Die Sektion I versammelt Beiträge unter zwei unterschiedlichen Leitfragen. Zum einen konzentriert sie sich auf den Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft, auf Literatur unter digitalen Bedingungen. Wie hat sich das Phänomen Literatur seit der Verbreitung digitaler Medien gewandelt und, dies interessiert hier vor allem, welche Folgen ergeben sich aus den Veränderungen für die literaturwissenschaftliche Erforschung von Literatur? Zum anderen untersucht sie Konsequenzen für die Disziplin als solche und fragt nach der Literaturwissenschaft unter digitalen Bedingungen. Anders als in den folgenden Sektionen, die genauer begrenzte Aspekte der Veränderung in den Blick nehmen – editorische Praktiken, Methoden der Analyse von Literatur und die Schnittstellen –, geht es in dieser zweiten Gruppe um eine globalere Perspektive auf das Fach. Was ändert sich im Zeichen der Digitalität? Was kann oder was sollte es heißen, eine ‚digitale Literaturwissenschaft‘ zu betreiben und wo liegen die besonderen Herausforderungen?

(1) Literatur unter digitalen Bedingungen. Literarische Phänomene haben sich seit den 1980er Jahren langsam, aber kontinuierlich verändert, genauer gesagt: modifiziert und erweitert. Die Veränderungen kommen vor allem dann in den Blick, wenn man sich weder auf ein enges Konzept von Höhenkammliteratur noch auf das einzelne Werk beschränkt und sich mit ästhetischen Abwertungen zurückhält. Passend für dieses weite Verständnis des Gegenstandes ist ein medienbezogener, auch Handlungen einschließender Literaturbegriff. ‚Literatur‘ bezeichnet dann ein Ensemble unterschiedlicher medialer Formate und Kommunikationsformen, eine vielfältige, dynamische Praktik, die weit mehr umfasst als gedruckte Einzelwerke und vom Feuilleton wahrgenommene Autorinnen und Autoren und die Teil sowohl der aktuellen Partizipationskultur als auch von Medienverbünden sein kann. Viele der neuen Formate und Kommunikationsformen hängen mehr oder minder direkt mit dem digitalen Medienumbruch zusammen.

Zu diesem Fragenkomplex unseres Calls for Papers haben wir nur wenige passende Vorschläge bekommen. Vielleicht interessiert er Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler weniger oder wird nicht mit dem Schlagwort ‚digitale Literaturwissenschaft‘ verbunden. Da zudem noch Beiträge ausgefallen sind, sei im Folgenden ein Bild dessen skizziert, was die Veranstalterinnen und Veranstalter des Symposiums im Blick gehabt haben: Welche Phänomene könnten für die Frage nach einem erweiterten literaturwissenschaftlichen Gegenstandskonzept und Methodenspektrum berücksichtigt werden? Der Überblick kann hier nur kurz und ausschnitthaft ausfallen,Footnote 1 und auch die vermuteten Auswirkungen für die Literaturwissenschaft müssen im spekulativen Modus bleiben, da belastbare Aussagen dazu genaue Untersuchungen erfordern würden.

Der Vollständigkeit halber zu nennen sind die digitale Literatur, die in Form von Hyperfictions seit den 1980er Jahren erscheint und von experimentellen Texten bis zu solchen, die traditionelle Gattungsvorstellungen bedienen, ein weites Spektrum an Formen umfasst, sowie die „Computer-“ oder „Maschinenpoesie“, die literarische Texte durch Algorithmen erzeugt und ‚dichtet‘, indem sie auf verschiedene Weise importierten Inhalt nutzt: Sie kann die vom Nutzer eingegebenen Wörter mit internen strukturierten Wortlisten verbinden (wie z. B. der Gedicht-Generator Poetron) oder mit den Wörtern eines literarischen Werks arbeiten, die in neue syntaktische Zusammenhänge gebracht werden, etwa in Simon Biggs’ The Great Wall of China (1996), der Kafkas Nachlassfragment Beim Bau der Chinesischen Mauer verwendet. Sie erzeugen so mehr oder weniger sinnvolle, in jedem Fall aber ‚deutungsoffene‘ Texte von unterschiedlich hohem ästhetischen Anspruch. Auch textzentrierte und narrativ organisierte Adventuregames sind hier zu nennen.

