Nach einer längeren Phase der Retrodigitalisierung sind die Geisteswissenschaften dabei, zum nativ-elektronischen Edieren überzugehen und die Möglichkeiten des neuen digitalen Mediums derart zu nutzen, dass eine digitale Edition nicht mehr ohne (funktionale) Verluste in das Medium des Buchs gebracht werden kann.Footnote 1 Damit stellt die Digitalisierung der Edition, verstanden als „erschließende Wiedergabe historischer Dokumente“Footnote 2, ein Teilphänomen jenes Medienwandels dar, der gegenwärtig so gut wie alle Bereiche des menschlichen Lebens erfasst. Einerseits ist es charakteristisch für einen solchen Wechsel des Leitmediums, dass sich die von ihm bedingten Änderungen ohne expliziten theoretischen Vorlauf gleichsam wie automatisch einstellen bzw. einschleichen. Das zeigt sich auch in der Praxis vieler digitaler Editionsprojekte – unser eigenesFootnote 3 ist in dieser Hinsicht keine Ausnahme –, die zwar große Mühe darauf verwenden, ihrem Material angemessene technische Lösungen zu finden, diesen Horizont aber kaum einmal für grundsätzliche Überlegungen verlassen und fragen, was es denn eigentlich heißt, digital zu edieren.Footnote 4 Entsprechend verschieden und punktuell reagieren sie auf die neue mediale Situation. Andererseits definieren sich neue Medien häufig im Rückgriff auf alte, sei es, dass sie diese nachahmen, sei es, dass sie sich von ihnen absetzen. Beide Verhaltensweisen lassen sich auch in der Editorik beobachten, die zwischen Anlehnung an und Ablehnung von philologischen Konzepten des Buchzeitalters schwankt.

Der folgende Beitrag zielt auf beide Punkte, indem er das editorische Tun in der digitalen Welt reflexiv begleiten möchte – entsprechende Bemühungen sind, sieht man von der (auch für uns) grundlegenden Studie von Patrick Sahle einmal ab,Footnote 5 bislang vor allem von der angloamerikanischen Wissenschaft unternommen worden –Footnote 6 und sich dabei auf ein Phasenmodell des Medienwandels insofern bezieht, als er zunächst die Neuerungen der Digital- durch eine Kontrastierung mit der Buchedition herausarbeitet. Dieser Vergleich bezieht sich erstens auf die Bedingungen, die der Edition von ihrem jeweiligen Medium vorgegeben werden (1.1 Mediale Vorgaben), zweitens auf das ihr zugrundeliegende editorische Konzept (1.2 Textkritik und Textherstellung) sowie drittens auf die Rolle, die die Edition ihren Rezipienten zuweist (1.3 Rolle des Rezipienten). Sodann wenden wir uns einem möglichen Zukunftsszenario zu (2 Zukunftsperspektiven der digitalen Edition), in dem sich die digitale Edition vom Modell des gedruckten Buchs befreit hat und gleichsam zu sich selbst gekommen ist.Footnote 7 Dazu gehören ein neues Profil des Editors, die Veränderung des Erstellungs- und Publikationsmodus digitaler Editionen, aber auch die Wirkung jener neuen digitalen Werkzeuge, die von digitalen Editionen provoziert werden oder diese selbst provozieren.

Zur Diskussion stellen wir die These, dass das digitale Medium völlig neue Formen der Erarbeitung und des Benutzens von Editionen definiert, die demnach als revolutionärFootnote 8 bezeichnet werden können. Ob und inwieweit sie das sind, wollen wir ergebnisoffen prüfen, und entsprechend soll unsere Einschätzung des Veränderungsgeschehens nicht nur dessen Gewinne, sondern auch seine Verluste ausweisen. Beide, der Befund und die Bewertung, können nur tentativ sein, da wir uns mitten in einem fortschreitenden Medienwandel befinden, Beobachter- und Beobachtetenstandpunkt also zusammenzufallen drohen. In welche Richtung der eingeschlagene Weg weisen könnte, lässt sich aber vielleicht doch ein Stück weit extrapolieren, wenn man gegenwärtige Entwicklungen der Editionswissenschaft, der Digital Humanities und der Modi digitaler Textpräsentation betrachtet. Unsere Überlegungen richten sich dabei auf das Konzept und die Idee digitalen Edierens, nicht auf eine Bewertung konkreter Umsetzungsversuche. Letztere sind uns vielmehr Symptome der zu beschreibenden medialen Transformation.

Auch wenn unsere Beobachtungen und Überlegungen auf digitale Editionen überhaupt abzielen, führt unsere disziplinäre Herkunft aus der Literaturwissenschaft dazu, dass im Folgenden editorische Bemühungen um literarische Texte im Zentrum stehen.Footnote 9 Wir konzentrieren uns dabei auf solche Projekte, denen entweder aufgrund ihrer technischen bzw. methodischen Konzeption oder aufgrund ihres Gegenstands eine gewisse Exemplarität zugeschrieben werden kann.Footnote 10

1 Die digitale Edition im Vergleich zur Buchedition

1.1 Mediale Vorgaben

Das Medium des gedruckten Buches macht einer Edition zahlreiche Vorgaben hinsichtlich der Menge und Anordnung der Inhalte. Seine Aufnahmefähigkeit ist in mehrfacher Hinsicht beschränkt. Bücher eignen sich am besten zur Wiedergabe von Texten; auch Bilder enthält das Buch seit seinen Anfängen, doch ist deren Reproduktion immer noch aufwendig, gerade wenn sie farbig sein sollen. Die Kapazität des Buchs insgesamt, aber auch die der Einzelseite sind begrenzt, weil Bücher weder beliebig dick noch beliebig groß werden können, wenn sie benutzbar und bezahlbar bleiben sollen. Das Hochformat und die mit ihm verbundene Vertikalität begünstigen die Konvention einer hierarchischen Anordnung der auf einer Seite platzierten Textteile, sodass etwa der Kommentar – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne – unter dem (oder in älterer Zeit häufig rund um den) Editionstext steht. Das Nacheinander der Zeilen und Seiten formt einen linearen und sequenziellen Text; mehr als eine zusätzliche Dimension (etwa bei synoptischem Nebeneinander mehrerer Fassungen) ist kaum darstellbar. Die Unveränderlichkeit des Gedruckten vermittelt – verbunden mit der Einheitlichkeit der Codierung und der Ästhetik des Layouts, wie sie sich im Laufe der Buch- und Editionsgeschichte herausgebildet haben – den Eindruck der Stabilität und Gültigkeit des Textes, sofern nicht mit hohem typographischem Aufwand diesem Eindruck entgegengearbeitet wird.

