Werkzeuge weniger ‚gelesen‘ als ‚benutzt‘; sie werden kopiert, verknüpft, fragmentiert.Footnote 120 Wenn Blumenberg im Blick auf die Leibniz’sche Ars combinatoria unterstellt, dass eine ideale „kombinatorische Bibliothek […] keinen Leser“ mehr hätte,Footnote 121 so scheint diese Vision in der digitalen Kombinatorik umgesetzt. An die Stelle des konventionellen Lesers und seiner kognitiven Fähigkeiten treten Verarbeitungspraktiken einer Künstlichen Intelligenz. Die mit dem Namen des Literaturwissenschaftlers Franco Moretti verbundene Methode des Distant Reading beruht maßgeblich auf solchen technisierten Praktiken der Lektüre.Footnote 122

Welche enormen kreativen Potenziale der Künstlichen Intelligenz eignen, zeigte sich in dem 1997 als Medienereignis inszenierten Sieg des Schachcomputers Deep Blue über den Schachweltmeister Garri Kasparov.Footnote 123 Im Bereich der Textproduktion gibt es visionäre Ansätze einer aleatorischen Texterzeugung, die bis in die Zeit der Ars combinatoria des 17. Jahrhunderts zurückreichen. Blumenberg erinnert in diesem Zusammenhang an das Spottgedicht des sächsischen Schriftstellers Daniel Wilhelm Triller (1695–1782) über einen Lettern setzenden Affen, der „unter viel Wertlosem auch etwas Lesbares zustande zu bringen“ meint.Footnote 124 In dem bereits erwähnten Anhang zu den Épreuves d’écriture fragt der Informatiker Mario Borillo nach den Möglichkeiten einer „machine-auteur“.Footnote 125 Deren Leistungsfähigkeit müsste sich am Maßstab der ‚Originalität‘ (französisch „inédit“, im Sinne von: ‚noch nie da gewesen‘) bemessen: „à l’aune le la production d’un texte, d’une œuvre littéralement inédits“ – einer ‚Originalität‘ freilich, die ihrerseits ihr kombinatorisches Potenzial offenbart („la manifestation de l’extraordinaire fécondité combinatoire“).Footnote 126 In einem Projekt mit dem Titel Atelier de Littérature Assistée par Mathématique et Ordinateur (ALAMO) haben Borillo und sein Team die Möglichkeiten einer solchen künstlich erzeugten Literatur erprobt. Die Methoden und Resultate sind auf einer Website und in der Datenbank der Bibliothèque nationale de France dokumentiert.Footnote 127

Die aktuelle Diskussion zur Künstlichen Intelligenz ist über den in Borillos Statement greifbaren Enthusiasmus eines Originalitätsanspruchs technischer Kreativität hinausgelangt. Als „entscheidende Aufgabe einer geistes- oder kulturwissenschaftlichen Forschung“ zeichnet sich inzwischen ab, dass „die Unterschiede maschinellen und menschlichen Denkens genau zu beschreiben“ sind.Footnote 128 Es gilt, die Wirksamkeit menschlichen Denkens einerseits und die kalkulatorische Systematik des Computers andererseits in ihrer jeweiligen Eigenart zu erfassen und auf diese Weise in Interaktion zu bringen. Ob dabei die Produktion von Texten – abgesehen von ableitbaren Formen wie Übersetzungen – je zu einer mit der menschlichen Kreativität vergleichbaren ‚Originalität‘ gelangen wird, muss beim derzeitigen Stand offenbleiben. Hinsichtlich der Analyse literarischer Verfahren öffnet sich jedoch mit der sogenannten Künstlichen Intelligenz ein weites Feld, das vielversprechende Ergebnisse etwa im Hinblick auf die Erforschung von Schreibweisen und Textzuordnungen (z. B. zu ‚Schreibstilen‘, ,Autoren‘, ‚Autorenkonfigurationen‘) erwarten lässt.

