Digitale Editionen und Annotationen wurden in dieser Sektion als Ergebnis wie auch als Grundlage und Ausgangspunkt wissenschaftlicher Forschung betrachtet. Die Perspektiven auf Edition umfassten sowohl den digitalen Produktionsprozess der Erstellung von Editionen als auch die erweiterten Rezeptions- und Auswertungsmöglichkeiten digitaler Präsentationsformen. Vielfältige Bezugspunkte ergaben sich darüber hinaus zu den Themen der anderen Sektionen, wenn beispielsweise digitale Editionen und annotierte Korpora als Grundlage digitaler Analyseverfahren adressiert wurden oder die Rolle von Bibliotheken, Archiven und Verlagen bei der Erstellung und Bewahrung digitaler Editionen bedacht wurde. In dieser Sektion gab es zumindest zwei Autorenkollektive, was vielleicht als symptomatisch für den Gegenstand genommen werden kann, sind doch Edition häufig Teamleistungen und Annotationen zentrale Werkzeuge kollaborativen Erschließens und Analysierens. Insbesondere die Diskussionen zeigten, dass einige Kernthemen des Kolloquiums aufgegriffen und fortgesetzt bzw. skizziert werden konnten, dass aber zugleich dieses Thema seinen Eigenwert hat und die Editionsphilologie eigene spezifische Diskurse führt. Edieren und Annotieren sind grundlegende Aktivitäten philologischer Arbeit, die deutliche Berührungspunkte und Überschneidungen aufweisen und daher in diesen Überscheidungsbereichen durchaus mit ihren Querverbindungen und Wechselwirkungen zusammen betrachtet werden können. Dazu gehören z. B. Auseinandersetzungen mit der Rolle des Kommentars, wobei dieser Blick noch geweitet wird, wenn das Verhältnis von Kommentar und literaturwissenschaftlicher Interpretation angesprochen ist. Eine getrennte Betrachtung ihrer Eigenlogiken ist legitim, um Standortbestimmungen, Reformulierungen und Evolution der Tätigkeiten des Edierens und Annotierens wie die Ergebnisse dieser Tätigkeiten – die Edition bzw. das Annotat – vornehmen zu können.

Die Edition (oder auch das „Edieren“) mit ihrer Doppelfunktion als Forschungs-Ergebnis und Grundlage weiterer Forschung dient zunächst der Dokumentation und Sicherung der Gegenstände (literatur-)wissenschaftlicher Betrachtung, darüber hinaus jedoch auch der Erschließung durch Kommentierung. Damit repräsentiert sie nicht eindeutig einen dieser zwei Pole, sondern lässt sich vielmehr als Kontinuum zwischen Sammlung bzw. Dokumentation und Interpretation beschreiben. Pointiert stellt sich die Frage, wo die Interpretation anfängt. Darüber hinaus ist Edieren, weil es Grundlagen schafft, immer auch methodischer und wissenschaftshistorischer Spiegel der Disziplin und ihres Verhältnisses zum Text sowie auch zu den Großkategorien Autor, Gattung, Epoche. In diesem Feld werden die elementaren Rollen von Produzierenden und Rezipierenden konzeptionalisiert, Autoritäten und Expertentum sowie das Lesen (an sich) oder Benutzen von Texten diskutiert bzw. teils radikal infrage gestellt und neu gedacht. Die Auseinandersetzung mit Digitalität führt demnach zu grundlegenden Reflexionen aller Kategorien und Praxeologien der Disziplin. Mit ihrem wissenschaftlichen Auftrag der Grundlagenschaffung ist die Editionsphilologie daher auch wichtiger Teil des Institutionalisierungsprozesses der Digital Humanities. Hier wiederholt sie die wissenschaftshistorische Rolle für die Philologien als Ganzes, obwohl Editionswissenschaft und Literaturwissenschaft durchaus nicht immer zusammengehen oder auch nur Notiz voneinander nehmen, was in verschiedenen Beiträgen der Sektion aufgegriffen wurde. Der Einzug des Digitalen hat auch das verwandte Thema der Digitalen Infrastrukturen aufs Tapet gebracht, das vielleicht nicht zuletzt so viel Aufmerksamkeit genießt, weil hier die Lücken und Desiderate immer noch schmerzlich groß sind, was digitale literaturwissenschaftliche Forschung nach wie vor in bestimmten Bereichen verhindert und in vielen anderen immer noch erschwert.