Demgegenüber ist die Kapazität des digitalen Speichermediums quasi unbegrenzt, und da es im Grunde auch nichts mehr kostet, entfallen alle Beschränkungen des Umfangs. Nicht nur Texte und Bilder in beliebiger Zahl und Größe, sondern auch Audio- und Videoaufnahmen können Teil der Edition sein.Footnote 11 Entsprechend enthalten digitale Editionen häufig nicht mehr nur den vom Herausgeber erstellten Text, sondern auch die Quellen in Gestalt digitaler Reproduktionen. Diese zielen auf die visuelle semiotische Dimension des Texts (Typographie, Layout, Material etc.) und dienen der Authentifizierung der Edition. Da die digitale Edition bei der Textdarstellung nicht mehr an das Format der Buchseite gebunden ist, kann sie einen Text nach den ihr als angemessen erscheinenden Kriterien gliedern und abweichende Fassungen theoretisch in unbeschränkter Vielfalt nebeneinanderstellen. Nur der Bildschirm setzt mit seiner Größe und seinem Format hier noch Grenzen – und zwar jeder Bildschirm eigene und andere –,Footnote 12 doch sind diese nicht von derselben Unüberwindlichkeit wie jene einer gedruckten Buchseite. Auch Kontextmaterial kann jetzt Teil der Edition werden. Der Inhalt der Edition nimmt also zu, und die Möglichkeit der Verlinkung gibt Editionen offene Ränder, da diese mit beliebig vielen anderen Dokumenten verknüpft werden können.Footnote 13 Umgekehrt kann eine digitale Edition unmittelbar von anderen Webseiten inkorporiert werden.Footnote 14 Durch Hyperlinks, Harvesting durch Dritte und sonstige Vernetzungstechniken verliert die Edition ihre klare Kontur, das herausgegebene Werk den Charakter des In-sich-Geschlossenen.

Eine digitale Edition kann, anders als die gedruckte, schon insofern nie ein fester Text sein, als sie bei jedem Aufruf stets neu aus digitalen Daten generiert wird. Entsprechend teilt sich auch die Frage der Fortdauer der Edition in die nach der Oberfläche und die nach den Daten. Angesichts solch fundamentaler Differenzen stellt sich die Frage, ob man wirklich weiter von ‚Edition‘ sprechen oder nicht besser Begriffe wie ‚Informationsdatenbank‘ wählen will. Dass Texte aus einem Datenset ausgelesen werden, ermöglicht es, Editionen dynamisch zu gestaltenFootnote 15 und mehrschichtig anzulegen. Die Texte sind dann in unterschiedlicher Gestalt verfügbar, etwa als Transkription oder als Editionstext, womit die digitale Edition eine weite Skala von der Überlieferungs- zur Benutzernähe abdeckt. Auch die Zusammenstellung des Textkorpus, der Einstieg in dieses sowie die Anordnung der Texte auf dem Bildschirm sind potenziell frei konfigurierbar. Wenn die Buchseite insinuiert, sie repräsentiere den Text einfach, wie er ist, dann wird der Text auf dem Bildschirm ‚performativ‘. Die lineare Ordnung des gedruckten Buches wird – mit größerem oder (häufig) kleinerem Erfolg –Footnote 16 ersetzt durch Listen, Register, Suchfunktionen sowie Strategien der Visualisierung.

1.2 Textkritik und Textherstellung

Mit dem gedruckten Buch untrennbar verbunden sind bestimmte Konzepte von Autorschaft, Textualität und Werkhaftigkeit: Texte gelten als abstrakte ‚platonische Ideen‘, die „jenseits ihrer materiellen Gestalt lieg[en]“Footnote 17. Indem traditionelle textkritische Editionen, diesem Prinzip folgend, Alternativen möglichst tilgen und mitunter drastisch bessern, was fehlerhaft oder sinnlos erscheint,Footnote 18 richten sie das Überlieferte auf eine Weise zu, die es dem Medium des gedruckten Buches anverwandelt. Texte erscheinen unter Titeln und Autorangaben, die sie adressierbar machen, sie individualisieren und ihnen den Status von ‚Werken‘ verleihen. Jede Edition ist erst einmal final, allerdings kann sie durch eine Neuauflage oder Neuedition ihre Geltung verlieren. Dazu kommt, dass Bucheditionen vornehmlich aus Texten bestehen, während visuelle Strukturen und bildliche Elemente für sie von untergeordneter Bedeutung sind und sein müssen. Die Texte wiederum sind standardisiert, und zwar sowohl hinsichtlich ihrer Codierung als auch hinsichtlich ihrer sprachlichen Gestalt.

Die ‚klassische‘ Philologie – d. h. die Erschließung der kanonischen Schriften des Christentums und der Antike seit dem Humanismus und der Renaissance sowie die der ‚nationalsprachlichen‘ Literaturen, vor allem der des Mittelalters, seit etwa 1800 –Footnote 19 hat nicht nur ganz auf die medialen Möglichkeiten des Buches gesetzt, sondern auch jene Textidee, die diesem Leitmedium gemäß ist, mit einer latent überzeitlichen Geltung versehen.Footnote 20 Aus der Perspektive der traditionellen Philologie erscheinen also auch ‚alte‘ Texte als Manifestationen jenes Literatursystems, das an ein vergleichsweise ‚junges‘ Medium, nämlich das gedruckte Buch, gebunden ist. Erst diese Setzung macht Autoren und/oder Herausgeber zu jenen ‚mächtigen‘ Instanzen der Textverantwortung, als die sie eine vorgutenbergsche Galaxie nicht kennen konnte.