4.5 Die breite Zuhandenheit von Wissensvorräten

Mit Blick auf die Herausforderungen, vor welche Literatur und Literaturwissenschaft angesichts einer digitalen Textualität gestellt sind, ist abschließend auf ein Phänomen einzugehen, das als ‚breite Zuhandenheit von Wissensvorräten‘ bezeichnet werden soll. Der Begriff orientiert sich an dem Konzept der ‚breiten Gegenwart‘, das der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht seit der Jahrtausendwende propagiert und in verschiedenen Abhandlungen erläutert hat.Footnote 129 Das Konzept der ‚breiten Gegenwart‘ beinhaltet terminologisch eine räumliche und eine zeitliche Komponente; es bezieht sich auf die Erfahrung einer von Vergangenheiten überfluteten Gegenwart, die sich zugleich in zahlreichen Simultaneitäten ‚verbreitert‘.Footnote 130 Globalisierung und Technisierung befördern eine solche Erfahrung, wobei Gumbrecht die dabei im Spiel befindliche „Perfektion elektronischer Gedächtnisleistungen“Footnote 131 äußerst kritisch sieht. Die in der antiken Rhetorik dem Redner zur Verfügung stehende „,copia‘ [als] Besitz eines ausgedehnten Wissensschatzes“ ist heute mit dem Computer „zu jenem Dispositiv geworden, das Wissen in früher unvorstellbarer Breite und Dichte abrufbar macht“.Footnote 132 Dieses Phänomen soll hier in Anlehnung an Heideggers Begriff als ‚Zuhandenheit‘ (im Sinne des der menschlichen Verfügbarkeit „zunächst begegnenden innerweltlichen Seienden“) bezeichnet werden.Footnote 133 Die ‚breite Zuhandenheit von Wissensvorräten‘ bezieht sich mithin auf eine allgegenwärtige Verfügbarkeit von Wissen in den elektronischen Medien.

In den Épreuves d’écriture wird dieser Sachverhalt unter dem Stichwort temps in Ansätzen reflektiert. Borillo beobachtet, dass sich am Computer verschiedene Zeiteinheiten bündeln: jene des in den Daten verhandelten Gegenstands, jene der die Daten formalisierenden Strukturen (der Algorithmen und der zur Anwendung kommenden Programme) sowie jene der psycho-biologischen Befindlichkeit der Benutzer. Borillo folgert daraus, dass die Informatik einer vereinheitlichten Zeittheorie (vielleicht auch der Theorie einer vereinheitlichten Zeit?) bedarf: „L’informatique pose le problème d’une théorie unifiée de temps“.Footnote 134 Der Musikologe und Philosoph Daniel Charles seinerseits hält, allerdings ohne expliziten Bezug auf die Computertechnik, fest, dass die Zeit der Postmoderne nicht linear, nicht zielgerichtet und damit gewissermaßen in einem Stillstand der ‚Gleichzeitigkeit‘ befindlich sei: „Le temps post-moderne est non linéaire et non fléché. […] Donc temps stable, équitemporel“.Footnote 135 Solche Diagnosen kommen dem Konzept der ‚breiten Gegenwart‘ und dem oben vorgeschlagenen Begriff der ‚breiten Zuhandenheit von Wissensvorräten‘ recht nahe.

Die in den Statements der Beiträger zu den Épreuves d’écriture thematisierte ‚Vereinheitlichung‘ bzw. ‚Gleichzeitigkeit‘ des Temporalen hat auch Konsequenzen für das Verhältnis von literarischer Erfahrung und Erwartungshorizont, das Jauß zur Grundlage seines rezeptionsästhetischen Ansatzes gemacht hat. Die ‚breite Zuhandenheit von Wissensvorräten‘ erschwert zumindest konzeptionell die diachrone Schichtung von historisch zu rekonstruierenden Erwartungshorizonten. Vielmehr dürfte für gegenwärtige Leser am Bildschirm die Synchronie des elektronisch Zuhandenen in hohem Maße dominant werden. Die einmal in das Netz von Wissensvorräten eingespeisten Informationen sind in ihrer Fülle (copia) alle ‚gleichzeitig‘ (equitemporal) verfügbar. Der Umgang mit ihnen bedarf eines diachronen Sonderwissens. Ebenso begünstigt das digitale Medium eine sofortige schriftgebundene Reaktion auf das in den elektronischen Netzwerken Er-lesene. ‚Literarische Erfahrung‘ mündet dann tendenziell immer schon in ‚unmittelbare‘ (immediate)Footnote 136 Schreibakte; aus der Rezeption wird permanente Produktion. So deuten es Lyotard und seine Mitarbeiterinnen in ihrem Nachwort an („on place déjà le texte dans le réseau de sa circulation“);Footnote 137 und Bruno Latour bringt es mit dem Satz auf den Punkt: „[T]out le monde dévient scribe“.Footnote 138 Dies aber hat zur Folge, dass sich die Erwartungshorizonte der Lesenden unablässig verschieben, auch, dass sie in einem potenziell globalen Netzwerk, an dem alle Beteiligten gleichzeitig in einer ‚breiten‘ Streuung partizipieren, diffus und unübersichtlich werden.