Weniger diese ‚born-digital‘ literarischen Formen sind es aber, die die Literaturwissenschaft vor Herausforderungen stellen, als eher die vielen Spielarten der Netzliteratur. Ihr wesentliches Merkmal liegt darin, dass sie des WWW bedürfen, um produziert und rezipiert zu werden. Auch hier ist das Spektrum vorliegender Texte breit und reicht von Produkten, die das Netz in einem pragmatischen Sinne als Publikations- und Kommunikationsplattform verwenden, bis zu solchen, die dessen mediale Besonderheiten zur eigenen ästhetischen Gestaltung nutzen. Diese Literatur schließt dezidiert an ältere literarische und künstlerische Traditionen der Avantgarde an und tritt mit hohem ästhetischem Anspruch auf, der von Konsekrationsinstanzen des Literaturbetriebs (z. B. dem Deutschen Literaturarchiv Marbach) auch unterstützt wird. Als bekanntestes Beispiel sei hier der schon in die Jahre gekommene Assoziations-Blaster von Dragan Espenschied und Alvar Freude genannt (1999), in dem von Nutzern eingegebene Texte von beliebiger Länge miteinander verbunden werden und so ein ständig wachsendes, intern komplex vernetztes Hypertextgebilde entsteht. Neuere technische Möglichkeiten nutzen ‚Texte‘, die Geodaten aus der lebensweltlichen Situation der Nutzer aufnehmen und mit literarischen Mitteln verbinden, etwa mit dem Erzählen einer Geschichte oder lyrischen Formen. So integriert z. B. Stefan Schemats ‚augmented reality fiction‘ Wasser (2004) die über GPS gewonnenen Geodaten in eine Erzählung, in der Fiktion und medial vermittelte Wirklichkeit zusammenspielen: Die Geschichte variiert mit den Wegen, die die Rezipienten einschlagen, und welche Wege sie wählen, hängt wiederum mit den Informationen aus der Geschichte zusammen. In Beat Suters und René Bauers literarischer App AndOrDada (2012) nimmt die Software Impulse des W-Lan aus der unmittelbaren Umgebung der Leser auf und wandelt sie in ‚poetische Objekte‘ um, wahlweise im narrativen oder lyrischen Modus.

Andere Typen der Netzliteratur sind primär an den sozialen Möglichkeiten des Netzes interessiert. Sie sind Ausdruck der aktuellen Partizipationskultur: User-generierte Inhalte und literarische Beiträge nicht-professioneller Autorinnen und Autoren nehmen im Internet breiten Raum ein. Literatur kann hier zahlreiche Funktionen erfüllen. Als Ausgangsmedium dient sie etwa für literaturbasierte Webserien, die Figuren und Handlungselemente, zum Teil auch Textpassagen, aus kanonischen und damit vielen Lesern bekannten Romanen als Material für einen seriell erscheinenden Video-Blog (Vlog) verwenden. Nutzer dieser Vlogs kommunizieren über die Serie z. B. auf Twitter oder Facebook und produzieren so die öffentliche Anschlusskommunikation, die zu den Merkmalen der Partizipationskultur zählt. Diese literaturbasierten Webserien wiederum sind verwandt mit der noch weiter verbreiteten literarischen Praxis der ‚Fanfiction‘. Auch deren Verfasser nutzen die Figuren und fiktiven Welten vorliegender Werke, indem sie sie modifizieren bzw. als Material verwenden, um eigene Geschichten zu erfinden. Sie bleiben aber meist im textuellen Medium. Ebenfalls ein literarisches Massenphänomen bilden die Schreib- bzw. Literaturforen, die Werkstattcharakter haben und oft literarischen Genres gewidmet sind. Anders als die lebhaft genutzten literarischen Foren, die in der Literaturwissenschaft bislang kaum wahrgenommen wurden,Footnote 2 sind Mitschreibprojekte im Netz etwas stärker in den Fokus der Forschung geraten, ihres Merkmals der kollektiven Autorschaft wegen. Allerdings gibt es nur noch wenige aktuelle Beispiele für dieses Format, ganz im Gegensatz zu den literarischen Blogs. Sie sind in erster Line durch ihre netzbasierte Software bestimmt, die in ihren Möglichkeiten aber nicht immer ausgeschöpft wird, und können inhaltlich und formal so unterschiedlich gestaltet werden, dass es schwierig ist, einen gemeinsamen Nenner anzugeben.Footnote 3 Schließlich seien noch die spielerischen Varianten genannt: Die Möglichkeiten vernetzter sozialer Interaktion können mit ludischen Elementen und literarischen Genre-Mustern verbunden werden, wie es im deutschsprachigen Raum z. B. das Browserspiel TwinKomplex (2011–2014) gezeigt hat.