Natürlich bedeutet dies nicht, dass man nicht immer schon erkannt hätte, dass die spätantike und mittelalterliche Überlieferung etwa der Bibel, der Kirchenväter oder der mittelalterlichen Dichtung weit absteht von dem, was man von einem gedruckten ‚Werk‘ erwartet. Konsequenz dieser Beobachtung war aber im ‚langen‘ 19. Jahrhundert nie, die historische Differenz als solche gelten zu lassen, sondern vielmehr, sie über editorische Eingriffe zu minimieren. Was sich dann als editionsphilologische Techniken etabliert hat – Kollation, Rezension, Stemmabildung, Emendation, Konjektur –,Footnote 21 dient auch dem Zweck als dem, eine Überlieferung, die zu den medialen Gegebenheiten und Gepflogenheiten des gedruckten Buches völlig quer steht, eben diesen Gegebenheiten und Gepflogenheiten zu unterwerfen. Gewiss hat man diesem Vorhaben seit jeher den Deckmantel wissenschaftlicher Rekonstruktion umhängen wollen, und gewiss ist dieser Deckmantel nicht immer ganz unpassend, nämlich dann, wenn Gegenstand der Edition Texte sind, die schon im Moment ihrer Entstehung auf derselben Textidee beruhen, wie sie die Edition voraussetzt.Footnote 22 Dennoch kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass die traditionelle Editionsphilologie, indem sie ihre buchkulturell geprägten Begriffe von Autor, Werk und Literatur zur Grundlage ihrer historischen Betrachtung gemacht hat,Footnote 23 in erster Linie auch – und meist ohne dies zuzugeben – Texte erstellt hat, die den Leseraugen ihrer jeweiligen Zeit vertraut sein mussten.

Für Texte jüngerer Epochen, deren Überlieferung in der Regel auch autorisierte Fassungen beinhaltet, gilt all dies analog. Zwar scheiden dann rekonstruierende Verfahren aus, weil es ihrer nicht bedarf, wenn ein letztgültiger Text erhalten ist; die Art aber, wie historisch-kritische Ausgaben die Genese dieses Textes (meist) letzter Hand ausfalten, zeigt ihre Herkunft aus der traditionellen philologischen Editorik. Präsentiert werden üblicherweise nicht alle verfügbaren Fassungen, sondern eine gültige Fassung – über deren Wahl sich dann streiten lässt –Footnote 24 samt einem Apparat, der die Textgeschichte aufbereitet. Je vielfältiger und je reichhaltiger das Material ist, desto schwerer fällt es jedoch, nachvollziehbare Kriterien dafür anzugeben, welche Varianten die ‚wichtigen‘ und also im Apparat wiederzugebenden sind. Gerade hier zeigt sich die Nähe zur Textkritik der Mediävistik und der Altphilologie, deren Apparate bei zu reicher Überlieferung ebenfalls überzulaufen drohen.Footnote 25 Solche praktischen Probleme sind Ausdruck des grundsätzlichen Dilemmas historisch-kritischer Editionen, die „zwischen Historizität und ahistorischer Textsetzung“Footnote 26 schwanken. Dass die Ausgaben, gerade auch jene von Texten aus der Zeit vor dem Buchdruck, jene Varianz, die das Signum einer historisch anderen Textkultur ist, in den Apparat abdrängen – er steht nicht nur unten auf der Seite oder gar im Anhang, sondern wird in kleinerer Schrift und engeren Abständen gedruckt –, ist Ausdruck dafür, dass die ahistorische Zurichtung, welche die spezifische Textualität der Überlieferung zerstört, oft Priorität hat.

Die digitale Edition unterliegt den praktischen Zwängen der Papieredition nicht mehr. Während diese im Grunde gar keine andere Wahl hat, als komplexe Überlieferungen auf einen Herausgebertext zu reduzieren, kann jene es unternehmen, die Überlieferung so vollständig wie möglich abzubilden. Die einzelnen Textzeugen werden dann nicht textkritisch miteinander ‚verrechnet‘, sondern durch Hyperlinks und Synopsen miteinander ‚verschaltet‘, wodurch sowohl ihre Verschiedenheit als auch ihr Verhältnis zueinander anschaulich gemacht werden können.Footnote 27 Aus der „universional“ wird so die „universal edition[]“,Footnote 28 die keinen Text im konventionellen Sinne mehr bietet, sondern eine textuelle Informationssammlung.Footnote 29 Der Herausgeber verliert im Zuge dieser geänderten Zielsetzungen jene ‚Stärke‘, die ihm die Textkritik verliehen hat.Footnote 30 Er wählt nicht aus, er rekonstruiert nicht, sondern er stellt nur noch zusammen. Dem entspricht ein weitreichender Verzicht auf textkritische Operationen auch im Detail. Die Textzeugen werden möglichst so präsentiert, wie sie (unter Ausblendung ihrer nicht reproduzierbaren Materialität) sind, oft in einer mehrschichtigen Aufbereitung, die am Digitalisat ansetzt – dieses kann seinerseits in dynamischer Weise in die Edition eingebracht werden –Footnote 31, diesem eine diplomatische Transkription beigibt und den Text vielleicht noch behutsam bearbeitet, indem sie das Überlieferte durch Ergänzung einer modernen Interpunktion sowie durch geringfügige orthographische und/oder phonetisch-phonologische Anpassungen sowie die Korrektur handgreiflicher Fehler aufbereitet.Footnote 32 Häufig aber – insbesondere bei der Dokumentation von Entwürfen und Werk(vor)stufen – fehlt dieser letzte Schritt, und man belässt es bei Digitalisat und Transkription.Footnote 33 Der Text erscheint damit in einer Gestalt, die unmittelbar an seine originäre Medialität rückgebunden ist. Während diese Zurückhaltung des Herausgebers bei modernen Texten, die – etwa über Autorhandschriften oder Ausgaben letzter Hand – gut zu greifen sind, vergleichsweise geringe Folgen für die Textgestalt zeitigt, bieten digitale Editionen bei ‚alter‘ Literatur Texte, die häufig nur noch von Spezialisten gelesen werden können.Footnote 34