Die Annotation (oder auch „Annotieren“) als Praxis kann als eine zentrale Konstante von Text- und Wissenserschließung seit Beginn der Schriftlichkeit betrachtet werden. Annotieren zählt zu den sogenannten ‚Scholarly Primitives‘ (Unsworth)Footnote 1 und stellt eine elementare, aktive, mediale, ja körperliche Expression eines aktiven, aneignenden Leseprozesses dar. Insofern als Annotationen medial gefasst sind – gleich ob analog oder digital –, sind sie darüber hinaus dem analysierenden Zugriff verfügbar. In ihnen manifestiert sich vielleicht am deutlichsten die Hinwendung geisteswissenschaftlicher Forschung zum Prozesshaften, gleichsam in einer neuen Repräsentation des Hermeutischen Zirkels, der verstärkt das Ineinandergreifen von Vorwissen/Vorverständnis, Aushandlung, Dokumentation und Interpretation transparent macht.

Im Themenfeld Edition wurde nach wie vor das Verhältnis von analog und digital vielfältig adressiert, was verwundern mag, da das Geschäft des Edierens in aller Regel seit langem digital betrieben wird. Insofern reibt sich die Editionsphilologie (und auch die Literaturwissenschaft?) bislang vor allem an einer Standortbestimmung medialer und funktionaler Aspekte, wie z. B. die Beiträge von Braun, Glauch und Kragl oder Nutt-Kofoth zeigen, wie sich die Zunft mit diesem Ablösungsprozess befasst. Diese Perspektiven werden entschieden erweitert in einer Diskussion, die sich um Leistungsfähigkeiten und Mehrwert digital-medialer Formate und digitaler Funktionalitäten dreht: skaliert die digitale Edition einfach nur gegenüber analogen Formaten oder liegt etwas fundamental Anderes vor? In diesem Zusammenhang lassen sich grundsätzlichen Fragen danach adressieren, was beispielsweise ein Kommentar oder ein Apparat leistet und wie man Apparate über ihre primäre Funktion der Dokumentation von Herausgeberentscheidungen hinaus für literaturwissenschaftliches Interpretieren fruchtbar machen kann. Ein Ansatz liegt beispielsweise darin, Kategorien für verschiedenen Kommentartypen zu bilden, um einen digitalen auswertenden Zugriff zu gewährleisten, was als Zeichen für die Abstraktionskraft, vielleicht auch den Modellierungssog digitaler Praktiken genommen werden kann.

Eine Diskussion darüber, ob der Begriff Digitale Edition noch adäquat ist oder ob wir nicht vielmehr über Wissensbasen, Wissensverbünde, Digitale Archive usw. sprechen sollten, wird nachdrücklich gefordert. Die interessante Frage nach den Unterschieden mediävistischer und neugermanistischer Überlieferung und damit verbundener Editionspraxis wurde gestreift, jedoch nicht vertiefend oder gar erschöpfend behandelt, würde aber reizvolle Möglichkeiten der weiterführenden Diskussion bieten.

Der Bereich von Apparat und Kommentar bahnt die Pfade zum Themenkomplex der Annotation über den Begriff der Explizierung. Eine wesentliche Eigenschaft von Annotationen ist ihre Diskretheit. Der Prozess des Annotierens lässt sich demnach als eine Kette von einzelstellenbezogenen, interpretativen Entscheidungen beschreiben. Damit hat das Annotieren Anteil an der modellierenden und operationalisierenden Komponente wie auch an der hermeneutisch-interpretierenden. Diese vor allem in den Beiträgen von Meister und Gius in den Blick genommene ‚Brückenfunktion‘ (oder auch Schnittstellenfunktion?) bedarf dringend weiterer Beschäftigung und Erforschung und kann eine zentrale Rolle bei der Standortbestimmung Digitaler Literaturwissenschaft spielen.

Die Beiträge belegen, dass Edition und Annotation im Kern der Veränderungen der Disziplin Literaturwissenschaft stehen, und dabei sowohl die Kontinuität literaturwissenschaftlichen Handelns als auch das immer wieder postulierte entscheidend Neue repräsentieren und sich daher jenseits der „Alltagspraxis“ als Reflexionsgegenstand anbieten. Die Beiträge zeigen darüber hinaus aber auch, welcher Erwartungsdruck auf Digitalität lastet und wie das konstruktiv zu kritischen Reflexionen führen kann, die zur Standortbestimmung sowohl der Digitalen Literaturwissenschaft als auch generell der Literaturwissenschaft beitragen.