Literaturwissenschaftliche Forschungen zu Phänomenen wie den gerade skizzierten gibt es seit 30 Jahren. Viele haben sich aber bislang weniger mit den neuen Formen beschäftigt als vielmehr mit den Aspekten der digitalen bzw. Netzliteratur, die sich an alte Debatten im Fach anschließen lassen, und sie haben traditionsreiche und damit etablierte Konzepte herangezogen: so etwa die Inszenierung der Autorpersona im Netz oder die Frage nach der neuen Relevanz der Materialität als Reaktion auf deren ‚digitale Verflüchtigung‘. Eine Beschränkung auf das konzeptuell Bekannte muss nicht immer mit Hinweis auf Beharrungskräfte oder dem Vorwurf der Innovationsverweigerung erklärt werden, sondern hat auch viel mit disziplinären Kompetenzen zu tun. Zwei Erweiterungen dieser Kompetenzen liegen nahe: So wäre, um eine neuere Position aufzunehmen, die erweiterte Kompetenz einer „Procedural Literacy“ zu fordern, die von Literaturwissenschaftlern auch Wissen über „allgemeine algorithmische Prinzipien“ verlangt.Footnote 4 Und Kenntnisse empirischer Forschung sind erforderlich, um nicht bei der allgemeinen Reflexion über Chancen und Risiken des Lesens digitaler Literatur stehenzubleiben, sondern zu erforschen, was sich z. B. im Modus des Lesens ändert, wenn Literatur auf Tablets, Handys oder als enhanced E-Book rezipiert wird.Footnote 5 Um bestimmte Aspekte der neuen literarischen Phänomene zu analysieren und zu erklären, könnten Theorien und Verfahren an ihre Grenzen stoßen, die mit Bezug auf ‚vor-digitale‘ Literatur bzw. Literatur im Sinne der Buchpraktik entwickelt worden sind. Damit ist weder gesagt, dass die neuen Entwicklungen im Gegenstandsbereich Anlass zu einer Generalrevision der literaturwissenschaftlichen Grundbegriffe geben müssen – immerhin gibt es Literatur im traditionellen Sinne in erheblichem Ausmaß auch weiterhin, und sie soll auch noch erforscht werden –, noch soll behauptet werden, eine neue, alles umfassende Großtheorie sei nötig, um die heterogenen Phänomene und ihre Beziehungen zueinander zu modellieren. Im Gegenteil: Nicht der homogenisierende Versuch, mit einer grundlegenden Theorie die Vielfalt aller mit Digitalität verbundenen Aspekte der Literatur – vom Motiv bis hin zur digitalen Kommunikationsform – beschreiben und erklären zu können, scheint der Situation angemessen zu sein, gefragt sind vielmehr Revisionen mittlerer Reichweite: In genauen Auseinandersetzungen mit den unterschiedlichen Phänomenen sollte ausgelotet werden, welche Konsequenzen sich aus den Veränderungen des Gegenstandes für die literaturwissenschaftlichen Begriffe und Verfahren ergeben, und welche Implikationen dies für die herangezogenen Theorien hat.

Diesen Herausforderungen stellen sich die Beiträge des Sektionsteils I.1. Das populärkulturelle Phänomen des Blog in einer dezidiert nicht-avantgardistischen Variante behandelt Jörg Schuster. Er plädiert für eine Erweiterung des literaturwissenschaftlichen Gegenstands- und Methodenspektrums und untersucht exemplarisch Modeblogs als Beispiele eines spezifischen Umgangs mit Formen- und Sprachmaterial. Dabei führt er zugleich Möglichkeiten eines diskursanalytischen Ansatzes unter Bedingungen digital vorliegender Texte vor. Julia Nantke befasst sich mit den Konsequenzen, welche die digitalen Möglichkeiten der Produktion und Rezeption von Literatur für die Auffassungen von ‚Text‘ und ‚Textualität‘ haben, mithin für ein besonders wichtiges literaturwissenschaftliches Begriffsfeld. In ihrer Analyse zweier Beispiele digitaler Literatur – Tausend Tode schreiben und 0×0a – identifiziert sie typische Wechselwirkungen zwischen Prozessen der Dynamisierung und Destabilisierung und solchen der Formgebung und Stabilisierung. Das kollaborative Sammeln und Kommentieren in digitalen Räumen beobachtet Alexander Nebrig. Am Beispiel der Plattform „Genius.com“ untersucht er die Annotationspraxis von Laienphilologen und fragt nach Schnittstellen mit der literaturwissenschaftlichen Kommentar- und Interpretationspraxis.