Diesen Bruch mit den Prinzipien der ‚klassischen‘ Editorik begründet etwa die Mediävistik mit Überlegungen aus dem Umkreis der New Philology, die massive Zweifel an den Prämissen der Lachmann’schen Textkritik formuliertFootnote 35 und „geschwächten Autoren, Editoren und Lesern […] das gestärkte Dokument“Footnote 36 gegenüberstellt. Auch die Material Philology und der Iconic Turn sind in diesem Zusammenhang zu nennen. Schließlich entspricht die „Tendenz zur Kontextualisierung“Footnote 37, die der digitalen Edition insofern innewohnt, als sie vermehrt begleitende Dokumente aufnimmt oder auf solche verlinkt, kulturwissenschaftlichen Ansätzen, wonach Texte nur in ihrem Kontext verständlich sind. Das positivistische Konzept des Kommentars wird dabei weit überschritten.Footnote 38 Es ist wohl kein Zufall, dass sich die Editionswissenschaft just zu der Zeit von der Variance und Mouvance sowie von der Materialität, Ikonizität und Kulturalität der handschriftlichen Überlieferung fasziniert zeigt, als sich auch der Wechsel vom Buch zur EDV vollzieht.Footnote 39 Damit sei nicht gesagt, dass diese avancierten Theoriebildungen reine Rückprojektionen postmoderner Befindlichkeiten darstellen. Dennoch scheint sich eine neue Harmonie einzustellen zwischen der Vorstellung, die man sich von historischer Textualität theoretisch macht, und der praktischen Herangehensweise, mit der man sie digital aufzubereiten sucht.Footnote 40 Weder ist zu sagen, was hier zuerst ist oder war, noch ist klar zu ersehen, wo diese Harmonie eine scheinbare, wo aber eine tatsächliche ist dergestalt, dass die modernen Methoden der Aufbereitung den ‚alten‘ Verhältnissen gemäß sind. Allerdings wird man zugeben müssen, dass diese Passgenauigkeit einmal größer und einmal kleiner ist und dass damit die Vielgestaltigkeit der historischen Verhältnisse unter dem Paradigma einer umfassenden, wenig distinkten Erschließung, Sicherung und Vergegenwärtigung unseres kulturellen ErbesFootnote 41 (so der aktuelle Titel des Akademienprogramms) abermals empfindlich homogenisiert wird.

Auch bei diesen aktuellen editionsphilologischen Entwicklungen ist der Umgang mit Textzuständen jüngerer literarhistorischer Epochen, bei denen die Überlieferung in der Regel mit Autortexten aufwarten kann, der Handhabung älterer Literatur verwandt. So gewinnt auch in den Neuphilologien die Idee der dokumentarischen bzw. archivalischen oder der Faksimile-Edition an Boden,Footnote 42 die sich in unmittelbarer Nähe zum überlieferten Zeichenträger zu halten sucht. Solche Editionsformen werten das gesamte Material in dem Sinne auf, dass dieses nicht mehr zu einem kritischen Apparat kondensiert, sondern in seiner Gesamtheit zur Verfügung gestellt wird, und dies meist, ohne dass die Relevanz der einzelnen Textzeugen irgendwie deutlich gemacht würde, weil eine solche Wertung ja einem ‚Rückfall‘ in frühere Gepflogenheiten gleichkäme. Der Vergleich des Faust II in der Weimarer Ausgabe mit dem Faust II der Online-Edition ist dafür ein besonders markantes Beispiel.

1.3 Rolle des Rezipienten

Gedruckte Buchliteratur legt eine bestimmte Lesehaltung nahe: die lineare, vollständige und konzentrierte Lektüre eines gesicherten, fixierten Textes. Der Faust II der Weimarer Ausgabe ist dazu gedacht, von vorne bis hinten gelesen zu werden, wenn dies auch bei einem Apparat dieser Fülle eine extreme Anforderung an Aufmerksamkeit und Muße des (sicher nur wissenschaftlichen) Lesers bedeutet. Jede Buchedition kann sich also nur an einen bestimmten Lesertyp wenden, etwa an Literaturliebhaber oder an Wissenschaftler, und Letztere haben sehr unterschiedliche, da spezialistische Interessen. Um den daraus resultierenden Zielkonflikt zu lösen, entschied man sich einerseits, die historisch-kritische Ausgabe zur Norm zu erklären, und andererseits, von ihr Derivate für breitere Lesergruppen wie Lese- und Studienausgaben abzuleiten. Auch wurden Entscheidungen der Editoren, die medialen Gegebenheiten geschuldet waren, mit Rücksicht auf den Leser begründet, den man nicht mit unübersichtlichen Synopsen oder überbordenden Apparaten behelligen könne. Auf ähnliche Weise werden regulierende, normierende und modernisierende Eingriffe mit Lesererwartungen gerechtfertigt. Das mag einer Ausrede gleichkommen, verweist aber eben auch auf die Ökonomie von Lektürepraktiken. Insgesamt ist der Leser einer kritischen Edition ‚schwach‘, weil er die Arbeit des Herausgebers letztlich nur hinterfragen kann, indem er sich selbst den Quellen zuwendet.

Im digitalen Medium kann die Tätigkeit des Editors in ganz anderer Weise transparent werden.Footnote 43 Statt sich Autoritäten (Herausgeber, Verlag, Rezensent) anzuvertrauen, kann sich jeder Rezipient im Rückgriff auf das ungleich reichhaltigere, in der Edition selbst enthaltene Quellenmaterial sein eigenes, begründetes Urteil über die Qualität der Edition, ihre Zuverlässigkeit und ihre Prinzipien bilden.Footnote 44 Auch indem er im individuellen Umgang mit der zur Verfügung gestellten Textmenge latent in die alte Herausgeberrolle schlüpft, gewinnt der Rezipient an ‚Stärke‘.Footnote 45 Freiheit setzt freilich mündige Subjekte voraus, und so gibt die digitale Edition dem Rezipienten nicht nur die Gelegenheit, eigene Entscheidungen zu treffen, sondern sie zwingt ihn geradezu, dies zu tun. Nicht nur muss er aus dem gebotenen Material eine eigene Auswahl treffen, sondern er hat sich auch für die Gestalt zu entscheiden, in der ihm dieses gegenübertreten soll.Footnote 46 Damit wird aus dem Leser, der sich in ein Werk versenkt und es zu verstehen versucht, unweigerlich ein Benutzer, der sich dieses in Auseinandersetzung mit der Textgeschichte und dem Kontext erarbeitet.Footnote 47 Um das zu tun, muss sich der Benutzer mit den Werkzeugen vertraut machen, die das Navigieren im Textarchiv erst ermöglichen, vor allem aber wird ihm ein eigenes philologisches Urteil abverlangt.