Es bleibt abschließend zu fragen, wie es unter den Bedingungen einer ‚breiten Zuhandenheit von Wissensvorräten‘ um die Metapher der ‚Lesbarkeit der Welt‘ bestellt ist. Die auf elektronischen Trägern gespeicherten und an Bildschirmen abrufbaren Daten simulieren mit ihrer „illusion calligraphique“Footnote 139 eine Welt, deren Referenzialität zu entgleiten droht. Als eine simulierte unterliegt diese in elektronische Zeichensysteme gebrachte Welt stets schon einem metaphorischen ‚Als-ob‘. Die digital gebannte Welt ist ‚wie‘ ein Text zu lesen, oder sie ist – in metaphorischer Verkürzung – ein zu lesender Text. Was geschieht, wenn diese Verkürzung nicht mehr als metaphorische wahrgenommen wird, wenn sich – wie dies Blumenberg als Möglichkeit an der Problematik des genetischen Codes entwickelt hat – die „Lücke zwischen Metapher und Modell zu schließen“Footnote 140 scheint? Dann wäre die in den Computern simulierte Welt keine lesbare mehr, sondern sie würde die Illusion gewähren, eine in ihrer ‚Zuhandenheit‘ handhabbare Welt zu sein.

5 Ausblick

Als Herausforderung der Literatur und Literaturwissenschaft konkretisieren sich damit fünf Themenfelder, die vielfältig miteinander in Zusammenhang stehen und hier abschließend nochmals thesenartig benannt seien: Netzwerke bedingen eine neue Form der Interaktion im literarischen Prozess und damit neue Kategorien von Lesenden und Schreibenden. Die über die digitale Technologie erwirkte Simulation von Welt befördert die Dominanz des Codes als Zeichenträger – dies mit Konsequenzen sowohl für die Literatur als semiotisches System als auch für deren Analyse mit semiologischen Methoden. Kombinatorik und Aleatorik bewirken neue Konzeptionen der Autorschaft und der literarischen Produktion; dabei treten Formen der Reproduktion und der (digitalen) Kopie in den Vordergrund. Künstliche Intelligenz, die Auslagerung der Datenspeicherung an Maschinen, verändert die Analyse, aber auch die Produktion literarischer Daten. Die ‚breite Zuhandenheit von Wissensvorräten‘ führt zu einer Simultaneität literarischer Erfahrung, die Erwartungshorizonte nivelliert und zugleich in eine diffuse Sphäre des ‚Als-ob‘ verschiebt.

Die Erarbeitung dieser Themenfelder erfolgte im vorliegenden Beitrag in Auseinandersetzung mit einem digitalen Schreibexperiment, das mit seinem gut dreißigjährigen Abstand historischen Stellenwert besitzt. Der Blick auf die von Jean-François Lyotard 1984 inszenierten Épreuves d’écriture ermöglichte jedoch im Horizont der Gruppe Poetik und Hermeneutik Bezugnahmen auf literaturwissenschaftliche Paradigmen, wie sie das Verständnis einer ‚Lesbarkeit der Welt‘ vor der digitalen Wende bestimmten. Auf diese Weise sollte die Abgrenzung von konventionellen Konzepten des Lesens der prä-digitalen Ära profiliert werden. In der damit erzielten zeitlichen Distanz besteht die Chance, Tendenzen von Literatur und Literaturwissenschaft unter digitalen Bedingungen womöglich konkreter zu fassen, als dies mit einer Bestandsaufnahme jüngster Entwicklungen der Digitalität möglich ist. In einem nächsten Schritt wäre freilich genau dies zu leisten: nämlich die Beantwortung der Frage, welchen Einfluss die immer komplexer werdenden Standards der Speicherung, des Austauschs und der Erschließung gewaltiger Datenmengen auf das Selbstverständnis von Literatur und Literaturwissenschaft ausüben. Letztere sind durchaus im wörtlichen Sinne als eine Kombinatorik von litterae bzw. lèttres zu verstehen, die es im Lesen zu sammeln (legere) gilt. In diesem etymologischen Verständnis zeigen sich Chancen und Grenzen einer Literatur(wissenschaft), die sich auf das Zusammenwirken humaner und technisierter Praktiken bei der Produktion und Rezeption von Texten einlässt.