(2) Literaturwissenschaft unter digitalen Bedingungen. Unter der zweiten Leitperspektive dieser Sektion zeigte sich, dass es nicht der Gegenstand ‚Literatur‘ in dem gerade skizzierten, dynamischen Sinne zu sein scheint, von dem sich Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler besonders herausgefordert sehen, sondern die unter ästhetisch-medialem Aspekt weniger aufregende Variante, die retro-digitalisierte Literatur. Genauer gesagt interessieren sie besonders die Möglichkeiten, die sich dadurch bieten, dass ein Großteil der Texte vergangener Jahrhunderte in digitaler Form vorliegt. Wie sehen diese Möglichkeiten aus? In welchem Ausmaß ist eine konsequent digitale Literaturwissenschaft wandlungsfähig? Geht es darum, traditionelle Ziele und Verfahren des Faches durch neue Ziele und neue Verfahren zu erweitern oder zu ersetzen? Wenn Gegenstände, Methoden und Praktiken unter digitalen Bedingungen gegebenenfalls anders konzeptualisiert, legitimiert und eingeübt werden – was folgt daraus für die Literaturwissenschaft als Disziplin?

Antworten können nur gefunden werden, wenn man eine globalere Perspektive auf das Fach einnimmt und mögliche oder gewünschte Entwicklungstendenzen zu bestimmen versucht. Dies sollte in dieser Sektion exemplarisch und möglichst nicht im luftleeren Raum von Spekulationen und nicht nur programmatisch geschehen, sondern fundiert durch Beobachtungen im Fach und formuliert mit Bezug auf Herausforderungen, die sich aus der Digitalität von Gegenstand, Verfahren und Praktiken (z. B. Kommunikationswegen) ergeben. Diese Herausforderungen können aus sehr Unterschiedlichem entstehen, z. B. aus der Konfrontation einer etablierten historisch-hermeneutischen Fachtradition mit digitalen Verfahren, aus Defiziten herkömmlicher textanalytischer, -interpretativer oder historiographischer Verfahren oder aus internen Problemen literaturwissenschaftlicher Theorien, die Ausschlussmechanismen erzeugen.

Michael Stolz lotet die technischen, sozialen und epistemologischen Konsequenzen der Digitalität aus. In Auseinandersetzung mit einem literarischen Schreibexperiment Jean-François Lyotards aus den 1980er Jahren, angereichert durch gegenwärtige Erfahrungen mit digitalen Formaten, identifiziert er fünf miteinander verbundene Themenfelder, in denen sich die Herausforderungen der Digitalität für Literatur und Literaturwissenschaft insbesondere zeigen: die Vernetzung, die digitale Simulation von Wirklichkeit, Kombinatorik und Aleatorik als Verfahren der Textproduktion, künstliche Intelligenz und die Verfügbarkeit von „Wissensvorräten“. Ein Grundproblem der Anwendung empirischer, korpusbasierter Analyseverfahren in der Literaturwissenschaft behandelt Jonas Kuhn aus computerlinguistischer Sicht: Lassen sich die Implikationen dieser Verfahren mit essentiellen Annahmen einer an Textinterpretation interessierten historisch-hermeneutischen Literaturwissenschaft überhaupt vereinbaren? Kann die Annahme der statistischen Repräsentativität der Daten – eine Annahme, die bei der linguistischen Anwendung von Computermodellen in der Textanalyse so wichtig wie unproblematisch ist – mit der literaturwissenschaftlichen „Grundmotivation“ verbunden werden, das ästhetisch Besondere eines literarischen Texts oder einer Textgruppe herauszuarbeiten? Im Beitrag wird neben einer „defensiven“ Antwort, die vorschlägt, die Verfahren nur auf bestimmte, unproblematische Texteigenschaften anzuwenden, auch eine weiterreichende „offensive“, die Modellierung als solche betreffende Antwort gegeben.

Der letzte Beitrag dieser Sektion verfolgt methodische und fachgeschichtliche Ziele: Fotis Jannidis, Steffen Martus, Leonard Konle und Jörn Kreutel fragen zum einen, wie digitale Daten und Analysemethoden die Erforschung der Fachgeschichte verändern können, und zum anderen, wie sich Kontinuität und Wandel im Fach mithilfe dieser Methoden nachweisen lassen. Sie zeigen an einem Beispiel – dem Korpus der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte von 1960–2009 –, welche Verfahren für welche fachgeschichtlichen Perspektiven sinnvollerweise eingesetzt werden können und wo methodische Probleme liegen, etwa solche, die sich aus der unterschiedlichen Schärfe von Begriffen in den an Operationalisierbarkeit interessierten Digital Humanities und der an Komplexität ausgerichteten Literaturwissenschaft ergeben. Zugleich zeigt der Beitrag Wege für Anschlussforschungen einer praxeologisch ausgerichteten Wissenschaftsforschung, für die sich der Dualismus ‚empirisch versus hermeneutisch‘ als zu schlicht erweist.