Im Extremfall kann die gebotene Vielfalt der Versionen dazu führen, dass die Benutzer gar keinen Zugang zum Material finden. Die Edition des Welschen Gasts antwortet mit einem „Schnelleinstieg“Footnote 48 auf dieses Problem, doch funktioniert dieser am besten für wissenschaftliche Experten, die bereits wissen, wo sie hinwollen, und sich nicht erst orientieren müssen. Das führt dann zu einer paradoxen Situation: Frei im Netz erreichbare Editionen – überall, jederzeit, sofort und umsonst auf eine Edition zugreifen zu können, entspricht einer Erwartung, die unseren Umgang mit Texten allgemein zunehmend prägt – erweitern den Benutzerkreis weit über den der Buchkäufer und Bibliotheksbenutzer hinaus, und zwar nicht nur ihrem Anspruch nach, sondern auch in der Realität, wie sich an Klickzahlen digitaler Editionen ablesen lässt, die die der Verkäufe und Ausleihen gedruckter Editionen weit übertreffen.Footnote 49 Und indem digitale Editionen verschiedene Versionen der Texte anbieten, suchen sie auch konzeptionell unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht zu werden – und werden gerade dadurch so komplex, dass sie ein allgemeines Publikum latent überfordern.

Besonders dem wissenschaftlichen Benutzer erlegt die digitale Edition Verpflichtungen auf wie die, sich mit dem handschriftlich überlieferten Wortlaut zu befassen, sich in die Genese eines Werks einzuarbeiten oder die Parallelüberlieferung vollständig zur Kenntnis zu nehmen. Niemand wird sich in solchen Fragen mehr auf die Unzulänglichkeiten der verwendeten Ausgabe herausreden können, und man wird zugeben müssen, dass diese Ausrede in arbeitspragmatischer Hinsicht oft auch etwas Entlastendes hatte. Die Entlastung hat freilich unterschiedlichen Charakter, wie das Beispiel der varianten Überlieferung verdeutlicht: Ist die Varianz so gering wie die zwischen den Zeugen des Faust I, bewahrt ein Lesetext vor der Enttäuschung, die sich rasch einstellt, wenn man vorgeblich variante Verse anklickt, sie eingehender studiert und dann zumeist doch nur orthographische Varianten findet. (Auch für Letztere mag es ein wissenschaftliches Interesse geben, aber es ist hoch spezialisiert und sicher nicht das der meisten literaturwissenschaftlichen Leser.) Bei einem mehrfach überlieferten Minnelied dürfte das Interesse des Interpreten daran, die Überlieferungsvarianten übersichtlich dargeboten zu bekommen, die Entlastung egalisieren, welche die Komplexitätsreduktion durch eine kritische Edition bedeutet. Aber was macht der Wissenschaftler, der eine Geschichte der mittelhochdeutschen Literatur schreiben und sich dazu auch den Minnesang ansehen möchte? Wie findet er die ‚Abkürzung‘, die er braucht? Und wie beruhigt er das schlechte Gewissen, das der Philologe in ihm haben wird, wenn er sie nutzt?

Nicht verzichtbar scheint die Entlastung durch kritische Eingriffe bei umfangreichen, reich überlieferten oder bei sehr schlecht überlieferten Texten. Die digitale Parzival-Ausgabe wird den an die 25.000 Verse langen Roman nach allen 15 vollständigen Handschriften, einem Frühdruck sowie 71 Fragmenten herausgeben.Footnote 50 Wie sie benutzt wird, muss sich noch erweisen; dass der Herausgeber selbst bereits über eine Art Studienausgabe nachdenkt,Footnote 51 die der souverän selegierenden Edition Lachmanns im Ergebnis vermutlich gar nicht so fern stünde, deutet das Problem aber bereits an. Vom griechischen Neuen Testament gibt es gar derart viele Zeugen, dass es unmöglich erscheint, diese synoptisch zu edieren bzw. zu rezipieren.Footnote 52 Ohne wertenden Textvergleich ist einer solchen Überlieferungsmasse nur stichprobenartig beizukommen, was im Falle eines auratischen Textes aber auch keine Lösung ist. Petrons Satyricon wiederum ist zwar nur spärlich, dafür aber in teils sehr kurzen, vielfach verderbten Fragmenten erhalten,Footnote 53 sodass man ohne die rekonstruierenden Bemühungen der Herausgeber vor einem Trümmerhaufen stünde, der sich unmöglich (oder nur nach langer intensiver Beschäftigung) gedanklich fassen ließe.

Wechselt man vom einzelnen Benutzer auf die Ebene der Benutzergemeinschaft, dürfte ein weiterer Effekt digitaler Editionen darin bestehen, dass deren Fluidität – hervorgerufen durch das Nebeneinander der Fassungen, die Alternativen der Darstellungsoptionen und das Nacheinander der veröffentlichten Versionen – die wissenschaftliche Community um einen gemeinsamen Bezugspunkt bringt.Footnote 54 Gerade für Disziplinen, die aufgrund unterschiedlicher, mitunter geradewegs inkompatibler theoretischer Annahmen ohnehin in Gruppen auseinanderzufallen drohen, ist diese Gefahr nicht zu unterschätzen.

