Zusammenfassung
Die Frage nach dem Verhältnis von Freundschaft und Glückseligkeit zielt auf einen zentralen Aspekt der sozialen Natur des Menschen in der aristotelischen Anthropologie. In Buch IX.9 der Nikomachischen Ethik entwickelt Aristoteles zwei Argumente dafür, dass selbst für eine tugendhafte Person, die ein selbstgenügsames Leben führt, Freundschaft etwas Wünschenswertes ist. Dieser Aufsatz bietet eine Rekonstruktion beider Argumente und ihres Verhältnisses zueinander. In Auseinandersetzung mit gegenwärtige Interpretationen wird Aristoteles’ Begriff des „anderen Selbst“ erläutert und als Kern beider Argumente herausgestellt.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Notes
- 1.
- 2.
Verschiedene Lesarten dieser Passage unterscheidet Richardson Lear (2004, S. 62–63). Wie sie gehe auch ich hier davon aus, dass Aristoteles das gemeinschaftliche Zusammenleben mit anderen nicht einfach nur als Ermöglichungsbedingung, sondern als integralen Bestandteil der Glückseligkeit betrachtet.
- 3.
Diesen und weitere Hinweise darauf, dass Platon die Beschränktheit dieser Konzeption im Blick hat, trägt Smith Pangle (2002, S. 24–28) zusammen.
- 4.
Eine Entsprechung hierzu findet sich in Platons Konzeption der Lust, die in ihren Grundformen ebenfalls mit Überwindung eines zugrundeliegenden Mangels einhergeht (vgl. Phil. 31d8–10, 51b3–7).
- 5.
So auch bei Thomas von Aquin (S.th. IaIIae, q. 26 a. 4 ad 3). Das wirft allerdings die Frage auf, ob Wohlwollen (εὔνοια) bei Aristoteles zur Definition der Freundschaft gehört und welche Art von Einheit dem Freundschaftsbegriff zukommt. Zahlreiche zeitgenössische Interpreten folgen John Cooper (1998a), dem zufolge auch in Nutz- und Lustfreundschaften genuines Wohlwollen vorhanden sei, so dass dem Freundschaftsbegriff die Einheit einer Gattung zukomme. Lesarten, nach denen genuines Wohlwollen nur in Tugendfreundschaften zu finden sei, liefern neben Thomas zum Beispiel W. W. Fortenbaugh (1975, S. 55) und Talbot Brewer (2005, S. 723 f.). Vgl. auch den Vorschlag von Gary M. Gurtler (2014, S. 38–41), Lust- und Nutzfreundschaften so zu verstehen, dass auch in ihnen der Freund aufgrund seines Charakters geliebt wird und somit subjektiv Wohlwollen bestehen kann.
- 6.
Während Michael Pakaluk (1998, S. 207–208) sie als eine sich stetig vertiefende Argumentation auffasst, behauptet Zena Hitz (2011, S. 8), dass das zweite Argument seinem Anspruch nach umfassender sei, insofern es auch den Wert von Freundschaft in einem rein kontemplativen Leben einholen will. Grundsätzlich skeptisch gegenüber der Überzeugungskraft des zweiten Arguments ist dagegen Cooper (1998b, S. 338–341).
- 7.
Darauf weisen etwa Cooper (1998b, S. 340) und Hitz (2011, S. 9) hin.
- 8.
Vgl. dazu etwa Hedwig (1990, S. 254–256).
- 9.
Robert Sokolowski (2001) argumentiert deshalb, dass sich die Tugenden des Menschen für Aristoteles erst in Freundschaften im vollen Maße verwirklichen können. Dies mache das Zusammenleben von Freunden zum „Paradigma“ des guten Handelns (2001, S. 367).
- 10.
Parallelstellen aus anderen Werken trägt Zena Hitz (2011, Fn. 74) zusammen.
- 11.
- 12.
In dieser Lesart folgt sie Aryeh Kosman (2014).
- 13.
Vgl. hierzu auch den Kommentar von Pakaluk (1998, S. 172 f.). Pakaluk versteht den Ausdruck „anderes Selbst“ jedoch lediglich als „Metapher“ für die phänomenalen Entsprechungen zwischen dem Selbstverhältnis der tugendhaften Person und dem Verhältnis zu ihren Freunden. Im Unterschied dazu argumentiere ich dafür, dass der Ausdruck das bezeichnet, was diese Entsprechungen erklären soll.
Literatur
Aristoteles. 1989. Metaphysik. Herausgegeben von Horst Seidl. Übersetzt von Hermann Bonitz. 2 Bde. Hamburg: Meiner.