Der Beitrag von Bauer, Viehhauser und Zirker (Zwischenräume: Kommentierende Annotation und hermeneutische Bedeutungserschließung in digitalen Texten) fragt nach der determinierenden Wirkung von Annotationen, insofern als sie eine interpretierende Abstraktionsebene darstellen. Es entsteht ein Spannungsfeld zwischen der kanonisierenden Wirkung eines Kommentars und den Möglichkeiten digitaler Editionen, mehrere Textversionen parallel bieten zu können und damit ent-kanonisierend zu wirken. Vor diesem Hintergrund wird eine (auch im analogen vermisste) Theorie des Kommentars unter digitalen Bedingungen gefordert. Braun, Glauch und Kragl (Unterwegs zum Text ohne Herausgeber und ohne Leser. Eine medienpragmatische Standortbestimmung der digitalen Edition) nehmen das Verhältnis von Medium, Editor*in und Leser*in/Rezipient*in in den Blick und regen eine Begriffsschärfung für die digitale Edition an, um den fundamentalen Unterschied zwischen analogen und digitalen Erzeugnissen zu markieren. Im Digitalen wird der/die Editor*in transparent und der/die Rezipient*in gewinnt an Autorität, wird dadurch jedoch auch stärker gefordert. Brüning (Modellierung von Textgeschichte. Bedingungen digitaler Analyse und Schlussfolgerungen für die Editorik) zeigt Wege auf, wie der Apparat nicht mehr ‚Variantenfriedhof‘ bleibt, sondern – wenn er entsprechend aufbereitet ist für maschinelle Auswertungen – effizient interpretationsrelevante Sichten auf die Textgenese erlaubt. Brüning zeigt den Ansatz an neugermanistischen Beispielen auf, es scheint naheliegend, dass die Analyse älterer (handschriftlicher) Textüberlieferung besonders von diesen Überlegungen profitieren könnte und damit digitale Ansätze zur methodischen Brücke zwischen den Teildisziplinen werden. van Hulle (Notebook Editions: Creative and Selective Undoing of Source Texts) fügt den Überlegungen am Beispiel der Edition der Notizbücher Samuel Becketts weitere Facetten hinzu, indem das Verhältnis von Notizen und Entwürfen zur Kanonizität des Werks in den Blick genommen wird. Eine digitale ‚Archiv-Edition‘ und Kollationierungs-Tools, die von den Notizen und nicht vom Endprodukt Text ausgehen, erlauben evolutionäre Betrachtungen.

Meister (Annotation als Markup avant la lettre) weist nachdrücklich auf das Desiderat des Einsatzes digitaler Methoden in der Texthermeneutik hin, vor allem im Bereich ‚Interpretation‘. Eine Erklärung dafür könnte einerseits darin liegen, dass Formalisierbarkeit und Operationalisierbarkeit im Hinblick auf literaturwissenschaftliche Deutungsansätze als defizitär empfunden wird – zugleich Potenzial und Leistungsfähigkeit digitaler Verfahren falsch eingeschätzt bzw. mit Erwartungen überfrachtet werden. Gius (Digitale Hermeneutik. Computergestütztes close reading als literaturwissenschaftliches Forschungsparadigma?) knüpft an Überlegungen zur computergestützten literaturwissenschaftlichen Deutung an und führt Möglichkeiten im Bereich der Narratologie vor.

Nutt-Kofoth (Historisch-kritische Ausgabe digital. Eine Reformulierung der neugermanistischen Edition) schließt den Bogen mit grundsätzlichen Überlegungen zu einer Evolution der Editionsphilologie, die wie die Computerphilologie als Pfeiler einer literaturwissenschaftlichen Grundlagenforschung situiert ist. Er plädiert dafür, die digitale Edition als Knoten im Wissensverbund zu sehen, wobei die erschließenden Editionsteile als Vermittlungsbrücken zu den stärker interpretativen Anteilen der Wissensstätten fungieren, um Edition und Interpretation wieder stärker zusammenzuführen.