Für eine Übergangszeit mögen alle diese Schwierigkeiten, die sich aus der fehlenden Linearität und mangelnden Festigkeit digitaler Editionen ergeben, noch dadurch aufgefangen werden, dass die Benutzer die Texte bereits aus älteren gedruckten Editionen kennen und das Wissen, das ihnen diese vermittelt haben, in das neue Medium mitnehmen. Für die digital sozialisierten Leser, die keinen solchen Hintergrund mehr haben, werden sie sich zuspitzen. Überzeugende Lösungen für die entsprechenden Probleme müssen erst noch gefunden werden. Den neuen Ausgaben die alten Texte der gedruckten Bücher als Digitalisat beizugeben, kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Auch die Hybridedition, die dem elektronisch verfügbaren vollständigen Material einen gedruckten Lesetext an die Seite stellt, löst die Probleme bei der Rezeption der digitalen Edition gerade nicht.Footnote 55

Wie sähe demgegenüber eine Lektürepraxis aus, auf die die umfassende Darbietung der Überlieferung samt ihrer theoretischen Unterfütterung hinführt? Zum einen tritt der Editionstext nicht mehr an die Stelle des historischen Dokuments, sondern – da dieses als Abbildung gegenwärtig ist – an dessen Seite; und er steht nicht mehr für sich, vielmehr ist er eingebettet in ein Gefüge von Texten. Das nimmt ihm einen Teil seiner Autorität, während die Materialität und Visualität des jeweiligen Zeugen stärker ins Bewusstsein treten. Zum anderen ist die digitale Edition von vornherein nicht daraufhin angelegt, im herkömmlichen Sinne gelesen zu werden; sie begünstigt und fordert andere, neue Formen der Benutzung, die sich aus ihren Prämissen herleiten: An die Stelle der vollständigen tritt – schon aufgrund der Datenmenge – die selektive Lektüre, an die Stelle der Konzentration auf den einen autorisierten Text das Interesse an der Partikularität des einzelnen Überlieferungsträgers, dessen Fassung in der Synopse den anderen Fassungen gegenübersteht, an die Stelle der Linearität des Lektüreprozesses ein von Textsuchen und Hypertextstrukturen geleitetes Springen von Stelle zu Stelle,Footnote 56 das zu „heuristische[n] Strategien des ‚Stöberns‘“Footnote 57 führt, an die Stelle des Wort-für-Wort-Lesens eine (im Prinzip) statistische Auswertung des Textmaterials. ‚Browsen statt Lesen‘, könnte man diese Tendenzen auf den Begriff bringen.Footnote 58 Solche Veränderungen der wissenschaftlichen Lektürepraxis sind Teil eines gesamtgesellschaftlichen Veränderungsprozesses im Umgang mit Texten, den die digitalen Medien angestoßen haben.Footnote 59 Wer digital liest, liest anders,Footnote 60 und zwar im alltäglichen wie im wissenschaftlichen Rahmen.

2 Zukunftsperspektiven der digitalen Edition

Während der Herausgeber der Zukunft seine traditionelle textkritische Rolle einbüßen wird, werden ihm neue Aufgaben zuwachsen und neue Fertigkeiten abverlangt. Vor allem spielen technische Kenntnisse eine sehr viel größere Rolle bei der editorischen Arbeit – so sind beispielsweise Probleme wie die der Zeichencodierung, der formalisierten Adressierung via PID oder der Versionierung zu lösen –, und der Editor der Zukunft wird diese entweder selbst besitzen und/oder in hohem Maße zu kollaborativem Arbeiten fähig sein müssen.Footnote 61 In vielen Fällen wird er sich bei der Umsetzung seiner philologischen Wünsche freilich den konkret und meist kontingent vorhandenen technischen Möglichkeiten zu fügen haben.Footnote 62 Der Stand der Technik bleibt das Nadelöhr für die Editorik, wenn es auch den Anschein hat, als ob die technischen Restriktionen mehr und mehr im Schwinden begriffen sind. Gerade deshalb wäre es wünschenswert, dass es in bestimmten Bereichen auch zu Standardisierungen kommt.Footnote 63 Bislang entwickelt beispielsweise jedes Editionsprojekt seine Präsentationstechnik (Webinterface) neu, selbst wenn es nur einzelne Texte oder kleine Korpora herausgibt. Entsprechend wirken viele Editionen wie Prototypen,Footnote 64 die nie in Serie gehen. Das neue Medium wirft aber nicht nur technische Fragen auf, sondern etwa auch urheberrechtliche oder wissenschaftssoziologische. Erstere betreffen etwa solche der Rechte an Bildern oder der Nachnutzung;Footnote 65 Letztere die der Geltung digitaler editorischer Arbeit im Wissenschaftsbetrieb.Footnote 66

Der Herausgeber einer digitalen Ausgabe wird künftig weniger einen einzelnen Editionstext erarbeiten, sondern vielmehr als Organisator einer umfangreichen und entsprechend komplexen Materialpräsentation hervortreten. Als „corpus editor“ hält er dann „a middle ground between the algorithm-heavy, knowledge-light approaches of computer science and the wholly manual practices of traditional editing“.Footnote 67 Er hat sicherzustellen, dass die neue Mehrdimensionalität der digitalen Edition – etwa hinsichtlich der Parallelität der Zeugen, der Einbindung von Kontextmaterial, der Anreicherung des Grundtextes mit weiteren Schichten etc. – EDV-technisch bewältigt wird, und er hat dafür Sorge zu tragen, dass der mehrdimensionale Textraum der digitalen Edition auf eine Weise präsentiert wird, die menschlichen Benutzern hinreichend Orientierung bietet (Usability).Footnote 68 Die Mehrdimensionalität der Textpräsentation impliziert auch eine Flexibilisierung des Arbeits- und Publikationsprozesses, weil es nunmehr nicht wesentlich ist, welcher Textzeuge zuerst bearbeitet wird, und ob zuerst ein Digitalisat oder eine Transkription, ob nur das schiere Textmaterial, z. B. in XML/TEI-Codierung, oder zugleich schon avanciertere Formen der Darstellung und Auswertung (Hyperlinks, Synopsen etc.) bereitgestellt werden. An die Stelle überkommener philologischer Maximen wie Vollständigkeit, Verlässlichkeit und Abgeschlossenheit treten die digitalen Grundsätze des allmählichen Wachsens, der augenblicklichen Aktualität, der Möglichkeit steten Verbesserns und Erweiterns.Footnote 69 Mithin findet eine Verschiebung vom Produkt zum Prozess statt.Footnote 70