Aristoteles. 1994. Politik. Übersetzt von Franz Susemihl. Reinbek: Rowohlt.
Aristoteles. 1998. Über die Seele. Übersetzt von Horst Seidl und Willy Theiler. Hamburg: Meiner.
Aristoteles. 2007. Die Nikomachische Ethik. Übersetzt von O. Gigon. Düsseldorf: Artemis & Winkler.
Brewer, Talbot. 2005. „Virtues We Can Share: Friendship and Aristotelian Ethical Theory“. Ethics 115 (4): 721–58.
Cooper, John M. 1998a. „Aristotle on the Forms of Friendship“. In Reason and Emotion: Essays on Ancient Moral Psychology and Ethical Theory, 312–335. Princeton: Princeton University Press.
Cooper, John M. 1998b. „Friendship and the Good in Aristotle“. In Reason and Emotion: Essays on Ancient Moral Psychology and Ethical Theory, 336–355. Princeton: Princeton University Press.
Cooper, John M. 2009. „Plato and Aristotle on “Finality” and “Sufficiency”“. In Knowledge, Nature, and the Good: Essays on Ancient Philosophy, 270–308. Princeton: Princeton University Press.
Fortenbaugh, W. W. 1975. „Aristotle’s Analysis of Friendship: Function and Analogy, Resemblance, and Focal Meaning“. Phronesis 20 (1): 51–62.
Gurtler, Gary M. 2014. „Aristotle on Friendship: Insight from the Four Causes“. In Ancient and Medieval Concepts of Friendship, herausgegeben von Suzanne Stern-Gillet und Garry M. Gurtler, 35–50. Albany: State University of New York Press.
Hedwig, Klaus. 1990. „Alter Ipse. Über die Rezeption eines Aristotelischen Begriffes bei Thomas von Aquin“. Archiv für Geschichte der Philosophie 72 (3): 253–74.
Hitz, Zena. 2011. „Aristotle on Self-Knowledge and Friendship“. Philosophers’ Imprint 11: 1–28.
Irwin, Terence H. 1988. Aristotle’s First Principles. Oxford: Clarendon Press.
Kahn, Charles H. 1981. „Aristotle and Altruism“. Mind 90: 20–40.
Kosman, Aryeh. 2014. „Aristotle on the Desirability of Friends“. In Virtues of Thought: Essays on Plato and Aristotle, 135–54. Cambridge, MA: Harvard University Press.
Nussbaum, Martha C. 2001. The Fragility of Goodness: Luck and Ethics in Greek Tragedy and Philosophy. Revised Edition. Cambridge University Press.
Pakaluk, Michael. 1998. Aristole: Nicomachean Ethics Books VIII and IX. Oxford: Clarendon Press.
Platon. 2004a. Gastmahl. Übersetzt von Otto Apelt. Hamburg: Meiner.
Platon. 2004b. Lysis. Übersetzt von Otto Apelt. Hamburg: Meiner.
Platon. 2004c. Philebos. Übersetzt von Otto Apelt. Hamburg: Meiner.
Richardson Lear, Gabriel. 2004. Happy Lives and the Highest Good. Princeton: Princeton University Press.
Schollmeier, Paul. 1994. Other Selves: Aristotle on Personal and Political Friendship. Albany: State University of New York Press.
Sherman, Nancy. 1987. „Aristotle on Friendship and the Shared Life“. Philosophy and Phenomenological Research 47 (4): 589–613.
Smith Pangle, Lorraine. 2002. Aristotle and the Philosophy of Friendship. Cambridge University Press.
Sokolowski, Robert. 2001. „Friendship and Moral Action in Aristotle“. The Journal of Value Inquiry 35 (3): 355–69.
Stern-Gillet, Suzanne. 1995. Aristotle’s Philosophy of Friendship. Albany: State University of New York Press.
Thomas von Aquin. 1965. Summa theologiae. Cura fratrum eiusdem ordinis. Madrid: Biblioteca de Autores Cristianos.
Thomas von Aquin. 1986. In decem libros ethicorum Aristotelis ad Nicomachum expositio. Marietti.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Editor information
Editors and Affiliations
Rights and permissions
Copyright information
© 2022 Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature
About this chapter
Cite this chapter
Hamann, F. (2022). Freundschaft und Glückseligkeit bei Aristoteles. In: Al-Taher, S., Jansche, V., Martena, L. (eds) Was Liebe vermag. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05848-5_8
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-05848-5_8
Published:
Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
Print ISBN: 978-3-476-05847-8
Online ISBN: 978-3-476-05848-5
eBook Packages: J.B. Metzler Humanities (German Language)