Abgeschlossene Editionen wiederum werden auf Dauer nur benutzbar bleiben, wenn eine institutionelle Lösung gefunden wird, die die Langfristarchivierung gewährleistet – und zwar nicht nur im Sinne einer sicheren Speicherung der Daten, sondern auch in dem einer nachhaltigen Betreuung ihrer Präsentation.Footnote 71 Denn die Möglichkeit zu deren ständiger Weiterentwicklung verkehrt sich schon nach wenigen Jahren in den Nachteil, sie weiterentwickeln zu müssen, wenn nicht entweder die technische Lauffähigkeit oder der medial-ästhetische und benutzungspragmatische State of the Art verloren gegeben werden sollen. Wenn für diese Weiterentwicklung irgendwann keine Ressourcen mehr bereitstehen, bedeutet ein von einem technischen Entwicklungssprung geforderter Formatwechsel bislang oft ein Einfrieren des Projekts.Footnote 72 Die Technik, die zunächst eine Befreiung des Herausgebers von den Beschränkungen der Buchedition verspricht,Footnote 73 stellt sich so nach einigen Jahren als Hindernis heraus.Footnote 74 Es kann nur aus dem Weg geräumt werden, wenn öffentliche Einrichtungen wie Bibliotheken oder (großteils noch zu errichtende) (supra-)nationale Infrastrukturen die digitalen Editionen in ihre Obhut nehmen und sie langfristig am Laufen halten;Footnote 75 alles andere wäre eine nicht zu verantwortende Vergeudung der Ressourcen, die in die Erarbeitung der digitalen Editionen geflossen sind.

Des Weiteren bedarf es, sollen die Möglichkeiten der digitalen Edition ausgeschöpft werden, eines Einstellungswandels aufseiten der Editoren wie aufseiten der Benutzer. Denn noch finden sich verschiedene (im Wort- und im konventionellen Sinne) ‚reaktionäre‘ Abwehrmechanismen gegen die Eigenlogik der digitalen Edition.Footnote 76 Sie treten – wenn man von einer Totalverweigerung gegen alles Digitale absieht (auch die gibt es) – zutage als Schwierigkeiten in deren Handhabung, die sich immer dann einstellen, wenn sich die Beteiligten nicht zur Gänze von traditionellen Vorstellungen freimachen können. Das fängt mit Kleinigkeiten wie der an, dass etwa Apparate nach wie vor unter dem Text stehen und damit abgewertet werden, was dem alten, nicht dem neuen Medium entspricht.Footnote 77 (Auch unsere eigene Edition Lyrik des deutschen Mittelalters bewahrt z. B. das Layout des gedruckten Buchs in diesem und weiteren Punkten.) Dem digitalen Medium wären aber vor allem größere Textmengen angemessen, denn nur hier kann die EDV ihre ganze Stärke ausspielen. Insofern kommt es im Grunde einer latenten Verweigerungshaltung hinsichtlich der digitalen Möglichkeiten gleich, wenn man als Herausgeber mit hohem Aufwand nach wie vor nur kleine Korpora bearbeitet, an der Maxime der Fehlerfreiheit festhält und deshalb etwa mit hohem Aufwand OCRs korrigiert, wo doch eine Big-Data-Logik gerade darauf baut, dass auch das Ungefähre auf das Wesentliche deutet. In der Folge verschwimmen zumindest die Grenzen zwischen Editions- und Digitalisierungsprojekten.Footnote 78 Begriffe wie „critical digitization“Footnote 79 versuchen, diese Übergangszone zu vermessen. Auch in diesem Sinne wäre – wie schon oben angedeutet – zu überlegen, ob die Wendung ‚digitale Edition‘ nicht per se paradoxal ist.

Benutzerseitig äußert sich das Festhalten am Gewohnten beispielsweise in Strategien, die Textmengen digitaler Editionen irgendwie auf eine Lesefassung hin zu reduzieren, oder in der Tendenz, digitale Editionen nicht am Bildschirm zu lesen, sondern sie als Datenmine für Papierausdrucke zu verwenden. Ein solch partielles Festhalten an Konventionen ist in seiner paradoxen Natur typisch für einen Medienwandel, und es ist charakteristisch, dass die ‚erste Generation‘ digitaler Editoren und Leser diesen Paradoxien in besonderer Weise unterliegt. Im Moment will die digitale Edition zugleich ebenso die Optimierung der Buchedition sein wie deren Transformation in das neue Medium, dessen Möglichkeiten sich ja auch erst nach und nach abzeichnen. Auf mittlere Sicht wird sich mutmaßlich dessen Logik durchsetzen und zu einem neuen System führen, das die ‚reaktionären‘ Strategien obsolet macht. Dessen Umrisse könnten die folgenden Punkte abstecken, die die bisher umrissenen Tendenzen zugleich resümierend aufgreifen und in letzter Konsequenz weiterdenken:

  1. 1.

    Möglich erscheinen Formen einer „‚personalisierte[n]‘ Benutzung“, etwa „Kommentar- und Notizfunktionen oder die Speicherung von Pfaden, Auswahlen, Trefferlisten“.Footnote 80 Der nächste Schritt auf diesem Weg wäre der Einsatz von Künstlicher Intelligenz, der es erlauben würde, die Texte bzw. deren Darbietung automatisch an den jeweiligen Benutzer anzupassen.Footnote 81 Eine solche algorithmische Entlastung des Rezipienten ist zwar hochproblematisch, weil sie leicht zur Entmündigung führen kann, dennoch mag sie angesichts eines großen, durch vieldimensionale Vernetzung labyrinthisch wirkenden Datenangebots das kleinere Übel sein.

  2. 2.

    Die Texte digitaler Editionen werden mit Daten angereichert, sie werden etwa syntaktisch analysiert (Part-of-Speech Tagging), lemmatisiert (flektierte Wörter werden auf ihre Grundform zurückgeführt) oder anderweitig annotiert (Entitäten, Zeit, Raum, Institutionen und ähnliche werden ausgezeichnet und gegebenenfalls mit Identifiern versehen).Footnote 82 Diese Informationen könnten über Schnittstellen wie Linked Open Data editionenübergreifend ‚geerntet‘, in großen Katalogen gesammelt und zur Vernetzung verschiedener Projekte genutzt werden. Die Grenze zwischen dem ‚Inhalt‘ und der ‚Umwelt‘ eines derart ausgebauten Textangebots wird in der digitalen Sphäre durchlässig.

  3. 3.

    Auch die Benutzer versehen die Texte mit weiteren Daten und bieten ihre Annotationen – Stichwort: Web 2.0 bzw. Crowdsourcing – zur Weiternutzung über die Editionsplattform an.Footnote 83 Auch machen sie dort zusätzliches Kontextmaterial oder eigene Kommentare zugänglich. Im Effekt bedeutet das: „Die Grenze zwischen dem Editor und dem Leser beginnt sich aufzulösen.“Footnote 84 Ihr Verhältnis wird demokratisiert, indem der Benutzer zum Co-Editor nicht nur im übertragenen, sondern auch im wörtlichen Sinne wird. Damit sich solche Ansätze entwickeln, sind Fragen der Qualitätskontrolle genauso zu klären wie solche der Reputationszuweisung. Einer ihrer Effekte wäre es, dass Editionen nie abgeschlossen sind, sondern sich weiterentwickeln, solange sie genutzt werden.

  4. 4.

    Eine durch diverse Auszeichnungen vorbereitete Edition dient als Ressource für Text Mining, für formalisierte Zugriffe, die vor allem die Lexik bzw. Semantik des Textes in den Blick bekommen. Die Edition erscheint dann als Textdatenbank, die es möglich macht, weiterreichende Transformationen bzw. Analysen vorzunehmen, welche die Texte in Bündel von Visualisierungsdiagrammen verwandeln. Diese können neue Fragen beantworten, aber auch alte philologische wie die nach dem Stemma, indem dieses – eine entsprechende Manuskriptkultur vorausgesetzt – mit bioinformatischen Methoden errechnet und graphisch dargestellt wird.Footnote 85

  5. 5.

    Die Editionen enthalten den Werkzeugkasten für die Textanalyse unmittelbar selbst.Footnote 86 Das hat den Vorteil, dass auch technisch weniger versierte Benutzer, die mit den entsprechenden Repositorien nicht vertraut sind, die Analysetools – etwa solche zur automatisierten Analyse der Metrik, der Varianz, der Worthäufigkeit und -frequenz oder der Stilometrie – leichter einsetzen können. Denn diese sind dann auf die Datenformate, aber auch andere Eigenheiten der Editionstexte abgestimmt – etwa auf die der jeweiligen historischen Sprachstufe –, und sie sind von vorneherein auf die Bedienung durch Literaturwissenschaftler (und eben nicht Linguisten) ausgelegt. Damit ein solcher Werkzeugeinsatz zu wissenschaftlich belastbaren Ergebnissen führt, muss sich der Benutzer allerdings das Wissen um deren Funktionsweise aneignen, sonst kann er nicht beurteilen, ob die errechneten Ergebnisse statistisch valide sind.

  6. 6.

    Allerdings zeichnet sich auch das Szenario ab, dass die Benutzer digitaler Editionen irgendwann nicht mehr nur Menschen sind, sondern ‚lesende Maschinen‘, die vom Menschen nur noch in ihrer Textverarbeitung beobachtet werden (Distant Reading).Footnote 87

  7. 7.

    Parallel zu dieser völlig neuen Art des Lesens steht eine völlig neue Art des Edierens. Denkbar erscheint eine editorische Praxis, die, leistungsfähige OCR- (z. B. auch für frühe Drucke oder Handschriften) und KI-Modelle (z. B. für Schreiber- und Varianzanalysen, womöglich einst sogar für punktuelle Emendationen) vorausgesetzt,Footnote 88 weitgehend automatisiert abläuft.Footnote 89

Zum Teil mögen sich diese Szenarien einer Weiterentwicklung der digitalen Edition noch wie Science Fiction ausnehmen. Man wird sehen, wie die technische Entwicklung verläuft, aber auch, welche der Chancen, die sie bietet, die Philologien überhaupt ergreifen wollen. Schließlich tun die genannten Punkte nicht nur je für sich faszinierende neue Möglichkeiten auf, sondern sie führen im Einzelnen auch nicht selten – wie schon in Abschn. 1.3 angedeutet – auf Nutzungsweisen hin, die der Literaturwissenschaft bislang wesensfremd waren (vor allem Punkt 6 und 7): Weil die Literaturwissenschaft nicht nur eine Wissenschaft vom Lesen, sondern auch – wo immer es um (im weitesten Sinne) hermeneutische Fragen geht – eine lesende Wissenschaft ist, der das ‚konservative‘ Lesen Mittel und Zweck zugleich sein muss, mag es sein, dass sie, wenn sie auf digitale Editionen setzt, auf ein disziplinäres Paradoxon (oder eine disziplinäre Spaltung?) zusteuert. Im Umkehrschluss lässt sich mutmaßen, dass sich das ‚neue‘ Lesen, dessen letzte Konsequenz die Automatisierung des Lesens ist, auf dem Feld der Literaturwissenschaft nicht flächendeckend durchsetzen wird. Mutmaßen lässt sich darüber hinaus, dass wissenschaftssoziologisch begründete Widerstände gegen die Tendenzen zur Entmächtigung der Herausgeberrolle, zur Öffnung der Edition nach außen und zum wachsenden Stellenwert des (statistisch, algorithmisch) Genäherten (vor allem Punkt 2 bis 5) nicht leicht zu überwinden sein werden.

Wenn diese Mutmaßungen zuträfen, müsste man die digitale Edition nicht als einen Ersatz oder die Perfektion der analogen Buchedition begreifen, die endlich möglich macht, was man sich lange gewünscht hat. Die digitale Edition wäre vielmehr einfach ein weiteres, zusätzliches, seiner Natur nach eigengesetzliches Angebot, das manchen literaturwissenschaftlichen Anliegen besser dienen wird als ihr traditionelles gedrucktes Gegenstück, anderen aber nicht.